Dirk-Oliver Heckmann: Der Fall war am Wochenende bekannt geworden: Weil er jüdischen Glaubens ist, wurde ein 14-jähriger Schüler im beschaulichen Berliner Stadtteil Friedenau von Mitschülern mehrfach beleidigt, drangsaliert und schließlich sogar attackiert. Seine Eltern haben daraufhin entschieden, die Schule zu wechseln. Die Schulleitung äußerte sich schockiert über den Vorfall und gab bekannt, Strafanzeige gegen die mutmaßlichen Täter gestellt zu haben. Diese sollen einen türkischen beziehungsweise arabischen Hintergrund haben.
Ist Antisemitismus in Deutschland wieder oder immer noch ein Problem? Es handelt sich ja nicht um den einzigen Vorfall dieser Art in den vergangenen Jahren. Man denke nur an den Angriff auf den Rabbiner Daniel Alter, der im Jahr 2012 auf offener Straße attackiert wurde, ebenfalls in Berlin-Friedenau.
Armin Langer ist geboren 1990, als Sohn ungarischer Eltern. Sein Vater ist Jude, seine Mutter römisch-katholisch. Er ist in Ungarn aufgewachsen und im Jahr 2013 nach Berlin gegangen. Er ist zum Judentum übergetreten und ist derzeit Rabbiner-Student am Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam. 2013 gründete er gemeinsam mit jungen Moslems und anderen Freunden die "Salaam Schalom"-Initiative im stellenweise arabisch geprägten Berlin-Neukölln. Schönen guten Morgen, Herr Langer.
Armin Langer: Guten Morgen.
Heckmann: Herr Langer, wie oft erleben Sie selbst antisemitische Anfeindungen?
Langer: Natürlich ist es so, dass ich schon öfters Erfahrungen mit dem Antisemitismus machen musste, auch in Deutschland. Allerdings sind diese Erfahrungen ganz oft mit dem latenten Antisemitismus. Zum Beispiel ich stelle mich als Jude jemandem vor, ich erzähle jemandem, dass ich jüdischer Herkunft bin, und dann kommt die Frage, ob ich aus einer reichen Familie komme oder nicht. Und das ist nicht mal böse gemeint, aber zeigt, wie tief diese Vorurteile verankert sind und dass in den letzten Jahrhunderten einfach Antisemitismus so gut verbreitet in der Gesellschaft geworden ist.
Heckmann: Haben Sie auch schon bedrohliche Situationen erlebt, oder kennen Sie Menschen, die solche Situationen erlebt haben?
Langer: Ich gehe mit meinem Judentum ziemlich offen um und ich bekomme tatsächlich auch regelmäßig Hassmails, antisemitische Hassmails über meine Facebook-Seite oder über andere Plattformen. Aber zur Gewalt ist es noch nicht gekommen.
Heckmann: Sie stehen ja im Kontakt mit vielen anderen Menschen. Haben Sie das Gefühl, dass das ein Problem ist, das anwächst in Deutschland?
Langer: Nein. Antisemitismus ist keine Lawine. Antisemitismus ist nicht etwas, was wächst. Antisemitismus ist ein konstanter Bodensatz in der Gesellschaft, der seit Jahrhunderten hier präsent ist und nie verschwunden ist, auch nicht nach dem Holocaust. Wir würden das natürlich gerne denken, dass wir aus der Geschichte gelernt hätten, aber das ist nicht so. Es gibt jährlich in Deutschland ungefähr 1.000 bis 1.500 antisemitische Straf- und Gewalttaten und das ist 1.000 bis 1.500 mehr als ideal. Aber die Zahl wächst nicht. Die Zahl wächst nur in Jahren, in denen es einen Konflikt in Gaza gibt.
"Israelbezogener Antisemitismus nimmt zu"
Heckmann: Aber das Erscheinungsbild des Antisemitismus, das wandelt sich. Das kann man an Studien, an Untersuchungen auch ablesen. Ist der Antisemitismus arabischer Prägung mittlerweile ein wachsendes Problem aus Ihrer Sicht?
Langer: Man könnte sagen, dass israelbezogener Antisemitismus zunimmt, oder dass die Fälle von israelbezogenem Antisemitismus zunehmen. Aber gleichzeitig verschwindet ja der sekundäre Antisemitismus, der geschichtsrelativierende Antisemitismus oder der klassische Antisemitismus gar nicht. All diese unterschiedlichen Erscheinungsformen existieren gleichzeitig.
Heckmann: Weshalb denken junge Araber antisemitisch? Was denken Sie, was ist die Ursache?
Langer: Wenn es junge arabischstämmige Menschen in Deutschland gibt, die antisemitisch denken, ich glaube, das liegt hauptsächlich daran, dass die einfach nicht differenzieren, dass sie nicht zwischen Juden und Israelis beziehungsweise bedingungslosen Unterstützern der israelischen Siedlungspolitik differenzieren, und das ist tatsächlich eine Herausforderung, der ich sehr oft in Schulen begegne. Ich mache regelmäßig Schulbesuche, auch mit unserer "Salaam Schalom" Initiative in Neuköllner Schulen, aber auch in anderen Stadtteilen von Berlin. Und das ist echt immer die erste Frage, die ich bekomme, wie ich zum Staat Israel stehe, obwohl ich echt keinen Einfluss darauf habe, was in Israel abläuft.
Heckmann: Und was sagen Sie dann den Schülern, die diese Fragen stellen?
Langer: Ich erkläre ihnen dann, dass es problematisch ist, mich automatisch mit dem Staat Israel in Verbindung zu setzen. Ich bin kein israelischer Staatsbürger, ich bin ein europäischer Jude, ich bin ein Berliner Jüd, und das ist auch gut so.
Heckmann: Um ein Wort von Klaus Wowereit aufzugreifen.
Langer: Genau. Aber ganz wichtig: Dieser Unfähigkeit zur Differenzierung begegne ich auch ganz oft bei Erwachsenen. Das ist jetzt nicht etwas, was ich nur unter Kindern immer wieder begegnen muss – leider. Ich bekomme ähnliche Fragen auch bei Vorträgen oder bei Lesungen aus meinem Buch. Zum Beispiel: Herr Langer, letzte Woche hat Ihr Ministerpräsident Benjamin Netanjahu dies und jenes gesagt und wie verhalten Sie sich dazu. Und dann muss ich ihm erklären: Nee, sorry, ich habe keinen Ministerpräsidenten, ich habe eine Bundeskanzlerin.
"Die meisten Menschen befassen sich einfach nicht genug mit dem Thema Minderheiten"
Heckmann: Ist das einfach Unwissenheit, oder ist das auch eine bewusste Methode, um Menschen jüdischen Glaubens zu diskreditieren?
Langer: Ich glaube, das liegt einfach an Ignoranz. Die meisten Menschen befassen sich einfach nicht genug mit dem Thema Minderheiten. Es geht hier ja nicht nur um Ressentiments gegen Juden. Muslime werden auch mit allem möglichen zusammengemischt. Und ja, wir brauchen einfach mehr Pisa im Unterricht.
Heckmann: Pisa im Unterricht, also mehr Bildung.
Langer: Genau.
"Ich denke nicht, dass wir den Antisemitismus vollkommen überwinden könnten"
Heckmann: Ich wollte Sie gerade fragen: Was müsste passieren, um diese Entwicklung einzudämmen oder antisemitische Einstellungen zurückzudrängen? Das ist ja in der Tat ein jahrhundertealtes Phänomen. Immer wieder hat sich das Erscheinungsbild gewandelt und geändert. Aber diese Stereotype sind bis heute existent in vielen Ländern, natürlich auch in Deutschland. Was müsste passieren? Was könnte man dagegen machen?
Langer: Ganz ehrlich: Ich denke nicht, dass wir den Antisemitismus jetzt vollkommen überwinden könnten. Er ist einfach so stark verankert. Bei nicht allen sehe ich eine Hoffnung auf die Erkennung, dass nicht alle Juden gleich wären. Ich meine, ganz viele antisemitische Vorurteile sind ja eigentlich positive. Es gibt ja dieses antisemitische Klischee, dass Juden reich wären oder fleißig wären. Das ist an sich nicht negativ, aber ist trotzdem antisemitisch, weil es dann zu antisemitischen Gewalttaten oder Konklusionen führt. Und diese Vorurteile sind so tief verankert, dass ich skeptisch bin, ob wir die überwinden können. Aber wie immer: Es gibt eine graue Zone von Menschen, bei denen es vielleicht noch eine Hoffnung auf Änderung gibt, und ich glaube, die kann man noch erreichen durch persönliche Begegnungen.
Heckmann: Das machen Sie ja auch mit Ihrer "Salaam Schalom" Initiative. Können Sie kurz erklären, was Sie dort tun?
Langer: Unsere Initiative existiert seit vier Jahren ungefähr. Wir haben die Gruppe in Berlin gegründet, aber inzwischen haben wir auch Gruppen außerhalb von Berlin, sogar auch außerhalb von Deutschland. Die Idee ist ziemlich einfach: Wir präsentieren Fälle, in denen Juden und Muslime gut miteinander auskommen, weil wir irgendwie den Eindruck haben, dass wir mehr über die Herausforderungen des Zusammenlebens hören als über das Potenzial des Zusammenlebens.
"Wir werden niemanden ausgrenzen"
Heckmann: Und das heißt konkret? Was machen Sie dann?
Langer: Ich habe schon erwähnt, dass wir oft Schulbesuche machen. Wir organisieren Flashmobs, Demonstrationen, Podiumsdiskussionen zusammen mit Akademikern oder Journalisten, und die Veranstaltungen sind natürlich offen für alle. Wir werden jetzt niemanden ausgrenzen.
Heckmann: Armin Langer war das. Er hat mit muslimischen Freunden, aber auch anderen Freunden eine Initiative gegründet, "Salaam Schalom" in Berlin, und betätigt sich beispielsweise mit Schulbesuchen. Mit ihm haben wir gesprochen über den 14jährigen Schüler in Berlin, der die Schule gewechselt hat, und über Antisemitismus in Deutschland. Herr Langer, schönen Dank für das Gespräch und dass Sie sich die Zeit genommen haben.
Langer: Vielen Dank für das Gespräch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.