Freitag, 26. April 2024


Juli 2015: Perspektivwechsel

Die Welt mit anderen Augen sehen: Gemeinsam mit dem HfG-Archiv des Ulmer Museums sucht »lyrix« im Juli eure Texte zum Thema 'Perspektivwechsel'. Anregungen bieten euch die "Nicht orientierbare Fläche" aus dem HfG-Archiv und das Gedicht "aus der brunnengasse" von Tom Bresemann.

01.07.2015
    Manchmal sollte man die Dinge aus einer anderen Perspektive sehen. "O Captain! My Captain!": Mit diesen Worten des Dichters Walt Whitman steigen Schüler im Film "Der Club der toten Dichter" auf ihre Tische und zollen ihrem Lehrer John Keating Respekt. So, wie er es ihnen zuvor gezeigt hatte, um die Welt mal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
    Die Perspektive zu wechseln heißt, sich in andere hineinzuversetzen, die eigene Person zu hinterfragen, Gedanken in einem neuen Licht zu sehen, frische Ideen zu erlangen. Gleichzeitig macht ein Perspektivwechsel vieles oft ungleich komplizierter. Welche Sicht ist richtig? Gibt es überhaupt einen richtigen und einen falschen Blickwinkel? Welche Perspektive soll ich wählen? Auf der Suche nach Orientierung müssen wir uns immer wieder entscheiden: Verlassen wir herkömmliche Sichtweisen und Wege oder bleiben wir bei unseren bekannten Mustern. Bequemer kann es sein, alles in gewohnten Pfaden weiterlaufen zu lassen. Bisweilen ist es auch sehr schwierig, überhaupt eine andere Perspektive zu erkennen.
    Dass man sich bei dem Versuch die Perspektive zu wechseln auch verlaufen kann, zeigt unser Exponat im Juli. Es stammt aus dem HfG-Archiv Ulm. Das Archiv dokumentiert die Geschichte der Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG Ulm), einer der international bedeutendsten Design-Hochschulen nach dem Bauhaus. Während ihrer Grundlehreausbildung an der HfG erprobten die Studierenden unter anderem die Vielzahl von Möglichkeiten, wie geometrische Körper im dreidimensionalen Bereich verwandelt werden können, beispielsweise durch Drehungen. Ein Beispiel dafür ist die "Nicht orientierbare Fläche", das heißt "Innen" und "Außen" können nicht voneinander unterschieden werden. Wandert man mit dem Auge an einer Linie entlang, so gelangt man ohne Übergang von der Innen- zur Außenseite und zurück.
    Das Werk ist rätselhaft und verwirrend, denn sein Inneres ist auch immer gleich sein Äußeres und umgekehrt. Hier verschwimmt die Perspektive, löst sich nahezu auf. Sucht man Orientierung, verliert man sie zunächst und findet sie vielleicht nur dann wieder, wenn man sich darauf einlässt, dass es keine eindeutige Perspektive gibt.
    In Tom Bresemanns Gedicht "aus der brunnengasse" geht es im Gegensatz zu der "Nicht orientierbaren Fläche" nicht um das Auflösen von Perspektiven, sondern darum, wie sich gegenüberstehende Blickwinkel zu Ausgrenzung und Schubladendenken führen können. Es erzählt vom "innen" oder "außen" sein, ob man – je nach Sichtweise – dazugehört oder eben nicht.
    aus der brunnengasse
    auch jesus war weiß und mittelschicht.
    ist das jetzt sarkastisch oder amerikanisch
    zu verstehen?
    ... zeig nicht so mit dem finger herum.
    ich sollte mein leben ändern, wenigstens
    mal das wasser wechseln.
    meinesgleichen
    sind nicht meine leute,
    kurwa.
    und ich wandle
    unter euch als bruder, brüder.
    wisst ihr,
    von den birkenmännern
    ist alles herden- oder hütervieh.
    wie das kluge fleisch weiß
    den bannerträger der genossenschaft,
    so gib schon
    deutsches pfötchen, bitch.
    ... höre ich dich
    das sagen in deiner sportpalaststimme
    oder meiner?
    (das zur Gnade
    der späten replik)
    zeig her die letzte ehrliche haut
    des oder-neiße-friedensreichs
    weil mein schatz im untergrund ist.
    meine gleichnisse sind spaltbar
    wie die achtzigerjahre, mein haus
    der häuser mittleres, mein blut
    regt schaurig nachts die liebe,
    kälter als der tod.
    ... geh halt nach österreich ...
    ein jeder
    kennt so einen Antisemiten
    den er mag
    (aus Tom Bresemann, arbeiten und wohnen im denkmal, luxbooks 2015)
    Was sind eure Gedanken zum Thema 'Perspektivwechsel'? Wann stehen sich Perspektiven unversöhnlich gegenüber, wann verschwimmen sie zu einer Endlosschleife? Wann bleibt ihr bei eurer Sicht der Dinge? Wann lohnt es sich, eine andere Perspektive einzunehmen? Und wann sind bei euch vielleicht schon einmal Identitäten verschwommen, weil sich Perspektiven aufgelöst haben?
    Wir freuen uns auf eure Einsendungen zum Thema 'Perspektivwechsel'!
    Hier findet ihr unsere E-Mail-Vorlage. Die aktuellen Wettbewerbsbedingungen könnt ihr online nachlesen.
    Der Lyriker Tom Bresemann
    Der Lyriker Tom Bresemann (Adrian Liebau)
    Tom Bresemann
    Tom Bresemann wurde 1978 in Berlin geboren, wo er schreibt, herausgibt, veranstaltet und lebt.
    • Er veröffentlichte seit 2004 in diversen Magazinen und Anthologien wie "randnummer", "poet", "Lyrik von Jetzt 2", "Jahrbuch der Lyrik", "Wat los", "Parzen?" sowie drei Gedichtbände und eine Erzählung.
    • Der Gedichtband 'Makellos' wurde als "Konglomerat aus Bildungsgut und Gegenwartswut" (literaturkritik.de) bezeichnet.
    • Der zweite Gedichtband "Berliner Fenster" erschien 2011. "Es macht einfach Spaß, den Band zu lesen, trotz oder eben gerade wegen der ständigen Herausforderungen." (taz)
    • 2012 erschien die Erzählung "Kein Gesicht" bei SuKulTur.
    • 2014 erschien der dritte Gedichtband: "arbeiten und wohnen im denkmal" bei luxbooks.
    • Texte von ihm wurden ins Englische, Italienische, Schwedische, Spanische und Hebräische übertragen.
    Blick von Westen auf das Gebäude der Hochschule für Gestaltung Ulm, 1956
    Blick von Westen auf das Gebäude der Hochschule für Gestaltung Ulm, 1956 (Foto Wolfgang Siol) (HfG-Archiv / Ulmer Museum)
    Ulmer Museum / HfG-Archiv Ulm
    Das 1925 gegründete Ulmer Museum ist ein Museum für Kunst, Archäologie sowie Stadt- und Kulturgeschichte in Ulm. Es ging aus den Beständen des Vereins für Kunst und Altertum in Ulm und Oberschwaben und denen des bereits existierenden Gewerbemuseums hervor. Der Sammlungsfokus wurde von da an ausschließlich auf kunst- und kulturhistorische Bereiche gerichtet. Im Laufe seines Bestehens wurde das Museum mehrfach erweitert, so dass sein heutiges Erscheinungsbild von dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Architekturen und deren abwechslungsreichen Räumlichkeiten bestimmt wird.
    Das HfG-Archiv Ulm wurde im Jahr 1987 auf Initiative ehemaliger HfG-Angehöriger von der Stadt Ulm eingerichtet und ist seit 1993 eine Abteilung des Ulmer Museums. Es verfolgt das Ziel, die Geschichte der Hochschule für Gestaltung Ulm möglichst umfassend zu dokumentieren.
    In seiner Doppelfunktion als Museum und Archiv hat das HfG-Archiv die Aufgabe, Inhalte und Bedeutung der Hochschule einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dies geschieht durch Wechselausstellungen, Publikationen und Symposien. Eine vom HfG-Archiv erarbeitete Dauerausstellung im Gebäude der Hochschule für Gestaltung gibt Einblick in die Geschichte und Entwicklung der Hochschule für Gestaltung Ulm.
    Hier findet ihr die Unterrichtsmaterialien zum Thema.