Dienstag, 19. März 2024

Archiv


Kant aufs Korn genommen

Wenn man schon kritisiert, dann soll man doch die Kritik als solche aufs Korn nehmen. Und wo findet sich der Hort aller Kritik? Natürlich in Kants "Kritik der reinen Vernunft" aus dem Jahr 1781, dem vielleicht berühmtesten Buch der Philosophiegeschichte. Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch nimmt sich Kant vor.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 27.04.2011
    Was haben Tauschen, Sprechen und Begehren gemein? Zunächst verwundert der Titel des neuen Buches von Jochen Hörisch. Doch zumindest handelt es sich um Aktivitäten, die für das soziale Leben konstitutiv sind. Ja, sie lassen sich sogar als anthropologische Grundmuster verstehen: Zum Menschen gehört, dass er tauscht, spricht und begehrt. Aber geschieht das nicht in den diversen Kulturen und Epochen der Menschheitsgeschichte auf zu unterschiedliche Weise, als dass man darin das Wesen des Menschen erblicken könnte? Doch das ist gar nicht das Problem. In der Anthropologie hat sich längst die Einsicht verbreitet, dass das Wesen des Menschen bestenfalls darin liegt, dass den Menschen gar kein Wesen gemein ist. Doch gemein sind ihnen Tauschen, Sprechen und Begehren.

    Dabei entfalten sie eine Gemeinsamkeit, die der Untertitel des Buches verrät, nämlich "Eine Kritik der unreinen Vernunft". Kritik heißt für Kant, die Grenzen der Vernunft, ihre Reichweite einerseits gegenüber dem Bereich des Religiösen und andererseits im Bereich der sinnlich gegebenen Erfahrungen auszuloten. Reine Vernunft besteht aus formalen Strukturen des Denkens und des Rechnens. Sie stützt sich auf die Logik. Ihre Grenzen bestimmt die Vernunft selbst. Sie lässt sich nicht von der Erfahrungswelt verunreinigen.

    Dieser abstrakten reinen Vernunft stellt Hörisch eine unreine Vernunft entgegen, die sich nicht aus der Erfahrungswelt heraushebt, sowenig wie sie sich in der Lage sieht, sich selbst die eigenen Grenzen zu ziehen. So bemerkt Jochen Hörisch in einem Studiogespräch:

    Jochen Hörisch: Unreine Vernunft würde sich nicht auf das Verfahren einlassen, auf das sich Kants Kritik der reinen Vernunft einlässt, nämlich über sich selbst Gericht zu sitzen, was ja ein elementarer juristischer Verstoß ist. Der Angeklagte darf nicht der Richter sein. Eine Vernunft bei Kant macht aber genau das. Sie zerrt sich vor den eigenen Richtstuhl und muss dann herausfinden, dass sie eigentlich Recht hat. Die unreine Vernunft gibt von vornherein alles zu. Sie gibt zu, dass sie nicht omnipotent ist, dass sie sich von außen wird beobachten lassen müssen, dass sie Zeugen der Anklage zulässt, dass sie in einem Gemengestreit ist mit allen möglichen Kräften, die ihr dazwischen fahren und ihr dazwischen reden."

    Hans-Martin Schönherr-Mann: Sie unterstellen Kants Vernunftkritik einen inzestuösen Charakter, in Ihrem Sinn einen unreinen Charakter. Was ist an Inzest unrein? Wo ist das Problem, wenn Ödipus gleichzeitig Sohn und Ehemann von Iokaste ist?

    Hörisch: Zum eigentlichen Skandal des Inzest dürfte gehören, dass er die logischen Ordnungsprinzipien durcheinander bringt. Denn wenn Ödipus und Iokaste - um das Beispiel aufzunehmen - gemeinsam ein Kind haben, Mutter und Sohn, dann wäre dieses Kind der Bruder des Vaters, dann hätte Ödipus einen Sohn, der als Sohn seiner Mutter sogleich sein Bruder ist. Und aus der Perspektive von Iokaste hätte sie ein Kind und ein Enkelkind zugleich; und der elementare Grundsatz - dasselbe kann demselben in derselben Hinsicht nicht zugleich zukommen und nicht zukommen, der Tisch kann nicht zugleich rund und eckig sein, aus Stahl und aus Holz sein - dieser elementare Grundsatz der Logik wäre unrein unterlaufen. Er wäre elementar kontaminiert.

    Schönherr-Mann: Kants reine Vernunft beschäftigt sich inzestuös mit sich selbst. Aber erfasst sie sich damit wirklich selbst? Für Hörisch verdrängt sie dadurch gerade ihre Herkunft wie ihr Wesen. Diese finden sich nämlich nicht in der Vernunft selbst, sondern außer ihr, genauer im Prinzip des Tauschens. Dabei werden gemeinhin zwei gegensätzliche Dinge, nämlich Ware gegen Geld getauscht, was den Tausch selbst unrein erscheinen lässt, so dass er der Vernunft einen verunreinigenden Urgrund liefert. Hörisch erinnert dabei an den Neomarxisten aus dem Umkreis der kritischen Theorie, Alfred Sohn-Rethel, der die abendländische Vernunft auf das Geld zurückführt. Letzteres abstrahiert von den Dingen und ermöglicht dadurch, diese miteinander im Preis zu vergleichen.

    Jochen Hörisch: Es gibt ja von vielen bemerkt im Rahmen des frühen griechischen Denkens irgendwo zwischen dem siebten und dem vierten Jahrhundert einen Schub, den hat man beschrieben als Schub vom Mythos zum Logos. Und es ist eben wirklich ein Abstraktionsschub, der schwer zu erklären ist. Und mit zu den plausibelsten Ansätzen gehört wirklich derjenige, dass man sagt, in demselben Kulturraum, in dem wir diese Entwicklung haben, vom Mythos zum Logos, vom Erzählen zum Zählen, von den Narrationen zu den abstrakten logischen Ableitungen, genau in dem Kulturraum wird eben die Münzprägung erfunden. Und ich denke da haben wir den klassischen Fall, der viel besser als Kant zum Beispiel erklären kann, wie es zur Vernunft kommt.

    So unrein wie der Tausch ist auch der andere anthropologisch relevante Bereich, mit dem sich Jochen Hörisch beschäftigt, nämlich das Sprechen oder Kommunizieren. Denn die Sprache verdankt sich nicht der Suche nach Konsens, sondern diversen Konflikten, die sie austrägt, also dem Dissens.

    "Wenn alle Leute eine Übereinstimmung, einen Konsens hätten, wäre es ja gar nicht nötig weiterhin zu kommunizieren. Konsens ist daher kommunikationslogisch gesehen Nonsens. Der Dissens, der Diskurs ist es, der uns am Reden hält."

    Dass das Sprechen nicht rein ist, zeigen schon die schmutzigen Dinge, über die man spricht. Dabei klingt in Hörischs Buch gelegentlich an, dass die Zeitgenossen den Schmutz nicht ernst genug nehmen würden und sich stattdessen lieber dem Erlebnis und Vergnügen hingeben. Doch er antwortet auf meine Frage:

    Schönherr-Mann: Kann es eine andere Antwort auf Auschwitz geben als den Hedonismus und die Spaßgesellschaft?

    Hörisch: Das ist eine Frage, bei deren Beantwortung man eigentlich nur Fehler machen kann. Ich habe einen Aufsatz in diesem Band, über den wir reden, 'Tauschen, sprechen, begehren', der sich beschäftigt mit dem berühmten Diktum von Adorno, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, wäre barbarisch. Das ist ein großes Wort und ich will das nicht klein reden. Aber die Frage ist eben, wie man die Antwort darauf gibt. Und man kann eine Antwort darauf geben, die da lautet, die Nazis haben nicht gesiegt. Das wollen wir nicht ganz vergessen. Es hat zig Millionen elend Krepierter, Ermordeter, Erschlagener, Verbrannter gegeben. Das ist ein Faktum, das fein zu reden, rein zu reden mit irgendwelchen überholten Theodizee-Konzepten, sich schlechterdings verbietet in meiner Wahrnehmung. Es verbietet sich aber nicht darauf aufmerksam zu machen, dass wir eine unheimliche Dimensionen streifende Form des Massenhedonismus nach Auschwitz, nach 1945 erfahren haben. Ich bin sehr glücklich darüber, dem Jahrgang 1951 anzugehören und blicke jetzt auf ein 60-jähriges Leben zurück; und ich müsste mich einfach falsch stilisieren, wenn ich sagen würde, dass das außer Leiden, Erniedrigung und Demütigungen nichts gebracht hat. Das schien mir eine inadäquate, übrigens auch undankbare Selbstbeschreibung zu sein. Und auf solche Probleme wollte ich mal aufmerksam machen. Wir reden uns die gegenwärtigen Lebensumstände eigentlich systematisch zu schlecht. Kritisieren - das Wetter, die Politiker, die Weltpolitik, die Umstände, den Niedergang aller kulturellen Werte - kann mit Verlaub jeder. Die viel größere Kunst dürfte sein - Sie merken, dass ich in dieser Hinsicht in einer gewissen nietzscheanischen Tradition stehe - zu loben, zu affirmieren, wie es auch sei, das Leben, es ist gut, sagt kein anderer als Goethe."

    Schönherr-Mann: Das ist in der Tat die Schwierigkeit, das Bejahen des Lebens. Das sehe ich auch so. Wir kommen jetzt noch zum Begehren. Was soll denn am Begehren noch unrein sein, seit der Gebrauch der Lüste keine Sünde mehr ist und die Heterosexualität nicht mehr der Maßstab dieses Gebrauchs oder seit der Emanzipation der Homosexuellen? Das kann doch höchstens noch die Verdrängung des Inzests - um wieder auf das Thema zurückzukommen - oder anderer Praktiken sein, über die man öffentlich möglichst nicht spricht, was aber in den Talkshows des Fernsehens längst gang und gäbe sein soll - nur weiß ich das nicht so genau, weil ich kein Fernsehgerät, sondern nur eine Schreibmaschine habe.

    Hörisch: Das ehrt Sie, dass Sie so ein reiner, auch in medientechnischer Hinsicht, reiner Geist sind, lieber Herr Schönherr-Mann. Mit Unreinheit - ich wechsle jetzt das Register - meine ich erst mal die Unreinheit, die man lustvoll mit dem Schmutz und dem Abfall der Sexualität verbindet. Wir werden also unter sehr unreinen Körperausgängen geboren und in diese unreine Welt hinein geworfen. Wir empfinden diese Unreinheit übrigens auch als ganz reizvoll, als ein Tabubruch, der sinnvoll ist. Eigentümlich wird, wenn diese Unreinheit massenmedial am laufenden Band geschaltet wird. Manchmal wird mir ganz schwindlig, wenn ich über den Begriff des Kanals nachdenke und wenn man so nachguckt, was so durch die Kanäle - und ab und anders als Sie sehe ich dann doch mehr Fernsehsendungen - was da durch die Kanäle geschwemmt wird, ist denn häufig genug Dreck und die Frage ist, wie wir mit diesem Dreck - Dschungelcamps und dergleichen mehr - umgehen können. Ich denke wir haben eine Kultur, die sehr aseptisch ist, die sehr auf Immunsysteme setzt, die sich aber ihre Unreinheiten, durchaus auch ihren Abfall - Abfall im doppelten Wortsinne, im Sinne von Schmutz und im Sinne von Häresie - organisiert. Und ich finde zu den eigentümlichen kulturkritischen Umständen gehört, dass so eine Kategorie wie feines Benehmen, unfeines Benehmen eigentlich gar keine Rolle mehr spielt. Wer dem Dschungelcamp käme mit der Kritik, ich finde das sehr unfein, wie der Werner mit Frauen umgeht, der wird die Erfahrung machen, dass er als rettungslos unzeitgemäß gilt.

    Die Kritik der unreinen Vernunft findet also in den unreinen Bereichen des Tauschens von Ungleichem, des Sprechens, das sich Konflikten verdankt, und dem Begehren statt. Nicht ganz plausibel wird dabei das Wort der Unreinheit. Denn man darf doch fragen, was an einer Geburt unrein sein soll. Ein kleines formales Manko des Buches ist zudem, dass es sich um eine Aufsatzsammlung handelt, deren einzelne Texte allerdings überarbeitet wurden. Die Stärke von Jochen Hörischs "Kritik der unreinen Vernunft" liegt dagegen im Zusammenspiel von Psychoanalyse und Literaturwissenschaft, was sich gegenüber dem Mainstream der zeitgenössischen Philosophie als weit überlegen erweist. Hörisch:

    "Die Psychoanalyse ist ja die Wissenschaft, die sich systematisch auf den Abfall einlässt, auf den Abfall vom guten Benehmen, von der reinen Sexualität, vom reinen Begehren. Die Literatur redet enthemmt über alles und redet überall mit. Sie lässt sich also auf die Unreinheit der Verhältnisse ein, insofern sind Literatur und Psychoanalyse in meiner Wahrnehmung eigentlich ein Dreamteam."

    Jochen Hörisch: "Tauschen, sprechen, begehren - Eine Kritik der unreinen Vernunft". Edition Akzente Hanser, München 2011, 367 Seiten.