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Lisa Halliday: "Asymmetrie"
Hingabe als Halt

Ihr Romandebüt "Asymmetrie" inszeniert die Amerikanerin Lisa Halliday als literarisches Täuschungsmanöver. Denn was sich vordergründig als Erinnerung an ihre Liaison mit dem kürzlich 85-jährig verstorbenen Philip Roth lesen lässt, ist genau betrachtet das kunstvoll verschleierte Porträt der angehenden Künstlerin als junge Frau.

Von Peter Henning | 24.09.2018
    Cover von Lisa Hallidays Roman "Asymmetrie", im Hintergrund in den Himmel ragende Hochhäuser.
    Lisa Halliday betritt die literarische Bühne mit einem Selbstportrait (Hanser Verlag / B.K Heleth, Unsplash)
    Die Literatur ist reich an Variationen der uralten und doch immer neu erzählten Legende vom "alten Herrn und dem schönen Mädchen". Der Italiener Italo Svevo etwa widmete diesem Sujet - älterer Mann liebt junge Frau - seine gleichnamige Novelle, in welcher er, der Autor des "Zeno Cosini", feinsinnig jenen "leidenschaftlichen Zustand" ausmalte, in den auch Johann Wolfgang von Goethe, seinerzeit bereits 74 Jahre alt, noch einmal geriet, als er für "ein Töchterchen" und "schönes Kind" entflammte.
    Und der "Zauberer" Vladimir Nabokov verlieh der Zustandsbeschreibung sich asymmetrisch zueinander verhaltender Gefühle mit seinem berühmten Roman "Lolita" ebenso bleibenden literarischen Ausdruck wie der kürzlich 85-jährig verstorbene Amerikaner Philip Roth es mit Büchern wie "Das sterbende Tier" oder zuletzt seinem erschütternden Spätwerk "Die Demütigung" tat.
    Die Liebesaffäre als Schutz
    Vor diesem Hintergrund betrachtet bürstet der Debütroman "Asymmetrie" der jungen U.S.-Autorin Lisa Halliday dieses bislang gemeinhin als literarische Männerdomäne empfundene Thema auf interessante Weise gegen den Strich. Sie tut es, indem sie die Geschichte aus der Sicht der jungen Frau, ihrer Protagonistin Alice, erzählt. Und soviel sei bereits vorweggenommen: Halliday´s Buch, das den Leser vom ersten Moment an mit seinem märchenhaft anmutenden Erzählton einzufangen und zu bezaubern versteht, ist ein großes literarisches Vergnügen.
    Denn ins Zentrum ihres Romans hat die in Medfield, Massachusetts geborene Amerikanerin eine Erzählerin gestellt, die durch ihre feinen, und in letzter Instanz wunderbar dezenten Beobachtung besticht - und weniger dadurch, dass sie lautsprecherisch oder gar prahlend von ihrer Liaison mit jenem berühmten Ezra Blazer erzählt, der im wahren Leben kein Anderer als der bereits erwähnte Philip Roth gewesen ist, mit dem Lisa Halliday eine Liebesaffäre verband.
    "Neben den riesigen Platanen wirkte er kleiner und zerbrechlicher als drinnen im Schutz seiner Wohnung, und für einen kurzen Moment sah Alice, was andere Menschen vermutlich sahen: Eine gesunde junge Frau, die ihre Zeit auf einen hinfälligen Greis verschwendete. Oder waren andere womöglich fantasievoller oder mitfühlender, als sie glaubte? Nahmen sie vielleicht an, dass mit ihm trotzdem alles interessanter war als ohne ihn, oder fanden sie vielleicht sogar, dass ihr Mut und ihre Hingabe Eigenschaften waren, von denen die Welt mehr brauchte statt weniger?"
    Eichmann in Jerusalem
    Als Angestellte der renommierten New Yorker Literaturagentur Wylie Agency, die neben Salman Rushdie, Dave Eggers oder Yasmina Reza auch Philip Roth betreute, war Lisa Halliday dort irgendwann auch dem bis zuletzt als Nobelpreis-Kandidat gehandelten Roth begegnet. In ihrem Buch beschreibt sie die erste Begegnung der beiden, die zufällig in einem New Yorker Park auf einander treffen, so:
    "Der Mann aß sein Eis, und Alice tat, als wäre sie in ihr Buch vertieft. Eine Joggerin drehte sich im Vorbeilaufen nach ihnen um, dann noch eine. Alice wusste, wer er war - sie hatte es vom ersten Moment an gewusst, als er sich zu ihr gesetzt hatte und ihre Wangen wassermelonenrot geworden waren. Aber vor Erstaunen konnte sie nur wie ein fleißiger Gartenzwerg in das undurchdringliche Buch starren, das offen in ihren Schoß lag."
    Was folgt, ist die Beschreibung einer Liebesbeziehung, die vor allem von gegenseitigem Respekt gekennzeichnet ist. Denn aus sich anfangs asymmetrisch zueinander Verhaltenden werden zwei, die jeweils für sich erkennen, welchen Gewinn der andere als Mensch für ihn darstellt.
    Gewiss: Ezra zahlt Alice ihre Studiengebühren - und er schenkt ihr Bücher wie Albert Camus`Roman "Der erste Mensch" oder Hannah Ahrendts "Eichmann in Jerusalem". Doch zu keinem Zeitpunkt der Erzählung hat man das Gefühl, dass er dies aus einer gönnerhaften Haltung heraus tut. Vielmehr scheint Dankbarkeit dafür, auch als alter Mann noch gesehen und respektiert zu werden, der Impuls für sein Handeln zu sein. Das Glück, noch einmal den Geist der Jugend atmen zu dürfen.
    "Wenn er, Roth, in die Agentur kam, trat er nie wie eine Berühmtheit auf", bekannte die heute 41-jährige Halliday kürzlich einem interview dazu. "Er hat nie den armen Jungen aus New Jersey vergessen, der er einmal war."
    Brillanz und Dominanz
    Und genau so zeichnet sie ihr Bild, ihre ganz persönliche Nahaufnahme jenes jüdisch-amerikanischen Schriftstellers, der 1959 in Form seines Kurzromans "Goodbye, Columbus" selbstbewusst Amerikas literarische Bühne betrat, nämlich mit der Dezenz einer Schriftstellerin, die spürt, dass die leise angeschlagenen Töne mithin die ausdrucksstärkeren sind. Und auch wenn ihre Schilderungen ihres Lebens an der Seite des großen Autors sich zunächst ganz auf die Beschreibung von dessen Macht, seinen Erfolgen und seinem brillanten Geist ergehen -- so zeigt ihr Buch auch, wie seine scheinbar unverrückbare Dominanz innerhalb ihrer Beziehung mit der Zeit nachzulassen beginnt, wie die anfangs zwischen ihnen bestehende Asymmetrie verschwindet und sich auflöst - und beide einander fortan auf Augenhöhe begegnen.
    Denn genau das ist es, was Halliday´s Roman, der kunstvoll an gewissen Rückseiten ihrer eigenen Biographie entlang erzählt ist, so spannend macht: Dass er vieles, scheinbar höchst Intimes über die innerste Mechanik dieser besonderen Mann-Frau-Beziehung entfaltet - und doch nicht wirklich etwas lüstern ausstellt, oder gar verrät. Sondern geheimnisvoll bleibt. Aus dieser bis zuletzt geschickt in der Schwebe gehaltenen Balance bezieht ihr Buch seine große innere Spannung.
    "Wenn ihre Hände sich beinahe berührten und dann wieder auseinandergingen, sahen sie aus wie Hände von jemandem, der früher einmal gebetet hat, jetzt aber andere Arten der Selbstberuhigung vorzieht: Jemand Erfahrenes, Liberales, Belesenes. Jemand Aufgeklärtes."
    Einschnitt in den Fluss der Erzählung
    Lisa Halliday´s dreigeteilter Roman ist abgefasst in der Manier und der Tonlage eines sogenannten "Memoir" - weist in seinem literarischen Anspruch aber zugleich darüberhinaus. Denn über die Rekonstruktion der Liaison der Autorin mit Roth hinaus ist "Asymmetrie" ein bemerkenswerter Roman über weibliche Wahrnehmung - und damit auch eine im Folgenden subtil ausgebreitete Emanzipationsgeschichte. Wir sehen einer Schriftstellerinnenwerdung zu, nämlich der persönlichen Überschreitung einer anfangs Aufschauenden hin zu sich selbst- und ihrem Schreiben.
    Dass Alice sich mit dem Ende des ersten Buchteils in ihr weiteres Leben für immer von uns verabschiedet, um Platz zu machen für die Geschichte eines jungen irakischen Wissenschaftlers in den USA, der uns von den Erfahrungen erzählt, die seine Familie im Zuge der Terrors in Bagdad machen musste, wirkt im ersten Moment wie ein allzu harter Einschnitt in den Fluss der Erzählung. Indem diese aber im dritten, das Buch beschließenden Teil zu Philip Roth zurückkehrt, der inzwischen - so die schöne Fantasie der Autorin - doch noch den Literaturnobelpreis erhalten hat, in einer fiktiven Sendung darüber und seine damit verbundenen Gefühle Auskunft gibt, fügt sich alles zu einer Art erzählerischem Ganzen, indem es - seinem inneren Gesetz der Asymmetrie folgend - diese einander scheinbar diametral gegenüberstehenden Lebenswirklichkeiten zuletzt zu etwas Neuem amalgamiert.
    So ist Lisa Halliday mit ihrem Roman "Asymmetrie" ein Buch geglückt, das in der Beschreibung männlichen Seins und Fühlens weibliche Befindlichkeit spiegelt - oder anders gesagt: Das uns das kunstvoll verschleierte Porträt der angehenden Künstlerin als junge Frau beschert. Denn genau darin liegt sein besonderer literarischer Wert: Dass ihr Buch über Philip Roth in Wahrheit eines über Lisa Halliday ist - eine Schriftstellerin, auf deren weitere Entwicklung wir gespannt sein dürfen!
    Lisa Halliday: "Asymmetrie"
    aus dem Englischen von Stefanie Jacobs
    Carl Hanser Verlag, München, 320 Seiten, 32 Euro