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Kein Frankreich-Bonus mehr bei der Literatur

Das deutsch-französische Treffen von Belletristik-Verlagen beschäftigt sich mit Zukunftsfragen: Welche Veränderungen stehen durch das E-Book bevor? Und wie wird die Literatur des jeweils anderen Landes – auch als europäisches Kulturerbe – überhaupt wahrgenommen?

Von Cornelius Wüllenkemper | 30.05.2012
    Frankreich, das Land der Existentialisten, Sozialutopien, engagierten Schriftsteller und glückliche Heimat von vermeintlich mehr Autoren als Lesern – das war einmal. Die Literatur unterliegt den gleichen Gesetzen und Gefahren wie jedes andere Produkt. Das digitale Buch, mit dem die Branche in Europa bisher noch nicht einmal ein Prozent des Umsatzes bestreitet, gilt vielen Verlegern als der größte Umbruch seit Erfindung des Buchdrucks. Dabei geht es um Marktgesetze und Steuersätze: Während bisher in Europa nur gedruckte Bücher einer reduzierten Mehrwertsteuer unterliegen, gilt das in der US-amerikanischen Heimat der großen E-Book-Anbieter wie Amazon-Kindle eben auch für digitale Publikationen. Ein klarer Wettbewerbsnachteil für den europäischen Kulturkontinent, so heißt es auf französischer Seite. Anfang des Jahres bereits hat das französische Finanzministerium gegen geltendes europäisches Recht die Steuer auf E-Books gesenkt – und fordert nun eine europaweite Absenkung, um der "amerikanischen Hegemonie" zuvorzukommen. Der deutsche Verleger Joachim Unseld, Leiter der Frankfurter Verlagsanstalt, sieht die Gefahr für den klassischen Buchhandel jedoch auch an anderer Stelle.

    "Die Mehrwertsteuer, die sollte harmonisiert werden, reduziert werden, für alle Länder Europas. Aber das allein wird es nicht machen. Wir müssen ganz stark den stationären Buchhandel, wie man ja inzwischen sagt, also den, den wir kennen, unterstützen. Und in Deutschland sind wir da noch nicht so weit wie in Frankreich. Frankreich hat hier nämlich Steuermodelle und Kreditmodelle, die unseren Plänen so noch weit voraus sind."

    Das Verlegerhandwerk und somit die Entdeckung guter Autoren und deren Vermittlung an die Leser, so Unseld, sei heute durch überzogene Rabattforderungen der großen Buchhandelsketten bedroht. Bald, so die düstere Aussicht, würden Verleger womöglich gar nicht mehr benötigt, wenn jeder Autor sein Buch als E-Book selbst verlegen und direkt an den Leser verkaufen könne. Auch in Frankreich haben es gerade kleine, unabhängige Verleger immer schwerer, ihre Bücher gewinnbringend zu verkaufen. Die Verlegerin Sabine Wespieser betreibt seit elf Jahren in Paris einen Kleinverlag für Literatur mit zehn Titeln im Jahr. Nicht das digitale Buch mache ihr Sorgen, sondern der wachsende Druck auf kleine Buchhändler, auf die sie als unabhängige Verlegerin angewiesen sei.

    "Die Schwierigkeiten der unabhängigen Buchhändler hängen vor allem mit der Wirtschaftskrise zusammen. Wir verlieren immer mehr Leser. Zudem haben wir es in Frankreich mit stetig wachsenden Immobilienpreisen zu tun und viele Buchhändler können die Innenstadtmieten schlicht nicht mehr bezahlen. Außerdem leidet der Buchverkauf in Frankreich unter der exzessiven Überproduktion von Büchern: Damit die großen Verlagskonzerne rentabel laufen, müssen sie von einzelnen Titeln große Mengen absetzen. Qualitativ hochwertige Bücher können sie aber in solch großer Anzahl als Händler nicht verkaufen."

    Während die Nöte der Literaturbranche in Deutschland und Frankreich ähnlich sind, hat man es dennoch mit unterschiedlichen Marktsituationen zu tun: Wo in Frankreich mit einem jährlichen Bruttoumsatz von 4,6 Milliarden Euro Verlagsprodukte das wichtigste kulturelle Exportgut des Landes sind, ist in Deutschland der Branchenumsatz mit neun Milliarden Euro fast doppelt so hoch. Diese Zahlen überraschen um so mehr angesichts der Tatsache, dass weiterhin mit rund 1000 Übersetzungen jährlich fast doppelt so viele Belletristik-Bände vom Französischen ins Deutsche übersetzt werden wie umgekehrt. Für Ulrike Ostermeyer vom Ullstein-Verlag ist dafür zum Teil die sogenannte "Eiffelturm-Literatur" verantwortlich: Unterhaltungsromane aus Frankreich, die mit gefälligen französischen Klischees deutsche Leser locken. Für hochwertige Literatur gelte dieser Frankreich-Bonus dabei längst nicht mehr.

    "Es geht weniger darum, dass die deutschen Leser sich sagen: Oh, da ist was aus Frankreich, sondern darum, dass es einen bestimmten Nerv trifft. Und auch, wenn es nicht Literatur, sondern ein Sachbuch ist, ist Stéphane Hessel ein sehr gutes Beispiel. Es ist letzten Endes egal, woher Stéphane Hessel kommt. Er hat den Nerv getroffen. Er hat ein Thema, das ihm persönlich am Herzen liegt und das er mit einer Verve und einem Charme vertreten kann. Ich glaube, um was es im Wesentlichen geht, ist, dass er ein Thema getroffen hat, das die Menschen bewegt. Und das geht über die Grenzen hinweg."

    Die Zeiten, in denen man in Deutschland mit akademischer Ehrfurcht die Werke französischer Literaten und philosophischer Freigeister las, sind vorbei, meint auch Jean Mattern, Lektor beim französischen Verlagshaus Gallimard. Der Sonderstatus der deutsch-französischen Kulturbeziehungen habe sich heute längst europäisiert.

    "Es gibt im Grunde mittlerweile keine Regeln mehr, die uns ermöglichen, zu sagen, daraus wird ein Erfolg, daraus wird ein kommerzieller Schlager. Das sind ganz normale Beziehungen geworden. Wir kennen uns gut, wir lesen uns gegenseitig. Das ist wirklich immer wichtiger geworden in den letzten Jahren, dass wir von den nationalen Obsessionen wegkommen und sagen, wir wollen deutsche Literatur verteidigen oder französische Literatur – nein! Wir wollen einfach gute Bücher!"