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Kinder psychisch kranker Eltern
Zu viel Verantwortung und große Einsamkeit

Rund 3,8 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland wachsen mit sucht- oder psychisch kranken Eltern auf. Oft müssen sie zu früh Verantwortung übernehmen und werden an ihrer freien Entwicklung gehindert. Beratungsstellen bieten Hilfe an - nützen aber vor allem dann, wenn die Eltern fremde Hilfe auch zulassen.

Von Verena Tröster | 22.08.2017
    Mädchen sitzt in der Schule auf dem Boden
    Viel Verantwortung und Einsamkeit - in Deutschland wächst etwa jedes sechste Kind mit sucht- oder psychisch kranken Eltern auf. (picture alliance / ZB/Britta Pedersen)
    "Also ich habe das immer verglichen mit, wenn ich morgens so gar nicht hochkam, als wenn die Decke aus Zement ist. Ich weiß nicht, ob man sich das vorstellen kann. Wirklich so als hätte mich einer einbetoniert. Und sich da erstmal rauszugraben und überhaupt aufzustehen und irgendetwas zu machen, das war schon ein riesen Erfolg" - Andrea Köhler (Name von der Redaktion geändert) über die Phasen, in denen es ganz schlimm ist mit ihren Depressionen.
    Die 31-jährige lebt mit ihrer Familie am Stadtrand von Köln, zusammen mit ihrem Mann und den zwei Töchtern: 15 und sechs Jahre alt. Erstaunlich offen erzählt sie von ihrer Krankheit, ist reflektiert. Auch, weil sie lange schon in Therapie ist und sich Hilfe gesucht hat. Denn Andrea hat bemerkt: Ihre Krankheit hat Auswirkungen - vor allem auf die Kinder.
    Früh Verantwortung übernommen
    Die 15-jährige Lina (Name von der Redaktion geändert) beschreibt den gemeinsamen Alltag so: "Ich krieg das meistens morgens gar nicht so mit, weil ich sehr früh aufstehe, um in die Schule zu gehen. Aber so am Wochenende oder jetzt auch in den Ferien, ja dann ist die Kleine wach - aber das geht alles.
    Es geht, weil Lina Verantwortung übernimmt für ihre kleine Schwester, wenn Andrea Köhler das Bett nicht verlassen kann.
    "Ich kümmere mich dann hier so ein bisschen um die Kleine, wenn ich das mitkriege, Ich mache der was zu essen, gebe der was zu trinken, spiele ein bisschen mit der. Und lasse die schlafen. Nur dann wecke ich die manchmal und sage: So und soviel Uhr haben wir."
    Umkehr der sozialen Rollen von Eltern und Kindern
    Für die 15-Jährige Normalzustand. "Parentifizierung" nennen Experten dieses Phänomen, das die Umkehr der sozialen Rollen von Eltern und Kindern beschreibt. Die systemische Beraterin Alexandra Roszak kennt viele dieser Fälle. Bei der christlichen Sozialhilfe Köln berät sie Eltern, die psychisch bealstet sind und beobachtet, dass deren Kinder im Alltag häufig Aufgaben übernehmen, die eigentlich den Eltern obliegen.
    "Wenn zum Beispiel kleinere Geschwister da sind, kümmert man sich um die Geschwister oder man sorgt für die Eltern. Man merkt, der Mutter geht's nicht gut, dann übernimmt man vielleicht das Kochen, oder man macht halt Sachen, die Kinder im gleichen Alter nicht machen würden. Wie freiwillig das Zimmer aufräumen, weil man der Mutter keinen Stress machen will oder dem Vater. Solche Dinge können das Kind in seiner freien Entwicklung hindern."
    Damit es dazu nicht kommt, konzentriert sich die christliche Sozialhilfe Köln, wie viele andere Beratungseinrichtungen, seit einiger Zeit verstärkt auf die Kinder psychisch kranker und suchtkranker Eltern. "Chance for Kids" heißt das Projekt des Diözesan Caritasverbandes für das Erzbistum Köln, das gerade elf Standorte finanziell fördert, um die "co-abhängigen" Kinder zu betreuen.
    Viel Einsamkeit
    Eine Hilfe, die der heute 49-jährige Hennig Mielke aus Berlin vor Jahren gut hätte brauchen können. Auch er erzählt seine Geschichte.
    "Mein Vater ist schwer alkoholkrank gewesen, meine Mutter tablettenabhängig. Beide sind auch an Ihrer Sucht sehr früh gestorben. Und ich glaube das vorherrschende Gefühl in meiner Kindheit war wirklich Einsamkeit. Ich bin unendlich viel alleine gewesen und ich habe auch meine Eltern als emotional sehr distanziert erlebt."
    Oft wollten seine Eltern einfach nur Ruhe haben, erzählt er. An gemeinsames Spielen, an ein offenes Ohr war kaum zu denken. Und Hennig Mielke verstand als Kind einfach nicht, woran das lag. Erst heute kann er sich die Situationen von früher erklären.
    "Ja, das eventuell jetzt gerade der Alkoholpegel unter ein gewisses Level gefallen ist und ein Elternteil halt einfach gereizt ist. Das versteht man als Kind nicht und man denkt als dann: Oh, ich hab irgendetwas falsch gemacht, ich war böse. Und mit diesem Gefühl wächst man dann auf: irgendwie falsch in dieser Welt zu sein."
    Drei mal höhres Risiko, selbst später krank zu werden
    Studien gehen davon aus, dass dieses Gefühl - irgendwie falsch zu sein - in Deutschland etwa 3,8 Millionen Kinder teilen, die unter ähnlichen Bedingungen aufwachsen. Das ist in etwa jedes sechste Kind. Eine unglaublich hohe Zahl, vor allem wenn man bedenkt, dass diese Kinder ein dreimal höhres Risiko haben, selbst später krank zu werden.
    Michael Klein ist einer der Fachleute im Land, der sich seit 30 Jahren mit diesem Thema beschäftigt. Der Professor für klinische Psychologie und Suchtforschung an der Katholischen Hochschule NRW in Köln, hat in zahlreichen Fällen beobachtet, dass betroffene Kinder schon in der Schule "mehr oder weniger auffällig werden. Die Jungs mehr als die Mädchen, weil Jungs die Tendenz haben, wenn sie psychische Probleme haben, die nach außen zu richten, während Mädchen die nach innen richten. Nach innen heißt dann Depression oder Angst oder vielleicht auch ein auffälliges Essverhalten - was man ja auch mit nach innen nimmt. Nach außen richten heißt: Aggressivität, Hyperaktivität, Zerstörungswut und ähnliches."
    "Gereizt und genervt, obwohl die Kleine mir gar nichts getan hat"
    Zurück an den Esszimmertisch von Familie Köhler: Die 31-jährige Andrea erzählt von ihrem Krankheitsverlauf: Vor einiger Zeit ist bei ihr die Persönlichkeitsstörung Borderline diagnostiziert worden. Das bedeutet, die junge Mutter ist emotional instabil, ihre Stimmung wechselt ständig, sie verletzt sich selbst und kann ihre Launen kaum mehr einschätzen.
    "Also ich hab' so Situationen mit der Kleinen, da möchte ich mich eigentlich ganz gerne beschäftigen und dann - weiß ich nicht - mache ich die Post auf oder so - und dann frustriert mich diese Post dermaßen, dass meine Tochter kommt und möchte irgendwas und ich bin dermaßen gereizt und genervt, obwohl die Kleine mir ja gar nichts getan hat, dass ich damit überhaupt nicht umgehen kann."
    Und so wird Andrea Köhler ohne ersichtlichen Grund laut. Immer wieder.
    "Ich kriege überhaupt nicht mit, wenn ich mich irgendwo reinsteigere. Meistens merkt man das erst, wenn das schon passiert ist."
    Auch an der großen Tochter Lina, gehen diese Stimmungsschwankungen nicht vorbei. Die Jugendliche allerdings beteuert: Es mache ihr keine Angst, wenn Zuhause geschrien wird.
    "Das Laute nicht. Eher wenn es leise ist. Wenn ich so Blödsinn gemacht habe und dann ist es so richtig leise, dann kriege ich Angst."
    Hilfe in der Beratungsstelle
    Während des Interviews schaut die 15-Jährige immer wieder fragend zu Andrea Köhler herüber. Als wolle sie wissen: Darf ich das überhaupt sagen? Fast schützend stellt sie sich vor sie - spielt Situationen herunter.
    "Wir sind halle hitzig hier. Alle stur. Und meistens haben wir es verdient."
    Lina hat Glück: Sie ist eines von den Kindern, die Hilfe haben - bei einer Beratungsstelle spricht sie über all das. Das hat Sie ihrer mutigen Mutter zu verdanken, die einsieht, dass nicht alles gut ist Zuhause.
    "Kinder brauchen die Rückendeckung von einem Elternteil"
    In den 70er Jahren - der Kindheit von Henning Mielke - war das etwas anders. Mit ein Grund, weshalb er 2004 in Berlin "NACOA Deutschland" gründete, ein Verein, der Kinder berät, die mit psychisch kranken und suchtkranken Eltern aufwachsen. Er sagt: Die Eltern sind und bleiben Dreh- und Angelpunkt.
    "Solange die Eltern nicht an dem Punkt sind wo sie sagen: Ich brauche Hilfe und auch mein Kind braucht Hilfe, sind die Kinder eigentlich von der Möglichkeit der Teilnahme an so einer spezialisierten Gruppe abgeschnitten. Also das ist immer die Voraussetzung. Kein Kind würde jemals gegen den Willen der Eltern so ein Angebot wahrnehmen. Die Kinder brauchen die Rückendeckung von mindestens einem Elternteil: Ja, du darfst diese Hilfe nehmen."