Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Lateinamerika
Der Kampf um Gerechtigkeit

Straßenschlachten in Rio de Janeiro, Streiks in Argentinien, Unruhen in Venezuela - Lateinamerikas soziale Konflikte sind in den vergangenen Monaten wieder mit voller Wucht ausgebrochen. Dabei haben seit der Jahrtausendwende quer über den Subkontinent linksorientierte Regierungen die Macht übernommen.

Von Andreas Beckmann | 17.04.2014
    Die Favela Rocinha am 02.12.2007 in Rio de Janeiro (Brasilien). Die Favela Rocinha im Süden Rios gilt mit ca. 250.000 Einwohnern als größtes Armenviertel in Lateinamerika.
    Favela Rocinha in Rio de Janeiro: Wer den Ausstieg aus der Armut schafft, gehört zur Zielgruppe evangelikaler Prediger (dpa / Peter Kneffel)
    Und sie haben durchaus tiefgreifende Reformen durchgesetzt, wie die Soziologin Martina Sproll am Beispiel Brasiliens erklärt: "Seit 2003, 2004, da hat sich dieses dramatische Bild der 1990er-Jahre, wo Ungleichheit explodiert ist, umgedreht. Insofern als es gelungen ist, die Arbeitslosenquoten massiv zu senken, die Mindestlöhne anzuheben und bolsa familia einzuführen, eine Art Sozialhilfe."
    Reichtum einer kleinen Oberschicht
    Ähnlich wie in Brasilien wurden auch in den Nachbarländern der Hunger und die gröbste Armut beseitigt. Gleichzeitig blieb überall der unermessliche Reichtum der kleinen Oberschicht unangetastet. "Kein lateinamerikanisches Land hat es eigentlich geschafft, eine Steuerreform in dem Sinne zu machen, dass die individuellen Einkommen und auch die Unternehmen ernsthaft besteuert werden." In diesem Versäumnis sieht Marianne Braig, Professorin für Lateinamerikanistik an der FU Berlin, das Grundproblem des Subkontinents seit der Dekolonisierung begründet: die Reichen tragen kaum etwas zur Entwicklung der Gesellschaft bei. "Die meisten Einnahmen der Staaten in Lateinamerika kommen durch indirekte Besteuerung, also Mehrwertsteuer oder durch Einnahmen aus dem Verkauf von staatlichen Ressourcen", sagt Braig.
    Bodenschätze oder Schürfrechte, Ackerland und Urwälder überlassen die Regierungen einheimischen und vor allem ausländischen Großkonzernen. Im Gegenzug verpflichten sich die Unternehmen, die Staaten an ihren Exporterlösen zu beteiligen. Braig: "Was wirklich ein gravierendes Problem ist, ist, dass Lateinamerika kaum eine Produktionskette hat, auf Basis ihrer Rohstoffe. Sie exportieren wirklich auf einem unheimlich niedrigen Verarbeitungsniveau Rohstoffe pur und haben nicht einmal die nötigen Fachkräfte, um sie zu bearbeiten."
    Zu arm, um Konsumgüter zu kaufen
    Zwischen den 1930er- und 1960er-Jahren haben Populisten wie Lázaro Cárdenas in Mexiko, Getúlio Vargas in Brasilien oder Juan Perón in Argentinien versucht, ihre Länder zu industrialisieren. Sie scheiterten. Nicht zuletzt, weil das Gros der Bevölkerung zu arm war, um Konsumgüter zu kaufen. Spätestens in den 1970er-Jahren kehrten die hochverschuldeten Länder wieder zu ihrer Rolle als Rohstofflieferanten zurück. "Extraktivismus" nennt dieses Wirtschaftsmodell die Direktorin am Ibero-Amerikanischen Institut der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Barbara Göbel: "Wenn man kurzfristig denkt, das sagen viele Politiker, wird sehr deutlich, dass es angesichts der Ungleichheiten und der großen Armut notwendig ist, diesen Weg zu gehen, eine massive Aneignung von Natur, weil man damit Mittel bekommt, um extreme Armut und Ungleichheiten zu verringern."
    Die ökologischen Folgen sind fatal. Urwälder werden abgeholzt. Die Artenvielfalt nimmt rapide ab, wenn in weiten Landstrichen etwa ausschließlich Soja für den Weltmarkt angebaut wird. Wasser wird knapp und fehlt den Kleinbauern, wenn es vom Bergbau verbraucht und verschmutzt wird. Langfristig verschärfen sich so auch die sozialen Probleme. Göbel: "Das bedeutet ja auch, dass man mit Extraktivismus zukünftige Chancen und auch Entwicklungschancen verringert."
    Gestiegene Nachfrage nach Agrarprodukten
    "Es scheint egal zu sein, ob Linke regieren wie in Venezuela oder Konservative wie in Kolumbien. Die staatliche Maschinerie agiert jedes Mal nach demselben Muster." Nach Ansicht des brasilianischen Politikwissenschaftlers Rodrigo Rodrigues-Silveira sind die sozialen Fortschritte der letzten zehn Jahre weniger Errungenschaften der Regierungen, als Ergebnis der weltweit gestiegenen Nachfrage nach Agrarprodukten und Rohstoffen aus Lateinamerika. "Jedes Mal, wenn wir einen Boom erleben, verteilen die Regierungen Geld. Und jedes Mal, wenn die Konjunktur einbricht, rutschen die Staaten in die nächste soziale Katastrophe."
    Weil das Wachstum nachlässt, gerät auch das brasilianische Jobwunder in Gefahr. 18 Millionen Arbeitsplätze wurden in zehn Jahren geschaffen. Am Beispiel des Bankensektors zeigt Martina Sproll allerdings, wie prekär diese Jobs oft sind. Die meisten entstanden in ausgelagerten Call-Centern, in denen viel schlechtere Tarifverträge gelten, als jene, die die Gewerkschaften vor Jahrzehnten für die Mitarbeiter durchsetzten, die direkt bei Banken angestellt sind. "In den Banken selber gehören die einer weißen Mittelschicht an, die Hälfte sind Frauen. Es sind nur ganz wenig schwarze Beschäftigte. In den Call Centers, da arbeiten ganz junge Menschen, ganz, ganz überwiegend junge Mädchen. Das sind sehr viele schwarze und dunkelhäutige Beschäftigte, die kommen aus Armenvierteln."
    Nach Feierabend aufs College
    Viele Mitarbeiter dieser Call Center gehen nach Feierabend noch aufs College. Sie wollen mit aller Kraft den Anschluss an die zahlenmäßig schmale Mittelschicht schaffen. Von einem höheren Lebensstandard träumen auch viele Kleinbauern Lateinamerikas. Die meisten von ihnen gehören der Jahrhunderte lang benachteiligten Ur-Bevölkerung an, die in letzter Zeit deutlich an politischem Gewicht gewonnen hat. Das zeigt sich nicht nur daran, dass in Peru und Bolivien erstmals indianisch-stämmige Präsidenten gewählt wurden. Göbel: "Das heißt eben auch, dass viele Verfassungen Lateinamerikas Partizipation nicht nur zulassen, sondern auch fordern, vor allem auch, wenn es um Ressourcen und auch Landrechte geht."
    Viele Campesinos können sich heute besser wehren, wenn große Konzerne ihnen ihr Land rauben oder buchstäblich das Wasser abgraben wollen, erklärt Göbel. "Diese Konflikte haben auch eine sehr produktive Seite, weil sie ja auch das sind, Experimente manchmal, aber häufig auch Praktiken des Aushandelns. Überhaupt die Tatsache, dass es zu einer Verhandlung kommen muss, kann auch positiv sein." Wenn bäuerliche Genossenschaften ihre Parzellen verteidigen, stehen sie oft auch für mehr Umweltschutz, mehr Artenreichtum oder ganz allgemein für mehr Nachhaltigkeit ein. Damit stoßen sie Debatten an, die weit über die Frage der sozialen Ungleichheit hinausgehen. Dasselbe gelte auch für die Proteste der Angestellten in den Großstädten, ergänzt Martina Sproll: "Dazu gehört Gesundheit, dazu gehört Bildung, dazu gehört Transport und das ist eine ganz spannende Entwicklung, weil mit einem Mal Bildung als ein soziales Recht verhandelt wird."
    Die wieder aufgeflammten Konflikte in Lateinamerika sind also nicht nur ein Zeichen der Krise. Sie sind ebenso Ausdruck eines neuen Aufbruchs zu gerechteren Gesellschaften.