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Leben ohne Glauben
"Auch Atheisten haben eine Weltanschauung"

Die Psychologin Tatjana Schnell von der Universität Innsbruck erforscht "konfessionsfreie Identitäten". Bisher ist wenig darüber bekannt, was Menschen verbindet, die keiner Religionsgemeinschaft angehören. Wo finden Sie Sinn? Wie halten Sie es mit der Spiritualität?

Tatjana Schnell im Gespräch mit Monika Dittrich | 06.12.2016
    Tatjana Schnell im Porträt
    Tatjana Schnell ist seit 2005 an der Universität Innsbruck als Persönlichkeits- und differentielle Psychologin tätig (Wendy A. Hern)
    Monika Dittrich: Frau Schnell, Sie machen derzeit eine große Studie zu konfessionsfreien Identitäten, wie es dort heißt. Erklären Sie uns das mal, was wollen Sie genau herausfinden?
    Tatjana Schnell: Wir würden gerne wissen, was diejenigen, die bisher als quasi ohne Weltanschauung betrachtet wurden, was hier für Einstellungen und Werte vorliegen.
    Dittrich: Was weiß man denn bislang über diese Menschen ohne Religionszugehörigkeit?
    Schnell: In der Sozialforschung waren sie lang ausgeklammert, man ist davon ausgegangen, wer nicht religiös ist, der ist nichts und nichts ist einfach sehr schwer zu untersuchen. Von daher gibt es hier sehr wenige Studien, wir haben vor sieben, acht Jahren schon eine durchgeführt, wo wir überzeugte Atheisten und Atheistinnen befragt haben und dort haben wir zum Beispiel gesehen, dass innerhalb dieser schon recht eng umgrenzten Gruppe schon sehr viel Unterschiedlichkeit herrscht, also vor allem bezüglich der Sinnorientierung. Wir haben dort welche gefunden, die sehr stark selbstbezogen gelebt haben, aber wenig Sinn in ihrem Leben gesehen haben, andere, die ganz breit aufgestellt waren und ganz andere Sinnquellen benannt haben. Und da möchten wir jetzt gerne weiter schauen, was es für Vielfalt gibt, in diesen Weltbildern, die wir in unserer Gesellschaft haben.
    Seelsorge für Menschen ohne Konfession
    Dittrich: Welche Sinnquellen, von denen Sie sprechen, könnten das denn sein?
    Schnell: Da haben wir ganz viele Möglichkeiten, wie wir in der empirischen Sinnforschung gesehen haben: Es gibt einerseits die Möglichkeit in sich selbst, in den eigenen Potenzialen und Stärken Sinn zu finden, das ist dann so etwas wie Leistung und Kreativität, aber Sinn entsteht eher dann, wenn wir zusätzlich auch Dinge tun, die nicht nur mit uns zu tun haben, das heißt einerseits in Beziehungen und in Gemeinschaft und andererseits auch in der Selbstüberschreitung, die eben auch horizontal geschehen kann, wie wir das nennen, innerhalb dieser Welt, durch soziales Engagement, Naturverbundenheit und so weiter.
    Dittrich: Welche Rolle spielt dann Spiritualität?
    Schnell: Spiritualität ist zunächst einmal ganz schwer zu definieren, wir haben Spiritualität als zentrales Merkmal von Religiosität, also eigentlich alle religiösen Menschen bezeichnen sich als spirituell auch, aber inzwischen gibt es auch viele Stimmen von konfessionsfreien Menschen, die sagen, naja, wir sind aber auch spirituell. Denn hier geht es darum, dass wir nicht reine Materie sind, dass Geistigkeit eine Rolle spielt, dass wir zum Beispiel die Welt in ihrer Komplexität und Schönheit wahrnehmen und da auch so etwas wie Ehrfurcht und Dankbarkeit wahrnehmen können.
    Dittrich: Jetzt machen Sie diese aktuelle Studie - das ist eine Vergleichsstudie in mehreren europäischen Ländern - erwarten Sie unterschiedliche Ergebnisse für die Länder, das sind Deutschland, Österreich, die Schweiz, Niederlande und Dänemark?
    Schnell: Das passt ganz gut zu dem Beitrag (über die Wissenskneipe), den wir gerade gehört haben. Denn auch Menschen, die keiner Konfession angehören sind froh, wenn sie zum Beispiel in Zeiten von Krankheit so etwas wie Seelsorge erhalten oder im Palliativbereich es Angebote gibt und auch im Bildungsbereich und all das ist schon viel selbstverständlicher in den Niederlanden und in Dänemark. In Deutschland kommt es langsam, in Österreich ist es noch ganz anders, von daher erwarten wir hier, dass wahrscheinlich Menschen, die konfessionsfrei leben sich auch in der Gesellschaft anders wahrnehmen, je nachdem wie stark sie gehört werden.
    Dittrich: Den Link zu dem Onlinefragebogen haben wir auch bei uns im Netz zur Verfügung gestellt, auf Deutschlandfunk.de/tag-fuer-tag, noch bis Ende Dezember kann man sich daran beteiligen. Wie stellen Sie eigentlich sicher, dass das tatsächlich überzeugte Konfessionslose und Atheisten sind, die dann daran teilnehmen?
    Schnell: Also teilnehmen darf eigentlich wirklich erstmal jeder, wir fragen natürlich dann, gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an und als wie spirituell oder religiös verstehen Sie sich. Und somit werden wir dann anhand der Daten sehen können, wer hier teilgenommen hat und die Menschen miteinander vergleichen können.
    Dittrich: Was denken Sie, wie viele Leute daran teilnehmen werden? Wie viele haben Sie schon im Säckchen?
    Schnell: Das geht ganz gut bisher, wir haben schon über tausend vollständige Fragebögen und wir hoffen, dass es noch einige hundert mehr werden.
    Atheisten melden sich zu Wort
    Dittrich: Sie haben das eben schon einmal beschrieben, dass das, was Sie machen ziemlich neu ist - die Einstellung von konfessionsfreien Menschen sind bislang kaum erforscht worden. Warum ist das so, woran liegt das?
    Schnell: Religion ist etwas, das man einem Menschen zuschreiben kann, das man untersuchen kann und wenn diese Religiosität nicht vorhanden ist, dann ging man lang davon aus, dass dann stattdessen auch nichts anderes da ist, aber in der letzten Zeit haben sich immer mehr Atheisten zu Wort gemeldet und gesagt, wir haben auch eine dezidierte Weltanschauung, wir haben eine Position, die ein Gegenentwurf oder eine Alternative darstellt zu dem religiösen Weltbild und dadurch ist es dann auch stärker in den Vordergrund gerückt, dass wir sehen, das ist nicht einfach nichts, konfessionsfrei zu leben, sondern dahinter stehen auch bestimmte Einstellungen und Werte, allerdings wissen wir noch nicht, wie sich die unterscheiden, je nach Organisation oder je nach Benennung auch und das ist das, was uns interessiert.
    Dittrich: Wenn wir über die multireligiöse Gesellschaft sprechen, gerade in diesen Zeiten, wo wir gerade in Deutschland, aber auch in Österreich erleben, dass viele Muslime zu uns kommen, welchen Platz könnten oder sollten da die Konfessionsfreien einnehmen?
    Schnell: Mir scheint, dass dadurch, dass viele Muslime, die ihren Glauben sehr überzeugt leben, auch in unserer Gesellschaft dieses Thema Religion nochmal anders ins Bewusstsein gekommen ist. Wir hatten uns in einer relativen Indifferenz eingerichtet, gedacht, wir glauben ja eh alle das gleiche, wir sind eine aufgeklärte Gesellschaft und jetzt kommen Menschen, die eine sehr überzeugte Religiosität leben, die dann auch das Christentum wieder herausfordern, sich zu positionieren und dadurch natürlich auch deutlich machen, für diejenigen, die dem Christentum nicht zustimmen können, sich auch zu verorten und zu sagen, also wir haben aber eine andere Meinung und die soll bitte auch gehört werden. Von daher wird durch diese Entwicklung glaube ich dieses Thema Weltanschauung nochmal ganz anders in die Gesellschaft gebracht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.