Dienstag, 19. März 2024

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Litauen und Russland
Seismographen des Moskauer Machtstrebens

Die russische Besatzung hat die Biografien vieler Litauer nachdrücklich geprägt. Zwei Schriftsteller haben sich dem schwierigen Verhältnis zum Nachbarn sehr direkt angenähert. Eugenijus Ališanka erzählt von seiner Familie während der sowjetischen Okkupation im Zweiten Weltkrieg. Laurynas Katkus schreibt über die gegenwärtigen litauisch-russischen Beziehungen.

Von Holger Heimann | 17.03.2017
    Blick auf das moderne Vilnius mit dem Europa Tower und dem Fluss Neris im Vordergrund.
    Blick auf das moderne Vilnius mit dem Europa Tower und dem Fluss Neris im Vordergrund. (imago/Westend61)
    Nur wenige Kilometer von Vilnius entfernt beginnt eine andere Welt. Das ländliche Litauen ist nur dünn besiedelt. Die Winterkälte ist hier noch schneidender, der Schnee liegt höher. Der Bus, der hinaus fährt zum kleinen Dorf Zabarija, bleibt mehr als einmal auf einer der schmalen, verschneiten Straßen fast liegen. Schließlich kommt das Dorf doch in Sicht, eine Streusiedlung.
    "Es gibt ein Gen, das fürs Reisen verantwortlich ist"
    Die weit auseinanderstehenden Häuser verschwinden hinter Bäumen und wirken wie kleine Dominosteine in der Weite der schneebedeckten Landschaft. In diese Abgeschiedenheit zieht sich der Dichter Eugenijus Ališanka gern zurück und lässt die betriebsame Hauptstadt weit hinter sich.
    Schwerpunktland 2017 der Leipziger Buchmesse ist Litauen. Hier der litauische Autor Eugenijus Alisanka. 
    Schwerpunktland 2017 der Leipziger Buchmesse ist Litauen. Hier der litauische Autor Eugenijus Alisanka. (imago/Christian Grube)
    Für ihn ist es der perfekte Ort zum Schreiben:
    "Ich bin froh, hierher kommen zu können, vor allem im Sommer, im Frühling und im Herbst. Ich bleibe dann so lange wie möglich hier. Ich schreibe und tue alles, was nötig ist. Selbst wenn ich nichts tue, fühlt es sich hier besser an, als an anderen Orten nichts zu tun. Es ist sehr merkwürdig. Ich versuche zu verstehen, warum das so ist. Es sind so viele Dinge. Wenn man im Sommer barfuß raus geht und das kalte Gras betritt, das ist einfach unvergleichlich."
    Das alte, einfache Landhaus ist voller Erinnerungsstücke: Muscheln, Decken, Masken, Messer und Steine. Ališanka hat sie mitgebracht aus Indonesien, Peru und von andernorts. An den Wänden hängen Fotos von weiteren Reisen. Der 57-Jährige ist gern und oft unterwegs. Seine Reiselust begründet der großgewachsene, schlanke Mann mit seiner biologischen Grundausstattung und meint jedes Wort ernst:
    "Mir geht es einfach besser, wenn ich reise. Man sieht Berge, Dschungel – Dinge, die es hier in Litauen nicht gibt. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass es ein Gen gibt, das fürs Reisen verantwortlich ist. Manche haben es, andere nicht."
    "Mein Sibirien ist durchzogen von tektonischen Brüchen der Erinnerung"
    Genauso gewiss aber ist wohl, dass der Weltensammler nach dem jahrelangen Eingesperrtsein in den Grenzen der Sowjetunion einfach viel nachzuholen hat. Sein aktueller Essayband "Risse" führt in die Schweiz und nach Kolumbien, vor allem aber zurück in die eigene Familiengeschichte. Als Sohn von Verbannten in Sibirien geboren kam er als Kleinkind nach Vilnius. Beide Großväter wurden Opfer des stalinistischen Terrors. In einem der Essays schreibt er:
    "Mein biografisches Sibirien ist nicht kleiner als das geografische. Nur sind seine Konturen weniger klar umrissen, mein Sibirien ist gleitend, durchzogen von tektonischen Brüchen der Erinnerung, bisweilen versinkt es wie ein Atlantis und bisweilen taucht es auf wie ein unbezwingbarer Fels."
    Ališankas biografische Nachforschungen wollen keine Geschichtsschreibung sein und werfen doch literarisch funkelnde Schlaglichter auf den sowjetischen Terror und das Leiden der Opfer.
    Skulpturen aus der Sowjetzeit in der litauischen Hauptstadt Vilnius.
    Skulpturen aus der Sowjetzeit in der litauischen Hauptstadt Vilnius. (imago/Hoch Zwei Stock/Angerer)
    "Ich war geschockt darüber, was uns angetan worden war"
    1940 besetzte die Rote Armee Litauen. Der Widerstand der einheimischen Bevölkerung wurde brutal niedergeschlagen. Zehntausende Litauer kamen nach Sibirien, wurden in Gefängnisse gesperrt und umgebracht. Die Familien von Ališankas Großeltern deportierten die Sowjets 1941. Ein Großvater wurde erschossen, der andere verhungerte:
    "Es ist ein Drama, vielleicht auch ein Trauma. Aber irgendwie müssen wir überleben. Als ich klein war, habe ich mich nicht um die Geschichte meiner Großeltern gekümmert. Obschon ich viel darüber hörte. Eine meiner Großmütter erzählte mir, dass ihr Mann in Sibirien erschossen worden war. Aber für mich war das Geschichte. Ich habe das nicht als so dramatisch angesehen. Aber als ich älter wurde, habe ich dann begonnen, mehr und anders über das Geschehene nachzudenken. Ich war geschockt darüber, was uns angetan worden war, und ich verstand, dass es wirklich ein großes Trauma war. Ich habe kleine Kinder auf den Knien ihrer Großväter sitzen sehen. Ich konnte das nie, in meinem ganzen Leben nicht."
    Die Gefahr von Besetzung und Vertreibung ist allgegenwärtig
    Die Eltern des Schriftstellers verleben ihre Kindheit in Sibirien. Sein Vater ist elf, die Mutter sieben als ihre Familien deportiert werden. Später wird ihnen gestattet, nach Barnaul, einer der größten Städte im Altai, umzusiedeln. Dort lernen sie sich kennen, dort kommt Eugenijus Ališanka zur Welt. Als er zwei Jahre alt ist, darf die Familie endlich in die alte Heimat zurückkehren.
    Bewegte Geschichte: Stadtansicht auf Vilnius, die größte Barockstadt nördlich der Alpen. 
    Bewegte Geschichte: Stadtansicht auf Vilnius, die größte Barockstadt nördlich der Alpen. (imago/Westend61)
    In Vilnius studiert Eugenijus Ališanka Mathematik. Zur Literatur kommt er erst später. Auf die eigene Familiengeschichte sieht er sich immer wieder zurückgeworfen.
    "Ich versuche zu verstehen, was mit meinen Eltern und mir geschah. Es ist ein sehr sensibles und vor allem auch gegenwärtiges, keineswegs bloß historisches Thema. Wir sehen uns derzeit einer Situation gegenüber, die vielleicht so gefährlich ist, wie die 50, 60, 70 Jahre zuvor. Dieses Gefühl entsteht sehr schnell. Ich erinnere mich, als Russland die Krim besetzte und der Krieg im Donbass begann, war ich gerade für einige Tage in Berlin. Ich traf auch meine Übersetzerin, Claudia Sinnig, und wir sprachen miteinander. Zu diesem Zeitpunkt sah alles sehr düster aus. Und plötzlich sagte sie: ‚Wenn etwas passiert, mein Haus steht dir offen.’ Mir kamen beinah die Tränen, und ich dachte, ja, es kann etwas geschehen."
    "Wir sind ein kleines Land, wir haben keinen großen Einfluss"
    Die Sorge der Litauer vor dem imperialen Machtstreben Moskaus hat insbesondere seit der Okkupation der Krim neue Nahrung bekommen. Zwar betonen die meisten in dem kleinen baltischen Land, das seit 1994 Mitglied der EU und der NATO ist, keine Angst vor Putins Russland zu haben.
    Flagge zeigen: Demonstration der NATO-Beistandspflicht in Vilnius.
    Flagge zeigen: Demonstration der NATO-Beistandspflicht in Vilnius. (EPA/Valda Kalnina)
    Aber die schwierige Beziehung zum großen Nachbarn weckt fast zwangsläufig Erinnerungen an die Zeit der sowjetischen Herrschaft. Es ist eine Art seismografisches Bewusstsein, das Ališanka beschreibt.
    "Wir haben diese Erfahrung. Deshalb ist es für mich so wichtig, meine eigene Geschichte und die meiner Familie anzuschauen, was mit meinen Großeltern, meinen Eltern geschah. Ich selbst wurde im Exil geboren. All das macht uns sensibler und aufmerksamer gegenüber den Dingen, die passieren. Und auch ein bisschen nervös. Wir sind ein kleines Land. Wir haben keinen großen Einfluss auf die geopolitische Gemengelage."
    Katkus: junger Autor mit starken Eindrücken
    Das sieht auch Laurynas Katkus so. Kaum ein anderer litauischer Autor setzt sich in seinen Texten so intensiv mit dem litauisch-russischen Verhältnis auseinander wie er. Der Dichter und Essayist hat in Leipzig und Berlin studiert und spricht fließend Deutsch.
    Laurynas Katkus fühlt sich litauisch und russisch beeinflusst: "Nachbarn und keine Todfeinde".
    Laurynas Katkus fühlt sich litauisch und russisch beeinflusst: "Nachbarn und keine Todfeinde". (imago/gezett)
    Er wohnt mit seiner Familie seit den 90er Jahren in einem der begehrteren Viertel von Vilnius, gleich neben dem großen Antakalnis Friedhof. Hier sind die Opfer des Vilniuser Blutsonntags begraben. Es sind diejenigen, die bei den Protesten für die Unabhängigkeit im Januar 1991 von russischen Panzern überrollt wurden.
    Aufgewachsen ist der 1972 geborene Autor jedoch in einem sowjetischen Plattenbau von Vilnius. Erfahrungen aus jener Zeit sind grundlegend für seinen Essay "Moskauer Pelmeni", der ein schmales Bändchen im Taschenformat füllt. Ausgehend von eigenen frühen Prägungen erkundet Katkus das besondere Verhältnis zwischen Litauern und Russen. Die autobiografischen Passagen zählen zu den stärksten des Textes:
    "Als wir mit 'historischen' Spielen anfingen, waren sie recht eigenwillig, wir spielten in jenem Vilniuser Hof in den 1970ern Kreuzritter, und sie kämpften nicht, wie man annehmen könnte, gegen die Litauer oder gegen die Pruzzen, sondern gegen die Russen."
    Aufwachsen im "Schatten von russischer und sowjetischer Kultur - was bleibt?"
    Die Schlacht mit Holzschwertern und mächtigen Schilden zwischen den zu Kreuzrittern mutierten litauischen Halbwüchsigen und ihren russischen Counterparts endete unentschieden.
    Katkus interpretiert in die kindliche Gegnerschaft nicht mehr hinein als es war – ein Spiel, aber eben eines mit klar verteilten Rollen. Seinen Essay sieht er als Versuch, unvoreingenommen auf die lange Geschichte der litauisch-russischen Beziehungen zu schauen.
    "Meine Generation, wir sind fast alle zweisprachig aufgewachsen. Das Russische hatte die Rolle, die heute das Englische hat. Das lag alles im Schatten von russischer und sowjetischer Kultur und der Politik dieses Staates. Und so habe ich mir die Frage gestellt, wie bin ich aufgewachsen damit, und was bleibt davon?"
    Litauen: Kathedrale in der Vilniusser Altstadt. 
    Litauen: Kathedrale St. Stanislaus, Vilnius (dpa/Daniel Kalker)
    "Identität besteht aus mehreren Teilen"
    Die Jahre, die Laurynas Katkus erlebt hat, waren nicht mehr geprägt vom Terror Stalins. Der Zweite Weltkrieg war ebenso Vergangenheit wie der fast zehnjährige Partisanenkampf der Litauer gegen die sowjetische Annexion. Katkus erinnert in seinem Essay vielmehr an eine gewisse Normalität. Russen und Litauer lebten gemeinsam im Land und teilten einen entbehrungsreichen Alltag. Sie waren Nachbarn und keine Todfeinde – gleichermaßen der Politik Moskaus unterworfen. Sein Essay ist auch ein Statement gegen eine grassierende Geschichtsvergessenheit:
    "Was ich kritisiere, ist ein primitives Entweder-oder-Denken: Gerade noch gehörten wir zur Sowjetunion, jetzt werden wir westlicher als die Westler. Das hat nichts zu tun mir der realen Geschichte, dass man in der russischen Sprache und Kultur auch aufgewachsen ist. Das ist nicht der Weg, den mein Land gehen sollte. Ich würde das als eine Kindheitskrankheit betrachten. Man muss erwachsen werden und verstehen, dass die Identität aus mehreren Teilen besteht."
    Katkus fordert die ehrliche Auseinandersetzung mit der Sowjetzeit
    Katkus vermisst eine ehrliche und offene Auseinandersetzung mit der Sowjetzeit. Entweder man schweige über die Periode oder sie werde ausschließlich negativ beschrieben, sagt er.
    Um die Unabhängigkeitsbestrebungen zu zerschlagen, wurde im Januar 1991 in Litauen das Militär eingesetzt. 13 Menschen kamen ums Leben.
    Proteste 1991 in Litauen. (picture alliance/AFP)
    Seine Essays haben nicht die vielschichtige Eleganz von Alisankas Nachforschungen. Laurynas Katkus formuliert direkter. Er mag die Zuspitzung und ein wenig auch die Provokation. In "Moskauer Pelmeni" schreibt er:
    "Alle Schuld an den Übeln der Vergangenheit und an den Problemen der Gegenwart wird dem Nachbarn in die Schuhe geschoben. Ungefähr so: wenn Russland nicht wäre, dann wäre Litauen heute ein Hybrid aus Kanada und Finnland."
    Die problematische Realität wird für Katkus in der Übertreibung kenntlich. Die Intention ist klar: Er will zu einer wirklichkeitsnäheren Sicht ermuntern. Seine Kritik richtet sich dabei vor allem an seine Landsleute.
    "Ich weiß nicht, ob ich solch ein hoffnungsvolles Ende schreiben würde"
    Doch was ist mit den Russen? In seinem Essay setzt er auf eine Veränderung der russischen Gesellschaft. Aber vielleicht hat er deren Reformwillen überschätzt. Ernüchtert räumt er zuletzt ein:
    "Diesen Text habe ich noch vor dem Ukraine-Krieg geschrieben. Es gibt am Ende eine Hoffnung, dass die dritte russische Republik kommen wird. Ich weiß nicht, wenn ich diesen Essay jetzt schreiben würde, ob ich solch ein hoffnungsvolles Ende schreiben würde."
    Eine neue Kultur des Miteinanders lässt weiter auf sich warten. Russland bleibt ein schwieriger und deswegen skeptisch betrachteter Nachbar. Die Essays von Eugenijus Ališanka und Laurynas Katkus, die beide Erzählung und Reflexion miteinander verbinden, spiegeln das komplizierte und wechselhafte Verhältnis zweier ungleicher Länder auf je eigene Weise präzise wider.
    Laurynas Katkus: "Moskauer Pelmeni"
    Übersetzt von Claudia Sinnig, Leipziger Literaturverlag, 116 Seiten, 12,95 Euro
    Eugenijus Ališanka: "Risse"
    Übersetzt von Claudia Sinnig, Klak Verlag, 206 Seiten, 16,90 Euro