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Lyrikerin Anne Carson
Ausgeliefert und vom Leben bedroht

Sie gilt in den USA und Kanada seit Jahren als eine der wichtigsten Dichterinnen. Anne Carson ist Professorin für klassische Philologie, geehrt mit den wichtigsten Auszeichnungen für Poesie. Nun gibt es gleich zwei Neuübersetzungen von ihr in deutscher Sprache.

Von Anja Kampmann | 17.02.2015
    "Wasserarten – Ein Versuch über den Jakobsweg" war der erste literarische Text von Anne Carson, der veröffentlicht wurde. Damals, 1987, erschien er im "Grand Street Journal", und seine Form, die unterschiedliche Textsorten miteinander verband, war ein Durchbruch für die Dichterin. Zu dieser Zeit hatte Anne Carson bereits in klassischer Philologie promoviert und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten.
    "Bislang hatte ich gedacht, ich müsse entweder Wissenschaft oder Fiktion schreiben. Aber Fiktion konnte ich nicht schreiben. Und so war ich froh, dass ich diese Form entdeckte," zitiert die Übersetzerin Marie Luise Knott die Dichterin in ihrem Nachwort.
    In der "Anthropologie des Wassers" sind drei tagebuchartig angelegte "Reisetexte" versammelt – ihnen gemein ist eine Bewegung; das Wandern über den Jakobsweg, eine Autofahrt durch den Mittleren Westen, das fiktive Tagebuch eines Schwimmers.
    "Zwei Gestalten auf der Meseta laufen langsam über eine Tafel aus Gold. Mit ausgestreckten Armen und offenen Mündern. Zwei kleine, ineinander verfangene Tiere heulen gen Finisterre."
    In der Beschreibung der Pilgerreise lässt Carson das Genre der Reiseliteratur weit hinter sich. Assoziationsnetze nennt Marie Luise Knott die Verfahrensweise, in der Zitate aus der japanischen No-Tradition, Landschaftsbeschreibungen und eine weitreichende Wasser-Metaphorik miteinander verbunden werden. Was die "Anthropologie des Wassers auszeichnet", ist jedoch vor allem die Dringlichkeit; die Autorin reist, um den Schmerz und die Ohnmacht zu überwinden, in die sie die Demenz ihres Vaters gestürzt hat.
    "Nie habe ich ein so nacktes Menschenwesen gesehen. Sein Gesicht das Gesicht eines Vogelkükens, in mildes Abendgrün gehüllt, von wildem Schrecken gerupft."
    Neben dem Verlust des Vaters durch die Demenz gibt es einen zweiten Motor für die Reisen, die sie mit Männern antritt, die sie nur El Cid oder den Kaiser nennt.
    "Liebe macht dich zum Anthropologen deines eigenen Lebens. Was sind das für Zeremonien, und warum überhaupt haben wir an ihnen Teil?"
    Begehren, Angst und Verlust
    Das Liebesverhältnis zu ihrem Begleiter beschreibt die Ich-Erzählerin in "Nur ein Rausch" distanziert. Während Ray Charles unentwegt aus dem Autoradio tönt, studiert sie den Chinaforscher, ihren ersten Liebhaber, auf der gemeinsamen Reise nach Westen. An keiner Stelle spricht sie dabei von einem "wir", die verschiedenen Blickweisen prallen ungebremst aufeinander.
    "Frauen verstehen nichts von Karten, ich habe noch nie eine Frau getroffen, die Karten lesen konnte", sagt der Kaiser. Nun, ich bin erst seit Kurzem eine Frau, also übe ich weiter. Karten ahmen Wirklichkeit nach, ähnlich wie Sex das Begehren. Mach mich zu deiner Schlampe, höre ich einen von uns mitten in finsteren Zeltnächten flüstern – wo finde ich eine Karte mit Wegen in jenes Land?" (72)
    Alltägliche Situationen spickt die Erzählerin mit Verweisen etwa mit Verweisen zu chinesischer Geschichte, Aristoteles, der Tuschemalerei oder Erinnerungen an ihren Vater. Bei aller Aufmerksamkeit für ihre Umwelt scheint sie aber dennoch getrennt von ihr zu bleiben:
    "Wie verschieden sind Herzen, die einander nicht ansehen, von Herzen, die einander nicht sehen." (87)
    Immer wieder beschreibt die Erzählerin sich so als grundallein oder kindheitseinsam.
    Das Augenmerk von Anne Carson richtet sich so ganz auf die Zuständlichkeit des Begehrens, der Angst, des Verlusts. Zustände sind wie Wasser, heißt es an einer Stelle, und dieses Wasser birgt auch die konkrete Gefahr, zu ertrinken.
    Im letzten Text des Bandes skizziert sie ihren Bruder als Schwimmer. Bereits im Vorwort macht Carson deutlich, dass er als Suchender auf jahrelange Reisen aufbrach, aber niemals wiederkehrte.
    In "Wasserränder" skizziert Carson diesen Schwimmer als jemanden, der in zwei Welten zuhause ist:
    "Mit jedem Armschlag wechselt der Schwimmer aus dem Lärm in die Unterwasserstille, in sein grünes, vergängliches Königreich aus Sehnsucht, Monotonie und Durchdringung der Leere." (121)
    Doch die Kraft, zu schwimmen, liegt gänzlich außerhalb von ihm selbst. "Einer hat es nicht in der Hand, ob er ertrinkt", heißt es. Und auch, wenn sich diese aus kurzen Prosastücken gefügten Texte einer letzten Lesart entziehen, zeichnet Carson sowohl ihren an Demenz erkrankten Vater, wie auch ihren verlorenen Bruder in dieser Wassermetaphorik als Ertrinkende. Die "Anthropologie des Wassers" ist so ein ungewöhnlich persönliches Buch der Dichterin, von Marie Luise Knott in einer großartigen Leistung und sehr nuanciert ins Deutsche übersetzt.
    Ganz anders "Decreation" - ein Buch, das Oper, Essay und Gedicht in sich vereint, neun Jahre nach der "Anthropologie des Wassers" erschienen. Nach den Gedichten "Stationen" am Anfang, in denen ein schlafloses Ich mit Bildern der vereinsamten Mutter ringt, die nachts wach liegt, in "einem kleinen heißen Zimmer, ihren lumineszierenden Rosenkranz zwischen den Fingern."
    Vor allem die langen Essays in diesem Band sind von einigem Gewicht: In ihnen schlägt Carson große Bögen durch die Literatur- und Geistesgeschichte, um nach dem zu suchen, was ihr zentrales Interesse ist; die Grenzerfahrungen zwischen Wachen und Schlaf, die Selbstentäußerung in der Leidenschaft, Momente, in denen der Mensch in der Lage ist, sein altes Ich hinter sich zu lassen, um einen Blick auf das zu erlangen, was Virginia Wolf das "Singen der wirklichen Welt" nannte. Auf Gegenstände, wie sie sich zeigen, vor den menschlichen Zuschreibungen.
    Stärker als in der "Anthropologie des Wassers" spielt Carson in "Decreation" Zitate ein, von Aristoteles über Homer, Kant und Keats, was sie selbst als "Gaunerei" bezeichnet, als "Aussaugen von einem Stück Orange, das einem nicht gehört". Es geht ihr jedoch vor allem um eine Dokumentationstechnik die den Leser elektrisieren und in Bewegung versetzen soll.
    Vor allem der titelgebende Essay "Decreation" ist eine eigentümliche Erkundung der Geisteswelt dreier Frauen, die Carson in der "Zone absoluten spirituellen Wagnisses" wähnt; Sappho, die erste unter ihnen, führt die Autorin zu der Frage, welches Wagnis die Liebe vom Selbst verlangt. Es sei dies das Wagnis, "sich selbst zurückzulassen, in die Armut einzutreten" so Carson.
    In der Mystikerin Margerete Porete, die 1310 bei Paris lebendig verbrannt wird, findet sie ein ähnliches Verlangen. Sie hatte in einem Buch die Stufen der Liebe zu Gott beschrieben, bis zur Auflösung der Seele in "ihr Nichts". Auch hier beschäftigt Carson das "Verlassen der eigenen Mitte" als aktiver Prozess. In Simone Weil begegnet ihr zudem eine Frau, die "sich selbst aus dem Weg schaffen wollte". Von ihr entlehnt sie den Begriff der Décréation, was als Prozess der "Rückschöpfung" übersetzt werden kann; Simone Weil will sich, Zitat, "aus ihrer eigenen Seele zurückziehen".
    Begehren nach Unmittelbarkeit
    Vom dichterischen Standpunkt ist dies gleich doppelt interessant; auch Simone Weil hat - ähnlich wie Virginia Woolf - die Sehnsucht, "eine Landschaft so zu sehen, wie sie ist, wenn ich nicht darin bin". Dieses Begehren nach Unmittelbarkeit, einem reinen Verstehen und dem Ende der Fremdheit, ist – mit Anne Carson- immer eng gebunden an die Liebe. Sie ist es, die einen Zusammenhang stiftet zwischen den einzelnen Momenten des Erlebens und einen Zugang verspricht zur Welt.
    "Einmal erzählte ich ihr von der Evolution – wie die Menschen zunächst keine Selbste hatten wie wir, (...) bis schließlich etwas kam, was die Teile zu ganzen Wesen vereinigte, und das war die Liebe", sagt der Insasse einer Nervenheilanstalt in einem früheren Stück des Bandes.
    In "Décréation" schafft der Essay die Voraussetzung für den szenischen Teil, eine Oper in drei Akten. Beides greift – nicht nahtlos, aber doch mit großem Zugewinn für den Leser, ineinander über. Allerdings muss die Übersetzerin wie in "Ode an den Schlaf" das Assoziationsnetz, das bei Carson oft um ein einziges Wort kreist, notwendig beschneiden. Insofern kann man Anja Utler, die viele gute Lösungen gefunden hat, diese Entscheidungen nicht vorhalten, kann sich aber dennoch - in einer so aufwendigen Ausgabe - den englischen Originaltext zur Hand wünschen.
    Dennoch erschließt sich in "Decreation" ein motivischer Gesamtzusammenhang, der auch zur "Anthropologie des Wassers" herzustellen ist. Der Versuch, "ein Selbst zurückzulassen, und das Leid gleich mit" wie es im ersten Band heißt, scheint an keiner Stelle zu gelingen. Stattdessen kann man mit Anne Carson vielleicht begreifen, wie tief man in diesem Leben steckt, wie ausgeliefert und vom Ertrinken bedroht auch die sind, die man liebt.
    Anne Carson
    "Anthropologie des Wassers", (Matthes und Seitz, Übersetzung Marie Luise Knott, 130 Seiten, 19,90 Euro
    "Decreation", Fischer Verlag, Übersetzung Anja Utler, 250 Seiten, 24,99 Euro