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Matthias Zschokkes neuer Roman
Liebevolles Ausbuchstabieren der einfachsten Dinge

Auch in seinem neuen Roman "Die Wolken waren groß und weiß und zogen da oben hin" schwelgt Matthias Zschokke wieder in seinen bitter-humorvollen Prosaelegien. Am Ende hält er für den Leser eine herrliche, wenn auch gänzlich unerwartete Liebeserklärung bereit.

Von Hubert Winkels |
    Der Schriftsteller Matthias Zschokke
    Der Schriftsteller Matthias Zschokke (dpa / picture alliance / Erwin Elsner)
    So viele große Worte, so viele große Gesten und soviel laute Entrüstung. Soviel Zukunft und soviel Aufschwung und Kampf und Verschlimmbesserung der Welt. Da kommt die Opossumratte Traudel gerade recht als Portalfigur des neuen Romans von Matthias Zschokke. Sie wissen schon, jenes berühmte schielende Opossum aus dem niederösterreichischen Tierpark, das erst rührend-grotesk in die Welt schaute, dann immer dicker und trauriger und schließlich so lebensmüde war, dass es eingeschläfert wurde. Es kommt an dritter Stelle im Buch. Zuerst ist da die lebensmüde Mutter, dann der lebensmüde Freund und schließlich lernen wir den Romanhelden Roman kennen, der beiden schreibt und seinerseits zumindest des aktiven Lebens überdrüssig ist.
    Die exquisite Schönheit dieses leise auftretenden Romans besteht im liebevollen Ausbuchstabieren der einfachsten Dinge und Handlungen, die noch bleiben, wenn das Große irgendwo da draußen in der politischen Welt sich selbst verbraucht. Diese Weltverneinung bringt die schönste Weltzärtlichkeit hervor, weil der Blick nicht kapitalisiert ist, also weder auf ein Ziel oder eine Mitte ausgerichtet.
    So bewegt sich Roman, der Held des Romans, im engen Kreis um seine Berliner Wohnung in täglichen Ritualen, die er gelegentlich mit kleinen Abweichungen versieht. Eine Sensation in diesem Universum, wenn er sich in einem Anfall von Veränderungsdruck statt einen Café Latte einmal einen Chai-Latte bestellt. Gelegentlich schreibt Roman Mails an seine suizidal gestimmten Lebensmenschen, die, wie das Opossum eben, bald auch dahinschwinden, decedere, wie der Lateiner sagt, dahingehen, die Mutter, zwei gute Bekannte; und der engste Freund sucht Rat, wie er es mit Kohlengrills und Klebeband zu einer schmerzfreien Kohlenmonoxidvergiftung bringt.
    Erinnerungen an Robert Walser und Buster Keaton
    Hier hilft Roman fürsorglich, wie auch der Roman uns Leser bei unserer Schwermut hilft. Angesichts des Endens werden die Dinge leichter, und man möchte eine Träne vergießen über die herzzerreißende Anstrengung des Lebens, sich immer neu zu behaupten. Des Lebens im Ganzen wohlgemerkt, denn auch die Tiere trauern ob der ewigen Vergeblichkeit der Anstrengung. Einige der schönsten Passagen des Romans gehören Enten, Ratten und Spinnen.
    Der zärtliche Epikureismus ist der Literatur Matthias Zschokkes schon seit seinem Erstling, dem Roman "Max" von 1982, eigen. Der seit Langem in Berlin heimische Schweizer ist selbstbewusst, aber bescheiden. Man könnte ihn weitere 40 Jahre so gut wie gar nicht wahrnehmen, er würde doch weiter seine bitter-humorvollen Prosaelegien leise singen. Wer die Ohren spitzt, wer hinzuhören willens ist, der kann allerdings auch seine blauen Wunder erleben, wenn eine soziale Härte sich in Bosheit verwandelt oder eine Hilflosigkeit sich ins Traurige steigert, aber ebenso oft ins Komische, meistens in beides.
    Man ist an Robert Walser erinnert, an Buster Keaton, man kann jetzt gerade an Jim Jarmuschs "Paterson" denken oder eben an die zwei Dutzend Werke, die Mathias Zschokke bereits veröffentlicht hat in knapp vier Jahrzehnten, darunter etliche Theaterstücke. Auch in seinem Roman der großen weißen Wolken ist ein Theaterstück enthalten: es umfasst das letzte Drittel des Buchs und zeigt - mit Honneurs an Botho Strauss und Thomas Bernhard - wie es war, als man Theaterstücke noch als literarische Texte hat lesen mögen. Und in dem Stück verbirgt sich als unerwartete Coda des Romans eine Liebeserklärung. An einen Menschen und also an das Leben! Und das hier bei Zschokke! Unglaublich! Wahnsinn! Herrlich! - Einer muss ja mal ein großes und lautes Wort über den tollen Prosadichter Zschokke verlieren. Sonst guckt am Ende schon wieder kein Schwein.
    Matthias Zschokke: "Die Wolken waren groß und weiß und zogen da oben hin" Roman, Wallstein Verlag, Göttingen. 219 Seiten, 19,90 Euro
    Hörtipp:
    Matthias Zschokke liest heute in der Lesezeit um 20:30 Uhr aus seinem Roman "Die Wolken waren groß und weiß und zogen da oben hin" (Teil 2 am 28.12.16)