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Medienberichterstattung
"Man präsentiert irgendwelche Pseudo-News"

Die Mediengesellschaft unserer Tage besitze eine offene Flanke, nämlich die Ungewissheit bei gleichzeitigem gefühltem Sofortsende-Zwang, sagte der Medienwissenschaftler Bernhard Pröksen im DLF. Es sei die Stunde der Experten, die aufträten und Deutungen und Interpretationen präsentierten. Das habe sich auch wieder bei den Ereignissen in München gezeigt.

Bernhard Pörksen im Gespräch mit Michael Köhler | 23.07.2016
    Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft
    Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft (picture alliance / ZB - Karlheinz Schindler)
    Michael Köhler: Selfmade News, die sind längst Teil unserer veränderten Öffentlichkeit. Jeder Smartphone-Benutzer wird zum Dokumentar, zum Reporter, oder kann es werden. Und rasch findet so was dann ins Netz, in soziale Medien und auch in die Nachrichten, und das kann hilfreich sein, es kann aber auch in die Irre führen, zu irritierenden Nebenöffentlichkeiten, einer Art fünfter Gewalt. Und das wirkt dann nicht mehr aufklärend, sondern eher vernebelnd. Gestern Abend konnten wir auch in Folge des Attentats im Münchner Olympia Einkaufszentrum unter anderem erleben, wie Falschmeldungen fehlerhafte Kommunikation zu einer leer gefegten Stadt führten, der Nahverkehr lahm lag, der Bahnhof still stand, Menschen flüchteten über Gleise, weil falsche oder zu viel Informationen kommuniziert wurde. Anders gesagt, weil vielleicht falsch und zu viel kommuniziert wurde.
    Den Tübinger Kommunikations- und Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, habe ich gefragt: Sind wir in der Erregungsgemeinschaft vielleicht leichter irritierbar? Kommt es durch eine Art Über-Informatisierung auch zu einer De-Souveränisierung?
    Bernhard Pörksen: Ich glaube, das kann man so sagen. In der Tat: Diese gestrige Ereignisfolge zeigt, dass es so eine Art nervöse Attentatserwartung, nervöse Terrorerwartung in dieser Gesellschaft gibt und dass wir natürlich in einer Medienwelt leben, die regiert wird von hoch elektrischen, hoch nervösen Wirkungsnetzen. Irgendetwas passiert und auf einmal stürzen sich alle darauf, man weiß noch gar nichts Genaues, und das ist das Dilemma eines solchen Amoklaufs oder auch das Dilemma eines Terrorattentats. Es geschieht aus dem Nichts, es versetzt Menschen in Angst und Schrecken, und dann beginnt sofort das Dauerkommunizieren, das Dauerreden darüber, fast so als sei es eine Art Abwehrzauber einer Kommunikations- und Mediengesellschaft, permanent zu sprechen, permanent zu reden, permanent zu interpretieren und zu deuten, als sei die Wiedergewinnung von Deutungshoheit schon gleichsam die Lösung des Problems. Das hat natürlich - auch das hat man gestern und heute gesehen - eigene Schäden erzeugt, Genauigkeitsschäden, sinnlos gestreute Gerüchte, Sofortdeutungen, Endlosschleifen der Spekulationen, wie eine Zeitung geschrieben hat.
    "Es entsteht so eine Art Informationsvakuum"
    Köhler: Sie sprechen von Abwehrzauber. Wir haben ja so etwas erlebt wie eine Art kommunikativen Ausnahmezustand. Da wurde stundenlang von drei Tätern mit Langwaffen und terroristischem Hintergrund geredet; in Wahrheit war es ein Täter mit Pistole ohne IS-Hintergrund, sondern vielleicht eine Amok-Jubiläumstat am fünften Jahrestag von Utoya. Wird gegenwärtig, auch wenn wir über den Tellerrand hinausgucken, der Ausnahmezustand zu einer Art erwartbarem Regelzustand?
    Pörksen: Ich glaube nicht. In der Tat: Wir erwarten den Ausnahmezustand, aber wir reagieren nicht mit gewissermaßen den notwendigsten Ritualen und Regeln, die vielleicht Gelassenheit stiften in einer solchen Extremsituation, oder Gelassenheit ist eigentlich das falsche Wort, im Moment des Abwartens, den man braucht, um zu verstehen und wirklich zu erkennen, was eigentlich passiert ist. Der Netzphilosoph Peter Glaser hat mal gesagt, Information ist wahnsinnig schnell, Wahrheit braucht aber Zeit, und genau so ist es. Genau so lässt sich dieses Geschehen gestern wieder doch ein wenig zumindest versuchsweise auf den Begriff bringen.
    Mir ist es das erste Mal aufgefallen bei der Germanwings-Flugkatastrophe, bei dieser Form des Amoklaufs, dass die Mediengesellschaft unserer Tage eigentlich eine offene Flanke besitzt, nämlich die Ungewissheit bei gleichzeitigem gefühltem Sofortsende-Zwang. Und auf diese Weise, in dieser Doppelheit entsteht so eine Art Informationsvakuum, ein Nachrichtenvakuum. Man präsentiert irgendwelche Pseudo-News, um überhaupt irgendetwas zu berichten, ein Faktizitätsvakuum. Man weiß gar nicht genau, was eigentlich passiert ist, will aber doch irgendwie wieder Gesichertes präsentieren. Ein Interpretationsvakuum, ja. Es ist die Stunde der Experten und der Pseudoexperten, die auftreten und nun Deutungen und Interpretationen liefern in einer Phase, in der man das noch gar nicht kann. Und natürlich auch ein Visualisierungsvakuum, auch das haben wir gestern und am heutigen Tag gesehen. Man hat keine Bilder oder man hat wenig Bilder und man greift womöglich auf Bilder des Schreckens zurück, bringt dann einen Toten auf dem Titelblatt, oder, wie das in sozialen Netzwerken geschehen ist, benutzt Bilder von ganz anderen Orten, um diese Stimmung des Alarms, diesen Extremismus der Erregung zu akzentuieren. Und auch wir, die wir jetzt miteinander reden, flüchten natürlich gleichsam auf die Metaebene, sind nicht Beobachter von einem besonderen Objektivitätsstatus, sondern formulieren unsere eigenen Ideen, unsere eigenen Vorstellungen, um mit diesem Schrecken irgendwie fertig zu werden.
    Polizeisprecher "hat sehr genau verstanden, wie diese Erregungsspiralen funktionieren"
    Köhler: Einer - den muss man herausheben - hat eine gute Figur gemacht. Das ist in den sozialen Netzwerken hervorgehoben worden und auch der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion Oppermann hat ihn ausdrücklich gelobt, viele andere, auch die Landesregierung. Das ist der Münchener Polizeisprecher. Der hat ganz geduldig zahllose Anfragen sehr sachlich, unaufgeregt, ganz unpolemisch beantwortet und hat die Kommunikation kanalisiert. Er hat so den heißen Dampf rausgenommen. Braucht es solche - ich flüchte jetzt mal in die sakrale Sphäre - mosaischen Figuren, die das bündeln und sagen, hier geht’s lang?
    Pörksen: Ich glaube, ja. Ich würde es nur nicht eine mosaische Figur nennen, sondern im Grunde genommen ist dieser Polizeisprecher ein Medienexperte neuen Typs. Er hat sehr genau verstanden, wie diese Erregungsspiralen funktionieren und wie diese Wirkungsnetze funktionieren und wie jeder unvorsichtige oder im Moment der inneren Aufregung gesagte Satz dann gleichsam explodiert. Ja, er hat begriffen, dass man eigentlich Tempo herausnehmen muss, dass es um die entschleunigte Deutung geht, und ich fand es interessant, das eine oder andere Interview mit ihm zu sehen. Er hat eigentlich ja metakommunikativ signalisiert: Ja Mensch, ich bin auch kein Prophet, was verlangt ihr eigentlich von mir! - Dieser Mensch hat die Mediengesellschaft unserer Tage und die Erregungsmechanismen, die regieren, sehr, sehr genau begriffen und insofern finde ich die Bewunderung, die ihm heute aus sozialen Netzwerken oder auch aus Zeitungen entgegenschlägt, vollkommen berechtigt.
    Pörksen: Kommunikation als eine Art schamanischer Abwehrzauber - der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen war das.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.