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Medizinische Versorgung in Syrien
"Normale Kinderkrankheiten sind ein riesengroßes Problem"

Etwa 250.000 Kinder leben in Syrien in belagerten Gebieten. Die gesundheitliche Versorgung dort ist zum Teil zusammengebrochen, sagte Bidjan Nashat von der Kinderhilfsorganisation "Save the Children" im DLF. Viele Kinder seien bereits an Hunger gestorben. Alle Parteien verstießen in dem Krieg gegen das Völkerrecht.

Bidjan Nashat im Gespräch mit Jochen Spengler |
    Zu sehen sind drei Kinder in einem Flüchtlingslager bei Baalbek im Libanon, die Luft ist wegen eines Sandsturms gelb.
    Die Lage der Flüchtlinge aus Syrien - hier drei Kinder im Libanon in einem Lager bei Baalbek. (AFP)
    Jochen Spengler: Am Telefon ist Bidjan Nashat, Vorstand bei der Kinderhilfsorganisation "Save the Children". Er war vor Kurzem im Nahen Osten, er hat Flüchtlingslager besucht und seine Organisation "Save the Children" hat viele Eltern und Kinder in Syrien befragt und heute einen umfangreichen Bericht vorgelegt unter der Überschrift "Kindheit in Trümmern. Leben und Sterben in den belagerten Gebieten Syriens".
    - Herr Nashat, Sie schreiben in Ihrem Bericht, die Kinder leben in einem Gefängnis unter freiem Himmel. Wie meinen Sie das? Wieso Gefängnis?
    Bidjan Nashat: Das ist eine Situation, die wir uns hier gar nicht vorstellen können. Die Kinder, und zwar ungefähr über 250.000 von ihnen in diesen verschiedenen, bis zu 18 belagerten Gebieten überall über Syrien verteilt, leben in Situationen, wo Konfliktparteien von außen jeglichen Zugang abgeschlossen haben. Das heißt, dass keine Nahrungsmittel reinkommen. Das heißt, dass die Gesundheitsversorgung zum Teil zusammengebrochen ist und natürlich auch ständige Gewalterfahrungen für die Kinder alltäglich sind.
    Spengler: Wie geht es denn diesen Kindern dann in Syrien, wenn Sie sagen ständige Gewalterfahrungen, vielleicht zunächst einmal materiell? Wenn man sich die Bilder der zertrümmerten Städte ansieht, wo leben die Kinder überhaupt? Leben die in den Trümmern?
    Nashat: Unerträgliche Situation für die Kinder
    Nashat: Zum Teil leben sie in den Trümmern. Wir haben Bilder bekommen von Schulen und Häusern, die zum Teil im Untergrund stattfinden. Sie leben zum Teil natürlich auch fast im Freien. Das ist eine unerträgliche Situation. Und hier breiten sich Krankheiten aus, die wir schon fast vergessen hatten. Einfachste Krankheiten werden zur Lebensgefahr. Und diese Kinder sind traumatisiert. Die Eltern und die Fokus-Gruppen, mit denen unsere Partner gesprochen haben, berichten davon, dass die Mehrzahl der Kinder langfristige Schäden schon mit sich trägt. Das bedeutet, dass sie verängstigt sind, nicht auf die Straße hinaus wollen, dass sie depressiv werden. Und dass sie zum Teil auch aggressiv sind, Krieg spielen, wie wir das aus anderen Konfliktregionen auch kennen.
    Spengler: Sie sagen, sie werden krank, Krankheiten, die wir schon fast vergessen hatten. Welche Krankheiten meinen Sie da?
    Nashat: Dadurch, dass es zum Teil ja auch keine Impfungen mehr geben kann, breiten sich Typhus aus, Polio hat sich ausgebreitet, aber auch ganz normale Krankheiten, die wir eigentlich hier innerhalb von einem Tag behandeln können, wie Fieber oder normale Kinderkrankheiten, sind in diesen belagerten Gebieten ein riesengroßes Problem. Zum Teil müssen die Ärzte ja mit Medikamenten arbeiten, wenn sie überhaupt noch welche haben, die lange abgelaufen sind in ihrer Wirkung und gar nicht mehr angewandt werden sollten.
    Spengler: Aber es gibt noch eine ärztliche Versorgung, oder gibt es die auch schon gar nicht mehr?
    Gezielte Angriffe auf Schulen, Krankenhäuser und zivile Gebäude
    Nashat: In Teilen gibt es keine ärztliche Versorgung. Die UN spricht ja davon, dass noch nicht mal zehn Prozent der Menschen gesundheitlich in diesen belagerten Gebieten im letzten Jahr versorgt werden konnten. Das ist eine schlimme Situation. Und es werden ja gezielt Schulen, Krankenhäuser und zivile Gebäude angegriffen. Und besonders bei den Krankenhäusern gibt es einfach perfide Angriffe, um genau diese Gesundheitsversorgung zu treffen.
    Spengler: Kann man sagen, wer da angreift? Sind das Milizen? Ist das das Assad-Regime? Sind das alle?
    Nashat: Alle Konfliktparteien handeln gegen das Völkerrecht. Und diese Kinder leiden tagtäglich unter diesen Bedingungen.
    Spengler: Gibt es Schätzungen, wie viele von den Kindern noch im Kreise ihrer Familie leben?
    Nashat: Das ist schwierig, einzuschätzen. Die meisten Kinder, diese 250.000, werden Familienmitglieder bei sich haben, aber die genauen Zahlen sind schwer einzuschätzen. Wir wissen natürlich aus den Flüchtlingslagern in und um Syrien herum, dass es Tausende Kinder gibt, die ohne die Familie unterkommen müssen und zum Teil von entfernten Verwandten oder dann von anderen Familien versorgt werden müssen.
    Spengler: Und wie sieht es aus mit Hunger?
    Nashat: Es gibt Fälle von Hunger. Die Fokus-Gruppen - und uns war ja wirklich wichtig, diese Familien selbst zu Wort kommen zu lassen, unter anderem auch die Kinder - berichten davon, dass sie in ihrem Umfeld, eine Mehrzahl berichtet, dass sie in ihrem Umfeld Kinder gesehen haben, die von gesundheitlichen Schäden gestorben sind und die auch unter Mangelernährung leiden. Und die Bilder aus Madaya vor einem Monat waren genau in diesem Hinblick ja sehr eindrücklich.
    Spengler: Es gibt bereits Hungertote?
    Nashat: Ja.
    Spengler: Wovor haben denn die Kinder am meisten Angst? Wissen Sie das?
    Nashat: Von den Kindern, mit denen wir sprechen konnten, hören wir, dass sie große Angst vor den Angriffen haben, vor den Fassbomben, vor der Situation, in der ihre Familien sind. Dass zum Beispiel ein Kind uns berichtet hat, es hat zugesehen, wie seine Mutter gestorben ist, weil die krankenhäusliche Versorgung nicht gewährleistet werden konnte bei einer behandelbaren Krankheit. Diese Beispiele führen wir in unserem Bericht auf, auch um zu verdeutlichen, dass bei all dem Fokus auf die Konfliktparteien und die internationale Gemeinschaft die Kinder und ihre Familien eigentlich im Mittelpunkt stehen sollten und ihre Stimme gehört werden muss.
    Spengler: Wenn Kinder, wenn Achtjährige, Siebenjährige so etwas erleben, was ändert das bei ihnen?
    Krieg hat langfristige Auswirkungen
    Nashat: Wir wissen, dass das langfristige Auswirkungen hat. Gewalterfahrungen wirken sich gesundheitlich aus, und zwar langfristig, und natürlich kann das auch dazu führen, dass aus Opfern irgendwann Täter werden. Und das ist eine ganz große Herausforderung für uns als Organisation, aber für alle, die in der Region tätig sind, dass wir diese verlorene Generation nicht zulassen, sondern alles tun, um das zu verhindern.
    Spengler: Spielen die syrischen Kinder noch? Lachen die noch?
    Nashat: Ich war vor zwei Wochen zwei Kilometer entfernt an der syrischen Grenze in einem Zelt, wo Kinder unterrichtet wurden, das erste Mal seit Jahren. Diese Kinder kamen aus Gota, aus einer der belagerten Gegenden, die schon seit 2012 belagert wird. Und ich finde es immer wieder beeindruckend, wie widerstandsfähig Kinder sind. Nach einem bisschen Unterricht und täglicher Routine und einem geschützten Raum sind diese Kinder motiviert, lachen, zeichnen und wollen lernen, lernen, lernen. Und das ist das, was wir in jedem dieser Flüchtlingslager hören.
    Spengler: Es besteht durchaus die Hoffnung, dass die Traumata irgendwann überwunden werden können, natürlich in einer anderen Situation. Wenn es derzeit, Herr Nashat, so etwas wie eine brüchige Waffenruhe in Syrien gibt, hilft das den Menschen? Spüren die und insbesondere die Kinder einen Unterschied zu vorher?
    Nashat: Jede Waffenruhe hilft. Aber was wir natürlich sehen ist, dass die Waffenruhe brüchig ist und dass die Hilfsleistungen, die wir in diese belagerten Gebiete unbedingt jetzt bringen sollen, dass diese nicht oder nur vereinzelt alle Menschen erreichen. Das heißt, sie werden entweder nicht zugelassen, es werden lebenswichtige Medikamente von den Konfliktparteien nicht durchgelassen. Und ganz gezielt werden diese humanitären Hilfsleistungen als Verhandlungsmasse eingesetzt. Das heißt, die Konfliktparteien setzen das auch als Waffe ein. Und das muss aufhören. Wir brauchen den dauerhaften Zugang und das Ende der Belagerung.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.