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„Scacco Matto“ von Lorenzo Senni
Zucker für die Ohren

Trance genießt keinen guten Ruf und galt lange als kitschig und banal. In den letzten Jahren hat das Genre allerdings eine Renaissance erfahren - auch dank dem italienischen Produzenten Lorenzo Senni, der Trance einen neuen Twist gibt.

Von Raphael Smarzoch | 25.04.2020
Der italienisch Produzent Lorenzo Senni steht vor einer besudelten Wand in einem Gebäude.
Dank dem italienischen Produzenten Lorenzo Senni ist Trance wieder im Trend (John Divola)
"This sound is sugar for our ears", so beschreibt der italienische Produzent Lorenzi Senni seinen Sound - als Zucker für unsere Ohren. Seine Tracks bestehen hauptsächlich aus Melodien, die zu Loops verarbeitet werden. Musikalische Schleifen, die permanent um sich herum kreisen, sich miteinander verschränken, um im nächsten Moment wieder auseinanderzudriften.
"Eine Melodie ist erst dann fertig, wenn ich sie mir stundenlang anhören kann, ohne mich zu langweilen", so Senni. Bezüge zur Minimal Music sind in seiner Musik nicht von der Hand zu weisen. Auch repetitive 8-Bit-Videogame-Soundtracks haben Senni beeinflusst. Experimentelle Computermusik hört man ebenfalls in den knallenden Stakkato-Rhythmen. Dennoch liegt die DNA von Lorenzo Sennis Musik in einem ganz anderen Genre: Im Trance.
Renaissance des Trance
"Als ich 2011 angefangen habe, war das Wort Trance, in dem Kontext, aus dem ich komme, aus dem Underground, etwas Verbotenes. Nein, benutze dieses Wort nicht! Ich habe sehr schlechte Rezensionen erhalten."

Mit dem Album "Quantum Jelly" löst Lorenzo Senni 2012 eine Renaissance des Genres in der experimentellen Clubmusik aus. Sein Einfluss auf Produzenten wie Rustie, Toxe oder Mechatok ist unbestritten. Namen, die in der Szene auch heute noch einen guten Ruf genießen. Immer wieder verarbeiten sie in ihren Tracks Einflüsse aus der Trance-Musik.
Doch auch darüber hinaus ist Trance dank Senni kein Schimpfwort mehr. Etwa in vielen Hip-Hop-Produktionen, zum Beispiel bei Rapper Chief Kief. Und auch der Produzent Antwood verarbeitet Trance-Melodien zu Hochgeschwindigkeitsstudien.
Spannungskurve als eigentlicher Höhepunkt
Auf "Quantum Jelly" ging Lorenzo Senni allerdings viel radikaler vor. Die Musik schien sich permanent auf einen Höhepunkt hin zu bewegen, der allerdings nie erreicht wurde. Eine Auflösung, der sogenannte Drop, blieb aus. Hinter dieser Vorgehensweise steckte eine interessante Idee:
"Ich habe entdeckt, dass der Aufbau zum Höhepunkt der aufregendste Teil bei Trance war, weil sich darin die Musik am freiesten ausdrücken konnte, innerhalb des Genres aber außerhalb seiner Regeln. Der Aufbau zum Höhepunkt ist frei gestaltbar. So nähert sich jeder diesem Aufbau auf seine bestimmte Weise."
Senni nimmt sozusagen die experimentellsten Elemente der Trance-Musik und baut sie in seinen Stücken aus, verlängert sie zu Kompositionen, die ewig weiterklingen könnten. Auf "Scacco Matto" übersetzt er diese musikalische Strategie in Songs. Die Stücke sind wesentlicher kürzer und haben einen stringenteren Aufbau. Plötzliche Veränderungen im Arrangement geben ihnen immer wieder unerwartete Wendungen.
Unendliches Warten, unendliche Vorfreude
"Wenn etwas wiederholt wird und für mich befriedigend ist, dann ist es am schönsten, es plötzlich brutal zu unterbrechen. Der folgende Teil muss aber stark genug sein, so dass er einem gefällt. Man darf das zuvor gehörte nicht vermissen."
Trotz dieser abrupten Kurzschlüsse bewegt sich die Musik nicht vorwärts. Sie dreht sich im Kreis. Beim Hören stellt sich immer wieder das Gefühl ein, auf etwas zu warten, das nicht eintreten wird. Dieses Gefühl des Wartens ist mit einer Vorfreude verbunden, die Lorenzo Senni mit dem Zustand des Verliebtseins assoziiert.
"Es fühlt sich an, wie eine Frau zu daten. Sie ruft am Donnerstag an und sagt, dass das Treffen am Freitag verschoben werden muss. Und Du denkst einfach nur: verdammt!"
Diese bittersüße Anekdote erklärt aber auch die melancholische Atmosphäre, die Lorenzo Sennis Klangexperimente durchzieht. Sie sind buchstäblich verlustbehaftet. In ihnen klingt die Sehnsucht nach einer Auflösung mit, die allerdings niemals eintreffen wird. Romantisch ist ein weiterer Begriff für diese ins Unendliche gehende Musik. Dazu passt auch das Cover-Artwork des Albums: Ein vom Abendrot durchzogener Himmel.