Samstag, 30. März 2024

Archiv


Michel Warschawski als scharfer Kritiker Scharons

Während in Deutschland die Kritik an der israelischen Politik aus geschichtlichen Gründen immer noch ziemlich heikel ist und sich in die Debatte darüber oft Untertöne schleichen, die mit der Sache nur bedingt zu tun haben, nehmen manche israelische Intellektuelle kein Blatt vor den Mund, wenn sie über die Scharon-Politik urteilen. Dafür werden sie in Israel oft als Vaterlandsverräter gescholten, die nur dem Judenhass in die Hände arbeiteten. Zu den scharfen Kritikern des Scharon Kurses zählt der in Jerusalem lebende und in Frankreich geborene Michel Warschawski. Er diskutiert sowohl in Israel als auch in Frankreich über Geschichte und Zukunft des Judenstaates und den Antisemitismusvorwurf in der Nahost-Debatte. Ruth Jung hat seine neusten in Frankreich und Deutschland erschienenen Bücher für uns gelesen:

Von Ruth Jung | 12.07.2004
    Tatsächlich sind die letzten fünfunddreißig Jahre ein langer Marsch auf der Grenze gewesen, oder vielmehr ein Marsch auf verschiedenen Grenzen zwischen dem Staat Israel und der arabisch-moslemischen Welt, zwischen Israelis und Palästinensern, aber auch zwischen Juden und Israelis, religiösen und säkularen, europäischen und orientalischen Juden. Grenzen, die sich schneiden und manchmal überlagern, die mehr oder weniger durchlässig, doch nie unüberwindlich sind.

    An der Grenze heißt der autobiographische Bericht eines Grenzaktivisten, der sich der Macht der Verhältnisse nicht beugen will. Zugleich legt der Autor Michael Warschawski, der in Frankreich mit zwei Preisen ausgezeichnet wurde, ein wichtiges Handbuch zur Geschichte der israelischen Gesellschaft vor. Innenansichten eines jüdischen Patrioten, der sich um den Schlaf gebracht sieht beim Gedanken an sein Land. So wie der deutsch-jüdische Patriot Heinrich Heine in Zeiten biedermeierlicher Friedhofsruhe. Auch Heines Kritik speiste sich aus Wut und Verzweiflung über die Zustände in dem Land, das er doch lieben wollte. Anders als Heine wählt der 1949 in Straßburg als Sohn eines Großrabbiners geborene Warschawski nicht das Exil, sondern bleibt bei seiner Entscheidung für eine Lebensweise als "Grenzgänger zwischen den Konfliktlinien" in Israel. Warschawski hat enge Verbindungen mit Frankreich, er schreibt auf französisch, doch eine Heimat als Jude wollte er in Israel finden. In Jerusalem, "der Grenzstadt schlechthin", wie er sagt. Dort lebt Michel Warschawski seit 1965 mit seiner Familie. Nach Jerusalem gezogen war er, um den Talmud zu studieren. Der Sechs-Tage-Krieg 1967 und der erwachende israelische Triumphalismus mit dem Vordringen rechtsgerichteter Ideologien, die schrittweise Konsolidierung eines nationalistischen Diskurses bis hin zur Gründung des rechten Likud-Blocks 1973 bewirkten eine radikale Politisierung des einstigen Talmudschülers und studierten Philosophen. Seit nunmehr fünfunddreißig Jahren kämpft Warschawski gemeinsam mit seiner Frau, der bekannten Menschenrechtlerin und Rechtsanwältin Lea Tsemel, mit israelischen und palästinensischen Weggefährten für einen gerechten Frieden im Nahen Osten.

    Der israelisch-arabische Frieden wird ein Frieden der Zusammenarbeit und Koexistenz sein, oder er wird nicht sein.

    Ein schlichter Satz; auf die Wirklichkeit übertragen bedeutet er alltäglich Leid und Tod. Denn von einem gerechten Frieden ist Israel weiter entfernt denn je zuvor. Die Vision einer israelisch-palästinensischen Koexistenz, schreibt der Historiker Moshe Zuckermann im Vorwort zu Warschawskis Buch, stelle sich ganz anders dar, wenn man aus konkreter Lebenswirklichkeit spreche. Genau das macht diesen Bericht so lesenswert. Warschawski handelt als überzeugter Sozialist; aktiv und mit dem Mut zum persönlichen Risiko streitet er für eine Humanitas, in der das Gattungswesen Mensch als soziales Wesen zu seinem Recht kommt. Dabei tritt er sehr bescheiden und unspektakulär auf: hier spricht kein heldenhafter Befreiungskämpfer. Dieser autobiographische Bericht, den man als Zwischenbilanz lesen sollte, verharrt nicht in der Rekonstruktion einer individuellen Lebensgeschichte, sondern eröffnet Einblicke in die historischen und gesellschaftlich-politischen Bedingtheiten der israelischen Gesellschaft, wie man sie hierzulande nicht kennt. Israel könne man nicht verstehen, ohne sich mit der Bedeutung der Kolonisierung und der Rolle des Pioniergeistes, von dem diese Gesellschaft durchdrungen ist, auseinander zu setzen. Grenze ist für Warschawski mehr als eine Metapher, mit Grenze verbinden sich frühe Erfahrungen: Rede über die Grenze heißt ein Kapitel, Reflexionen über Grenz-Identitäten tragen den Bericht, denn

    die Grenze ist ein zentraler Begriff im Leben eines jeden Israeli: sie ist ein prägendes Element, begrenzt unseren Horizont, dient als Demarkationslinie zwischen Bedrohung und Sicherheitsgefühl. In einem Land, das gleichzeitig Ghetto und belagerter Bunker ist, ist die Grenze allgegenwärtig.

    Grenze meint vor allem das gelebte Nein zum Zionismus als nationale Gemeinschaftsideologie, deren Voraussetzung das Konstrukt einer sozialen und politischen Homogenität der israelischen Gesellschaft ist. Nein zu den Kolonisatoren, die den Anderen nicht als Gleichgestellten akzeptieren, ihn ausgrenzen und das heißt rassistisch unterwerfen wollen. Warschawski argumentiert aus der Position des sozialistischen Internationalisten; er schloss sich der antizionistischen Mazpen-Bewegung an, die 1962 von Dissidenten der Kommunistischen Partei gegründet worden war, und wurde Herausgeber der gleichnamigen Monatszeitschrift. Den nationalistischen Links-Zionismus der Arbeitspartei kritisiert er ebenso scharf wie die rasant fortschreitende Entdemokratisierung der israelischen Gesellschaft:

    Während ich mich für einen Platz an jener Grenze entschieden habe, die Juden und Araber, Israelis und Palästinenser trennt, ist dasselbe undenkbar bei den Grenzen innerhalb der israelischen Gesellschaft, die sie in Israel und Judäa zerreißen und an denen sich das alte Israel der zionistischen Pioniere, von dem die westlichen oder verwestlichten Mittelschichten weiterhin träumen, und das nationalistisch-messianische, fundamentalistische Projekt der Ausgeschlossenen von gestern und heute gegenübersteht.

    Die außerordentliche Rolle der Armee als "Erzeuger des in einem Kolonialkrieg entstandenen Staates" und ihre Rolle als "Grenzschützer" – es kursiert das Wort, Israel sei kein Staat, der eine Armee hat, sondern eine Armee, die einen Staat hat -, macht sie zur sakrosankten Macht außerhalb parlamentarischer Kontrolle. Um so bedeutsamer sind Gehorsamsverweigerungen, wie jene 1982 von Warschawski mitbegründete Bewegung der sechshundert Reservisten, die sich weigerten in den Libanon einzumarschieren und eine Petition an die Militärführung richteten:Yesh Gvul, Es gibt eine Grenze

    die Grenze zwischen Israel und dem Libanon, die wir nicht überschreiten werden. Doch es hieß auch: Es gibt eine Grenze im Sinne von "es ist nicht alles erlaubt", das Ordnungsprinzip, die gesetzliche Macht in einer Gesellschaft, die formell als Demokratie organisiert ist, ist nicht absolut, und in manchen Fällen kann Ungehorsam zur Pflicht werden. Die Invasion in den Libanon war kein Selbstverteidigungskrieg, sondern eine Militäroperation mit dem Ziel, die palästinensische Nationalbewegung zu zerschlagen.

    Drei Mal bezahlte der Reservist Warschawski seine Weigerung, die Grenze zum Libanon zu überschreiten mit Militärgefängnis. Wer sich für die Verweigerung entschieden habe und gegen einen ungerechten und verlogenen Kolonialkrieg sei, müsse diese Verweigerung immer wieder politisch erklären. Die israelische Gesellschaft, in zionistischem Nationalismus und Messianismus erstarrt, habe zugelassen, dass rechtsradikale Hardliner von faschistischen Grundtönen getragene Diskurse entwickeln konnten, diese Gesellschaft habe sich gegen jede Kritik und einen rationalen Diskurs immunisiert

    So glaubte ich zugegeben naiv, der dritte Teil des Buches nach Wüste und Breschen würde Neue Horizonte heißen und den kurz bevorstehenden Fall jener Mauer beschreiben, die die Einwohner dieses Landes in zwei verfeindete Lager spaltet. Die Vision einer Zukunft in Koexistenz, Solidarität und Zusammenarbeit, die unsere Kämpfe in den letzten drei Jahrzehnten motiviert hat, schien Gestalt anzunehmen. Ein riesiger Irrtum. Die Wahl von Ariel Scharon 2001 ist die politische Entscheidung einer Gesellschaft, die unfähig ist, sich von ihrer Kolonialgeschichte und deren illegalen Praktiken und Expansionsdynamik zu verabschieden.

    "Wir müssen diese Wilden ausrotten", ließ sich Ariel Scharon nach Beginn der Zweiten Intifada vernehmen. Der Oberbefehlshaber der Invasion im Libanon und mitverantwortlich für die Massaker in den Flüchtlingslagern Sabra und Shatila regiert seit Februar 2001 ein Land, das, so Warschawski in seinem neuen auf französisch vorliegenden Buch geradewegs in seinen Untergang steuere: À tombeau ouvert. Eine Redewendung, die soviel meint wie In tödlicher Raserei blindlings drauflos.
    Warschawski geht es um Gegeninformationen - er vertritt das 1984 von ihm mitgegründete Alternative Informationscenter im Weltsozialforum - es geht ihm um die Verbreitung unterdrückter Nachrichten und in diesem Sinne um Aufklärung. Er analysiert das soziale und politische Kräftespiel, verfolgt den Konstituierungsprozess des Bündnisses zwischen der politischen Rechten und den religiösen Integristen. Die Ermordung von Yitzhak Rabin 1995, die darauf folgende Politik der "nationalen Versöhnung" von Shimon Peres und schließlich die Wahl Benjamin Netanyahus seien nur Manifestationen dessen, was sich seit Ende der 70er Jahre latent herausgebildet habe. Warschawskis Engagement gilt Israel und dem Aufbau einer Demokratie, die diesen Namen verdient:

    Israelischen Intellektuellen und der Linken in Israel wirft Warschawski politische Feigheit vor; eine Haltung, die auch bei Intellektuellen in Frankreich auszumachen ist. Und wer es wagt, Kritik an der israelischen Besatzungspolitik zu üben, muss damit rechnen, als Antisemit angeklagt zu werden. Mit der Keule des Antisemitismusvorwurfs schlagen Pariser Mediengrößen wie Alain Finkelkraut, Alexandre Adler und andere in tödlicher Raserei blindlings auf linke Intellektuelle ein. Unter dem Applaus des Vorsitzenden des Jüdischen Zentralrats, des Scharon-Parteigängers Roger Cuikerman, dessen aggressive Verlautbarungen die Grenze des Tolerierbaren längst überschritten haben. Eine Prozesslawine gegen renommierte Wissenschaftler, Journalisten und globalisierungskritische Aktivisten beschäftigt derzeit die Gerichte. Dem Einhalt zu gebieten, bemühen sich neun namhafte Autoren des Sammelbandes Antisémitisme: l’intolerable chantage. Der "nicht hinnehmbaren Erpressung" und der unverantwortlichen Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs vor dem Hintergrund einer realen Gefahr durch anwachsenden Rassismus und Rechtsradikalismus treten Etienne Balibar, Rony Braumann, Denis Sieffert, Michel Warschawski und andere entgegen und demontieren die Scheinargumente und propagandistischen Anschuldigungen. Michel Warschawski analysiert in seinem Aufsatz Der Zyniker, der Paranoiker und der Provokateur , wie die "Okkupation des medialen Terrains" in Frankreich nach dem Amtsantritt Scharons durch den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Cuikerman und namhafte Intellektuelle gezielt befördert zur politischen Kampagne gegen die Linke ausgeweitet wurde. "Es ist höchste Zeit zur Gegenattacke", schreibt Warschawski, denn gerade Frankreich mit seiner größten Jüdischen Gemeinde Europas sollte eigentlich einen andere Rolle haben und "Breschen schlagen"

    Sich mit allen Mitteln der Schließung der Breschen zu widersetzen, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte geöffnet hatten, um die Wiederherstellung eines Stammeskonsens zu verhindern, in dem jeder kritische Gedanke erstickt und jede Möglichkeit der Infragestellung verschwunden ist.

    Ruth Jung besprach folgende Bücher von Michel Warschawski: An der Grenze und Mit Höllentempo. Die Krise der israelischen Gesellschaft, beide aus der Edition Nautilus . Das eine kostet 19.90 Euro, das andere 9.90 Euro. Letzteres erscheint erst im August auf deutsch, ist aber bereits in Frankreich unter dem Titel: Á tombeau ouvert bei La fabrique Editions erschienen. Dort kostet es 13 Euro.
    Der von Etienne Balibar und Warschawski herausgegebene Sammelband Antisémitisme: l’intolérable chantage ist bei La Découverte in Paris erschienen, hat 130 Seiten und kostet 7.50 Euro.