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Missbrauchsvorwürfe im US-Sport
Die Spitze eines Eisbergs

Das amerikanische NOK will angesichts der Epidemie des sexuellen Missbrauchs von Trainern eine Agentur einrichten, die das Problem attackieren soll. Doch plötzlich fehlt das Geld. Nun wurde der Verdacht laut, dass die Ankündigung nur eine PR-Maßnahme war, um das Image der Funktionäre zu schützen, die seit Jahren das Problem vertuschen.

Von Jürgen Kalwa |
    Ein Trainer und eine Spielerin beim Fußballtraining
    Ein Trainer und eine Spielerin beim Fußballtraining (afp / Patrik Stollarz)
    Es gibt nur wenige junge Sportlerinnen, die irgendwann den Mut aufbringen und ihre Erlebnisse schildern. So wie die Australierin Julie Gilbert, die im Juli vor einer Regierungskommission im Bundesstaat Queensland mit tränenerstickter Stimme ihre Geschichte erzählte. "Sexual abuse that occurs to a person as a child goes on to effect them for the rest of their lives."
    Sexueller Missbrauch junger Mädchen im Sport: Wenn es sich nur um Einzelfälle handeln würde, wären solche staatlichen Untersuchungen vermutlich nicht notwendig. Tatsächlich zeigte sich in den letzten Jahren in vielen Ländern, wie weit verbreitet das Verhalten von Trainern ist, ihre Machtposition im Umgang mit Schutzbefohlenen auszunutzen. Und wie schlecht Verbände reagieren, wenn sie mit den Vorwürfen konfrontiert werden.
    "Former Kokomo High School swimming coach faces federal charges tonight. Police arrested Brian Hanson after they say... charges of producing child pornography. The former swim coach will plead guilty to child porn charges."
    Der amerikanische Schwimmverband handelt Anschuldigungen hinter verschlossenen Türen ab. Und seine Vertreter neigen dazu, die Missbrauchsepidemie abzuwiegeln. Auf diese Weise schützt man hauptsächlich die Täter. Nicht die Opfer.
    Angesichts dessen gab das Nationale Olympische Komitee in Colorado Springs im Juni bekannt, dass man die Probleme endlich ernsthaft und ganz anders anpacken will. Es wurde die Gründung einer speziellen und unabhängigen Missbrauchsagentur angekündigt – nach dem Vorbild von Anti-Doping-Agenturen.
    Starkapital fehlt
    Die soll eigentlich im nächsten Jahr ihre Arbeit aufnehmen. Es gibt da allerdings ein Problem. Gebraucht werden 15 Millionen Dollar als Startkapital, um das Projekt für einige Jahre finanziell abzusichern. Doch soviel Geld scheint man auf einmal nicht mehr auftreiben zu können, wie Scott Blackmun, der Chef des NOK, vor ein paar Wochen zugab.
    Das Eingeständnis klänge weniger dubios, wenn es da nicht den Fall des langjährigen Schwimmverbands-Geschäftsführers Chuck Wielgus gäbe. Der hatte im Frühsommer seine Nominierung für die Swimming Hall of Fame in Fort Lauderdale zurückgezogen, nachdem er erneut in die Schusslinie geriet. Eine Petition von Missbrauchsopfern listete eine ganze Reihe von Fehlleistungen des Funktionärs auf.
    Wielgus hatte zum Beispiel lange so getan, als habe er mit der Handhabe der vielen Fälle rein gar nichts zu tun. Als ihn ein Fernsehreporter des Senders ESPN 2010 zu einem Trainer befragte, der später zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, sagte er: "Es fällt schwer, mit dem Finger auf die Opfer zu zeigen. Aber sie müssen diese Verbrechen melden."
    Von diesem Andy King zum Beispiel habe er bis 2009 nie etwas gehört. "Eine platte Lüge", sagt der kalifornische Rechtsanwalt Robert Allard, der eine Reihe von ehemaligen Schwimmerinnen vertritt.
    "Wir haben entdeckt, dass er in zwei Fällen, die 2002 und 2003 auf seinem Tisch landeten, aktiv daran beteiligt war, Missbrauchsvorwürfe zu vertuschen. Man möge das vertraulich behandeln, lautete seine Anweisung. Er hat also nicht nur gelogen, sondern auch versucht zu verschleiern."
    Allard war denn auch nicht überrascht, als er erfuhr, dass das NOK die Missbrauchsagentur womöglich gar nicht finanziert bekommt. Die Ankündigung hielt er von Anfang an für einen reinen Public-Relations-Schachzug.
    Engagement nur vorgetäuscht?
    "Scott Blackmun und Chuck Wielgus sind seit Jahren befreundet. Sie sind Mitglieder im selben Golfclub. Da ist ein Freund dem anderen beigesprungen." (Anmerkung der Redaktion: Auf Wunsch von Herrn Allard wurde diese Passage gekürzt, da sie eine nicht korrekte Angabe enthielt.)
    Ob es die Missbrauchsagentur geben wird oder nicht, beeinflusst Allards Tätigkeit übrigens nicht. Er konzentriert sich weiterhin darauf, die Vergangenheit aufzuarbeiten – vor allem das Verhalten des Schwimmverbandes und seiner Funktionäre.
    Zum ersten Mal könnte dabei auch die Rolle von Travis Tygart thematisiert werden. Der Chef der Anti-Dopingagentur USADA, berühmt für seine hartnäckige Haltung beim Aufdecken der Dopingkarriere von Lance Armstrong, war einst Anwalt des Schwimmverbandes. Auch in Fällen von sexuellem Missbrauch. Bis heute ungeklärt: ein Sachverhalt, mit dem er offensichtlich betraut war – die lebenslängliche Sperre eines in Florida tätigen, venezolanischen Trainers. Die Entscheidung von 2001 wurde nie öffentlich bekanntgegeben. Nicht mal, nachdem der Coach flüchtete, als er wegen dieser sexuellen Missgriffe angeklagt worden war.
    Er heißt Danny Chocron, lebt heute in seinem Heimatland, wo er unbehelligt blieb und ist Namenspatron eines Schwimmwettbewerbs, bei dem Kinder und Jugendliche an den Start gehen.
    Travis Tygart hat bislang keinerlei Interesse gezeigt, sich zu seinem Part zu äußern. Was vor allem deshalb kurios ist: Er ist Absolvent desselben Internats in Florida, an dem Chocron damals als Trainer arbeitete.