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Moacyr Scliar
Magischer Realismus trifft jüdische Fabulierlust

Bei uns kennen ihn bislang nur wenige: den 1937 in Brasilien als Sohn jüdischer Einwanderer geborenen Moacyr Scliar. Mit den beiden vor Kurzem auf Deutsch erschienenen Büchern "Der Zentaur im Garten" und "Kafkas Leoparden" ist der begnadete Romancier wiederzuentdecken.

Von Jan Koneffke |
    Der Autor Moacyr Scliar spricht am 01.10.2008 in Caxias do Sul, Brasilien.
    Der 2011 verstorbene Schriftsteller Moacyr Scliar. (CPFL Cultura / dpa )
    In einem Interview vor zehn Jahren bekannte der 2011 verstorbene Moacyr Scliar:
    "Zu Hause sprichst du Jiddisch, isst du Gefilte Fisch und feierst Sabbat. Aber auf der Straße hast du Fußball, Samba und Portugiesisch. Nach einer Weile kommst du dir vor wie ein Zentaur."
    "Der Zentaur im Garten"
    Mit dieser Schilderung einer kulturellen Identität, die er stets als doppelte erfuhr, liefert der brasilianische Autor auch einen Hinweis zur Deutung seiner überaus phantasiereichen, geradezu phantastischen Geschichte, den bereits 1980 in Brasilien erschienenen Roman "Der Zentaur im Garten". Dass er sich mit diesem Werk eine erzählerische Metapher für autobiographische Erfahrungen einer schwierigen Identität schuf, dürfte dem Leser auch ohne jeden Metatext aufgehen, selbst wenn er von der so hin- wie mitreißenden Handlung völlig absorbiert sein sollte. Denn Scliar ist ein Erzähler, wie er "im Buche" steht.
    So unwahrscheinlich es auch klingen mag, nie kommen dem Leser Zweifel am Schicksal Guadeli Tartakovskys, der 1935 als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer am Rande des brasilianischen Urwalds das Licht der Welt erblickt. Dass Guadeli von Geburt an ein Zentaur, also halb Mensch und halb Pferd, ist, nimmt man ihm auch deshalb ab, weil er von allem, was ihm widerfährt, in der schönsten Natürlichkeit spricht, beginnend mit seiner Missgestalt, dem mythologisch vertrauten Körper, der als physischer Doppelleib völlig plausibel wirkt. Ganz abgesehen von der Schilderung der Folgen, die es haben muss, wenn man als junger Zentaur in einer jüdischen, das Kind zärtlich und gluckenhaft umhegenden Familie heranwächst, die genug europäische Erfahrung von Ausgrenzung und Verfolgung mitgebracht hat, als dass sie die kleine Missgeburt preisgeben würde. Wie also kann man den Jungen beschneiden lassen, ohne einen Skandal auszulösen? Wie soll der Zentaur lernen, wo er doch nicht in die Schule gehen kann? Was passiert mit ihm, wenn er in die Pubertät kommt und sich seine Libido bemerkbar macht?
    Im Laufe der rasanten Geschichte ziehen die Eltern von dem nur unter Mühen urbar zu machenden Urwaldrand in einen Vorort von Porto Alegre, wo der Junge, vor den Nachbarn gut versteckt, das Fernstudium aufnimmt. Doch trotz familiärer Zuneigung und Geborgenheit möchte er Welt und Liebe kennenlernen.
    "Dieser Galopp. Dieser Galopp in dunkler Nacht, über das flache Land, über Sümpfe, in denen sich ein bleicher Mond spiegelt. Heute denke ich voller Sehnsucht an die Zeiten, als ich ungehindert galoppieren konnte."
    Zermürbendes Anderssein
    Guadeli erreicht einen Zirkus, wo er sich als zum Zentauren verkleidetes Bruderpaar ausgibt und beachtliche Erfolge feiert, bis er eines Nachts von der liebeshungrigen Dompteuse in den Wohnwagen abgeschleppt wird, wo er sich als "echtes" Pferd erweist. In die Flucht geschlagen, stößt er zufällig auf eine andere Zentaurin, die junge Tita, mit der er nun seine Liebe leben kann. Doch das Versteckspiel vor der Welt, das ewige Anderssein, zermürbt beide so sehr, dass sie, von Titas reicher Ziehmutter mit dem nötigen Geld ausgestattet, im Bauch eines Schiffes nach Marokko reisen, wo sie sich in die Hände eines marokkanischen Chirurgen begeben, der "in keiner Weise vertrauenerweckend" wirkt.
    Selbst auf diesem Spannungshöhepunkt des Buches – nur einem von vielen – schaffen es der in der ersten Person erzählende Guadeli (und sein Erfinder) die Verwandlung des Pferdmenschen in einen fast normalen Menschen plausibel erscheinen zu lassen. Schon wundert einen gar nichts mehr:
    "Soviel ich verstand, hatte der Chirurg beim Eingriff doppelte Organe vorgefunden, sodass er den gesamten zum Pferd gehörigen Teil (mit Ausnahme der Vorderbeine) risikolos entfernen konnte."
    Für diese Vorderbeine wiederum müssen Spezialschuhe angefertigt werden und ihre beiden Besitzer erst einmal mühsam das menschliche Laufen auf zwei Beinen erlernen, ehe sie in die Heimat zurückkehren können.
    Doch bleiben die einstmals halben Pferde weiterhin nur halbe Menschen. Auch dass sich nach und nach das Fell von den Beinen löst, die verbliebenen Hufe aufplatzen und menschliche Füße freigeben, ja, Tita zwei völlig normale Zwillinge zur Welt bringt, ändert daran nichts. Mit erzählerischer Anmut, die auf psychologische Deutungen verzichtet, zeigt Moacyr Scliar eindringlich, dass Identität wesentlich mehr als nur ein Ding der äußeren Erscheinung ist. In ihren Träumen galoppieren Tita und Guadeli noch immer lustvoll über das flache Land. Ihre Identität mochte eine doppelte gewesen sein, war aber auch doppelt so reich. Wer sollte also dem inzwischen erfolgreichen Geschäftsmann Guadeli den jähen Wunsch verdenken, sich wieder in einen Zentaur "zurückoperieren" zu lassen?
    Doch wieder in Marokko trifft er nicht nur auf einen mittlerweile alten Chirurgen mit zitternden Händen, der zunächst nur entsetzt auf seine Idee reagiert, er möge ihm einen Pferdekörper transplantieren, sondern auch auf eine rätselhafte Sphinx, eine Löwin mit Menschenkopf und Frauenbrüsten. Denn dass einem genuinen Erzähler vom Range Moacyr Scliars die überraschenden Ideen ausgingen, ist völlig ausgeschlossen.
    Es geschieht übrigens während dieses zweiten marokkanischen Aufenthalts, dass die Erzählung einmal schlaglichtartig über sich selbst Auskunft zu geben scheint, selbst wenn die Reflexion ins Geschehen integriert bleibt:
    "Hatte ich mich in Metaphern ausgedrückt? Auch Metaphern können im Ernst ausgesprochen werden."
    "Kafkas Leoparden"
    Nicht anders verhält es sich mit Scliars vergnügt galoppierendem Roman, diesem Zentaur zwischen Märchen und Parabel: Er spricht zwar in Metaphern, doch ist es ihm ganz und gar ernst damit.
    So ernst, wie es auch Kafka mit seiner Parabel um die "Leoparden im Tempel" war, dem Motiv eines anderen (Kurz)Romans Moacyr Scliars mit dem Titel: "Kafkas Leoparden". Aus Kafkas kryptischem Text, der aus nur einem Satz besteht, versucht Onkel Rathino, angeblich im Auftrage Trotzkis, bei seinem Aufenthalt in Prag während des Ersten Weltkriegs, verzweifelt den revolutionär-verschwörerischen Inhalt zu dechiffrieren. Umsonst, versteht sich.
    Doch gibt Moacyr Scliar mit diesem Buch nicht nur Auskunft über seine dritte, politische Identität, der eines Mannes der Linken, über deren Irrungen und Wirrungen er mit ebenso großer Leichtigkeit und Weisheit zu schreiben vermag, sondern auch über den tiefen Ernst der Metapher selbst. Denn, wie der Übersetzer Michael Kegler in seinem Nachwort zu "Kafkas Leopoarden" schön formuliert: "Am Ende entscheidet tatsächlich ein Text über Leben und Tod."
    Moacyr Scliar: Der Zentaur im Garten.
    Roman. Aus dem Portugiesischem von Karin von Schweder-Schreiner. Hoffmann und Campe, Hamburg 2013, 286 Seiten, 19,99 Euro

    Moacyr Scliar: Kafkas Leoparden.
    Roman. Aus dem brasilianischen Portugiesisch und mit einem Nachwort von Michael Kegler
    Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2013, 132 Seiten, 18,90 Euro