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"Mörderische Huren" von Roberto Bolaño
Spannende Erzählungen aus Chile

Mindestens so deutlich wie mit seinen Romanen verfolgt der Chilene Roberto Bolaño mit seinen Kurzgeschichten das Ziel, Tabus zu brechen. Tabubruch ist das Band, das die 13 Erzählungen des Buches "Mörderische Huren" eint. Für die meisten Chilenen, die bis zum rechten Militärputsch von 1973 auf ein sozialistisches Chile gesetzt und danach die Diktatur Augusto Pinochets bekämpft hatten, bricht ein Tabu, wer Pablo Neruda angreift.

Von Eva Karnofsky | 02.06.2015
    Bis heute wird der nur zwei Wochen nach dem Putsch verstorbene Pablo Neruda in Chile und ganz Lateinamerika als großer Lyriker verehrt. In der Erzählung mit dem Titel "Tanzkarte" geht Bolaño dieser Verehrung zum Trotz hart mit seinem weltberühmten Landsmann ins Gericht:
    "Wenn unsere Namen schon niemandem mehr etwas sagen, wird sein Name leuchten, wird weiter über einer imaginären Literatur, der sogenannten chilenischen Literatur schweben. (...) Dann werden alle Dichter in Künstlerkommunen leben, Kerker oder Irrenhäuser genannt."
    Die Kurzgeschichte "Tanzkarte" enthält darüber hinaus einige autobiografische Anekdoten. Bolaño erzählt darin in der Ich-Form von der Verehrung seiner Mutter für Pablo Neruda, aber auch von seiner eigenen kurzen Verhaftung nach dem Putsch. Und er macht sich über die chilenischen Gegenwartsdichter ebenso lustig wie über die Angewohnheit der chilenischen Intellektuellen, in jedem beliebigen jungen Lyriker gleich den Schüler und Nachfolger eines bekannten Dichters des vergangenen Jahrhunderts zu sehen. Neben Neruda nennt er Vicente Huidobro, Gabriela Mistral, Pablo de Rokha, Nícanor Parra und Enrique Lihn:
    "Tanzpartner der jungen chilenischen Dichtung: die Nerudianer in der Geometrie mit den Huidobrianern in der Grausamkeit, die Mistralianer im Humor mit den Rokhaianern in der Demut, die Parrianer im Gebein mit den Lihnianern im Geäuge."
    Bolaños Zuordnungen, man ahnt es schon, sind ironisch gemeint: Das Werk von Literaturnobelpreisträgerin Gabriela Mistral etwa entbehrt des Humors, und Pablo de Rokha galt nicht als demütig, sondern als anmaßend. Dem ebenfalls zitierten Enrique Lihn ist eine weitere Geschichte des Bandes gewidmet. Bolaño erzählt darin von einer Begegnung mit dem Lyriker, die jedoch im Traum stattgefunden hat und folglich streckenweise ins Fantastische abgleitet. Man fühlt sich an Erzählungen des Argentiniers Jorge Luis Borges erinnert.
    Gleich mehrere Geschichten sind unter chilenischen Exilanten zu Zeiten der Pinochet-Diktatur angesiedelt, zu denen auch Roberto Bolaño einst zählte. El Ojo Silva, zu Deutsch Silva das Auge, ist der Spitzname eines exilierten schwulen Fotografen. Bolaño berichtet in der gleichnamigen Erzählung von ihren sporadischen Kneipengesprächen in Mexiko, Paris und Berlin. Bei einem ihrer Treffen erzählt Silva dem Autor von kleinen Jungen in einem indischen Dorf, die für ein Fest zu Ehren eines Gottes kastriert werden:
    "Wenn sich der Knabe von der Operation erholt hat, beginnt die große Feier. Wochen oder Monate später, wenn alles vorbei ist, kehrt der Junge nach Hause zurück, aber jetzt ist er ein Kastrat, und die Eltern verstoßen ihn. Der Junge endet in einem Bordell. Es gibt sie in allen Arten, sagte El Ojo seufzend. Mich brachten sie an jenem Abend in das schlimmste von allen."
    Bolaño erzählt sehr anrührend und mitfühlend vom Schicksal der Jungen, die Opfer ritueller Kastrationen werden und denen El Ojo Silva zu helfen versucht. Über sie zu sprechen ist ein Tabu in Indien, und deshalb dürfte das Thema den Autor gereizt haben.
    Ebenso einfühlsam und lebendig erzählt wie "El Ojo Silva" ist "Buba". Die Geschichte ist in Barcelona angesiedelt und in der Ich-Form aus der Sicht eines chilenischen Profifußballers geschrieben. Dieser lebt in einer Wohngemeinschaft mit seinem spanischen Kollegen Herrera und mit Buba, den der Verein aus Afrika geholt hat. Die Mannschaft der drei ist seit Monaten vom Pech verfolgt, bis Buba Abhilfe verspricht:
    "Er brauche Blut. Das Blut von Herrera und mir. Ich glaube, Herrera hat gelacht, nicht sehr, nur ein bisschen. Dann schaltete jemand den Fernseher aus, ich weiß nicht mehr wer, vielleicht Herrera, vielleicht ich. Und Buba sagte, er könne es schaffen, er brauche nur die Blutstropfen und unser Stillschweigen. Was kannst du schaffen?, fragte Herrera. Den Sieg, sagte ich. Keine Ahnung, woher ich das wusste, aber ich wusste es vom ersten Moment an. Ja, den Sieg, sagte Buba."
    Wie die spannende Geschichte über Buba genau ausgeht, sei nicht verraten. Doch auch mit ihr bricht Roberto Bolaño ein Tabu, wenn er einem afrikanischen Ritus Ehre zukommen lässt, obwohl in den westlichen Industriegesellschaften religiöse Riten des schwarzen Kontinents gewöhnlich als Aberglauben abgetan werden.
    In der Geschichte, der das Buch seinen Titel "Mörderische Huren" verdankt, und die als einzige langatmig ist und nicht wirklich zu fesseln vermag, lässt Bolaño eine literarisch gebildete Prostituierte zu Wort kommen, die ihren Freier misshandelt, und in "Die Wiederkehr", der amüsantesten Erzählung des Bandes, schildert der Autor aus der Sicht des Geistes eines Verstorbenen, wie dessen Körper von einem berühmten französischen Modeschöpfer für sexuelle Spiele missbraucht wird. Auch die Nekrophilie zählt zu den gesellschaftlichen Tabus.
    Der Erzählband "Mörderische Huren" zeigt einmal mehr die thematische wie die stilistische Spannweite des Autors, der in der Reportage ebenso zu Hause war wie in der fantastischen oder der Spannungsliteratur, in der Humoreske oder in der autobiografischen Reiseerzählung. Und pornografische Passagen gingen ihm ebenso flüssig von der Hand wie beißende Literaturkritik. Leichte Kost lieferte der 2003 verstorbene Chilene nie. Wie schon etliche seiner Romane, verlangen auch einige der 13 Erzählungen seines Bandes "Mörderische Huren" dem Leser profunde Kenntnisse der internationalen, insbesondere der lateinamerikanischen Literatur sowie der chilenischen Lyrik ab. Wer darin nicht zu Hause ist, wird einige Erzählungen des Bandes von Roberto Bolaño nicht in vollem Umfang verstehen. Doch originelle Geschichten wie "Buba" oder "Die Wiederkehr" machen "Mörderische Huren" dennoch zu einem großartigen Buch.