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Mord an Boris Nemzow
"Der Kreml ist politisch verantwortlich"

Mit dem geschürten Hass und der absichtlich erzeugten Spaltung der Gesellschaft trage die russische Regierung eine politische Verantwortung für den Mord an Boris Nemzow, sagte Ex-Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) im DLF. "Man kann auch einen Kritiker mit Worten hinterrücks umbringen."

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Gespräch mit Christine Heuer |
    Sabine Leutheusser-Schnarrenberger beim Parteitag der Bayern-FDP am 22.11.2013.
    Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Nemzow war "unglaublich charismatisch". (dpa/Daniel Karmann)
    Leutheusser-Schnarrenberger sagte weiter, es gebe keine Anzeichen, dass es sich um einen Auftragsmord aus dem Kreml handele. Aber das Handeln dort habe dazu geführt, dass Menschen "vogelfrei" wurden. Es gebe ein Klima in Russland, das geprägt sei von Hass und Diffamierung. "Eine politische Verantwortung sehe ich in jedem Fall." Russlands Präsident Wladimir Putin werde durch die Tat aber nicht gestärkt.
    Leutheusser-Schnarrenberger sagte, sie befürchte, dass nun nicht in alle Richtungen nach den Tätern ermittelt werde. Schon in der Vergangenheit seien Morde an Journalisten oder Andersdenkenden nicht aufgeklärt worden. Die frühere Bundesjustizministerin sprach sich dafür aus, dass der Europarat als "unabhängige Institution, die eine ganz, ganz große Expertise in all diesen Fragen hat", den russischen Behörden helfe, die Tat aufzuklären. "Russland ist Mitglied des Europarates, und von daher ist das auch keine Einmischung in innere Angelegenheiten."
    Die FDP-Politikerin hatte am Begräbnis von Nemzow teilgenommen. Er sei die "herausragende Persönlichkeit der außerparlamentarischen Opposition gewesen", sagte sie. Derzeit befinde diese sich in einer "depressiven Schockstarre" und sei durch den Mord geschwächt, werde aber nicht aufgeben.

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: Es waren bewegende Bilder gestern in Moskau, der Abschied von dem ermordeten Oppositionellen Boris Nemzow, Familie, Freunde und Weggefährten am offenen Sarg, tausende Russen trauernd in langen Schlangen vor dem Menschenrechtszentrum Andrej Sacharow, wo der 5-Jjährige aufgebahrt war, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Mit dabei in Moskau war gestern Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ehemalige Bundesjustizministerin. Guten Morgen!
    Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Guten Morgen, Frau Heuer.
    Heuer: Was war Ihr stärkster Eindruck bei der Trauerfeier gestern?
    Leutheusser-Schnarrenberger: Mein stärkster Eindruck war, wie Freunde, Weggefährten, Persönlichkeiten nacheinander in sehr bedenklicher Art und Weise, aber sehr persönlich ihre Beziehung zu Boris Nemzow zum Ausdruck gebracht haben. Es war ja über vier Stunden ein Trauerzug, eine Trauerbekundung am offenen Sarg, und das war in dem Sacharow-Zentrum - das hatte ja auch eine starke symbolische Kraft - wirklich sehr, sehr beeindruckend und am offenen Sarg stand die ganze Zeit seine Ehefrau, Kinder und auch seine Mutter. Diese Eindrücke vergisst man nicht.
    Heuer: Sie kannten Boris Nemzow persönlich. Was war er für ein Mensch?
    Leutheusser-Schnarrenberger: Unglaublich charismatisch war Boris Nemzow, mit sehr viel Energie, lebendig, der wirklich immer auch teilweise sehr spontan versucht hat, Aktionen zu starten. Es war einer, der eigentlich immer in Bewegung gewesen ist, der wirklich die Opposition, die ja sehr, sehr vielfältig ist, versucht hat, doch immer wieder zusammenzubringen. Er war ein ganz großer Kommunikator und er war eigentlich die herausragende Persönlichkeit der außerparlamentarischen Opposition.
    "Eine Schwächung der Opposition"
    Heuer: Nun ist er ermordet worden. Treibt dieser Mord die Opposition auf die Barrikaden, oder schwächt die Angst die Opposition?
    Leutheusser-Schnarrenberger: Es ist ein Klima - das ist auch gestern für mich deutlich geworden -, ein Klima in Russland, das so geprägt ist von Hass und Diffamierung, das seit Monaten über die TV-Kanäle geht, und Boris Nemzow stand ja da sehr, sehr im Mittelpunkt. Da war ja noch ein diffamierender Film geplant am Sonntag, der dann aus dem Programm genommen wurde. Und es ist doch gestern nach meinem Eindruck noch eine depressive Schockstarre gewesen in den Kreisen der Opposition. Aber eines bin ich sicher: die werden nicht aufgeben. Sie müssen sich jetzt überlegen, wie sie weitermachen, aber insgesamt ist es eine Schwächung schon der Opposition.
    Heuer: Nützt der Mord umgekehrt Putin?
    Leutheusser-Schnarrenberger: Das glaube ich wiederum nicht, denn so ein feiger Mord, hinterrücks, eigentlich die charismatische Persönlichkeit, die ja nie Gewalt und revolutionären Umsturz propagiert hat, sondern sich für die Rechte eingesetzt hat, die wir hier uneingeschränkt teilen, Freiheit, Demokratie, Meinungsfreiheit-Äußerung, und selbst Regierungserfahrung hatte, das wird nicht Putin stärken, sondern der Druck auf den Kreml, aufzuklären, auch überzeugende Ergebnisse zu liefern, wird groß sein. Und es ist jetzt in dieser Situation, in dieser Atmosphäre des Hasses untereinander - Boris Nemzow gehörte ja zu den sogenannten Volksverrätern, Vaterlandsverrätern, die anderen waren die Guten -, da weiß man nicht, was da noch passieren kann. Das alles kann Putin nicht stärken.
    "Das ist eine politische Verantwortung"
    Heuer: Sie glauben also nicht, dass der Kreml hinter der Tat steckt, sondern andere, obwohl - das muss man ja dazusagen - Boris Nemzow zuletzt gesagt hat, er fürchte sich, dass Putin ihn umbringen lassen wolle.
    Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, er hat sehr pointierte Interviews gegeben, auch noch an dem Tag seiner Ermordung, am Freitag. Im Moment gibt es jetzt nicht irgendwelche Anzeichen für einen Auftragsmord aus dem Kreml. Aber eine politische Verantwortung sehe ich in jedem Fall, denn mit dieser absichtlich erzeugten Spaltung in der Gesellschaft, auf der einen Seite nach der Ukraine-Krise natürlich eine Mehrheit der Bevölkerung, die voll hinter Putin steht, und dann eine kleiner gewordene Minderheit, die diesen Völkerrechtsverstoß kritisiert hat und auch die Maidan-Bewegung unterstützt hat, die hat mit dazu geführt, dass einfach Personen vogelfrei sind, dass da ein Klima war, man kann auch einen Kritiker mit Worten hinterrücks umbringen. Und das ist eine politische Verantwortung, der kann sich der Kreml nicht entziehen.
    Heuer: Nemzow soll Beweise für die direkte russische Beteiligung am Krieg in der Ostukraine gesammelt haben. Glauben Sie, das hat ihm jetzt das Leben gekostet?
    Leutheusser-Schnarrenberger: Es gibt eine Anti-Maidan-Bewegung, nationalistische Persönlichkeiten, die ganz massiv Nemzow wegen seiner Äußerung kritisiert haben, nämlich die ukrainische Führung und die Menschen auf dem Maidan zu unterstützen. Es wird gerade nach vielen Gesprächen in Moskau gestern nicht ausgeschlossen, dass aus diesem Umfeld der Mord passiert sein kann. Man weiß es nicht, man kann es nicht ausschließen.
    "Aber es muss in alle Richtungen ermittelt werden"
    Heuer: Halten Sie das für plausibel?
    Leutheusser-Schnarrenberger: Ich denke, dass das nicht ausgeschlossen werden kann. Das ist eine Argumentation, die in meinen Augen doch eine gewisse Logik aufweist. Viele Verschwörungstheorien sind ja im Umlauf bis dahin, dass die CIA Nemzow umgebracht habe, oder die Oppositionellen ihn selbst, um damit sich ins Gespräch zu bringen, also alles vollkommen abartig. Aber das halte ich nicht für ganz ausgeschlossen. Das halten auch viele von den Trauernden und von seinem Umfeld nicht für ganz ausgeschlossen. Aber es muss in alle Richtungen ermittelt werden, und da habe ich die ganz große Sorge, dass das nicht passieren wird.
    Heuer: Und deshalb fordern Sie ja, dass der Europarat bei der Aufklärung hilft. Müssen die russischen Ermittler kontrolliert werden, weil sie selbst ihre Arbeit in diesem Staat nicht anständig machen?
    Leutheusser-Schnarrenberger: Dass in der Vergangenheit Morde an Journalisten, an Andersdenkenden, an Anwälten nicht aufgeklärt wurden, das ist bekannt. Das zeigt ja auch die ganze Liste von Persönlichkeiten der unaufgeklärten Morde der vergangenen Jahre. Frau Politkowskaja ist ein herausragender Name, es waren viele mehr. Von daher, glaube ich, ist es gut, wenn der Europarat nicht als Kontrolleur russischer Behörden - das ist nicht seine Aufgabe -, aber als eine unabhängige Institution, die eine ganz, ganz große Expertise in all diesen Fragen hat, auch gerade in Fragen aufzuklären, was spricht für, was spricht gegen diese Tat, und damit eine Debatte zu führen, die dann vielleicht leichter kanalisiert, in welche Richtung tatsächlich die Hinterleute zu suchen sind oder gefunden werden könnten. Das ist eigentlich eine der Aufgaben des Europarates. Es hat ja immer wieder Berichterstattungen gegeben zu Einzelfällen. Ich selbst war bei Michail Chodorkowski und dann auch im Zusammenhang mit Herrn Magnitski, der im Gefängnis umgekommen ist, weil er einen Regimekritiker vertreten hat, und von daher ist es eigentlich eine klassische Aufgabe des Europarates. Russland ist Mitglied des Europarates, von daher ist es auch keine Einmischung in innere Angelegenheiten.
    "Es wäre eine schwierige Mission"
    Heuer: Kurz zum Schluss, Frau Leutheusser-Schnarrenberger. So wie Sie das alles schildern, glauben Sie, in dieser Situation - Sie haben ja auch gesagt, auch für den Kreml ist das jetzt keine leichte Zeit - wird Moskau diese Idee akzeptieren, den Europarat einzuschalten?
    Leutheusser-Schnarrenberger: Zunächst muss der Europarat selbst das entscheiden mit seinen Gremien. Das kann er mit Mehrheit tun. Russland hat im Moment kein Stimmrecht. Die Frage ist, wenn überhaupt der Europarat in diese Richtung gehen würde, wie kooperativ russische Behörden dann wären. Das ist immer nie leicht gewesen, das weiß ich aus der Vergangenheit. Aber ich glaube, dass sich die Behörden sehr sorgfältig überlegen würden, ob sie dann diese objektiven Fragen, die gestellt würden, absolut verhindern würden. Aber es wäre eine schwierige Mission.
    Heuer: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Politikerin, ehemalige Bundesjustizministerin. Erstens danke ich Ihnen fürs Gespräch und zweitens im Hintergrund, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, klingelt schon Ihr Telefon. Da ist der nächste dran, der wissen will, wie es war, denke ich.
    Leutheusser-Schnarrenberger: Ja! Aber das ist alles jetzt schon abgeschaltet. Nein, ich bin wirklich noch sehr, sehr berührt und betroffen von meinem gestrigen Aufenthalt in Moskau.
    Heuer: Ich danke Ihnen für das Gespräch heute Morgen.
    Leutheusser-Schnarrenberger: Danke Ihnen, Frau Heuer.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.