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Mützenich fordert EU-Beitrittsprozess der Türkei voranzutreiben

Es wäre ein strategischer Vorteil, mit der Türkei auf die Entwicklung im arabischen Raum einzuwirken, glaubt Rolf Mützenich. Der SPD-Politiker lobt den EU-Fortschrittsbericht und plädiert dafür, jetzt neue Kapitel in den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu eröffnen.

Rolf Mützenich im Gespräch Peter Kapern | 17.10.2013
    Peter Kapern: Seit 2005 laufen sie, die Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei. Genau genommen kann aber von laufenden Verhandlungen gar keine Rede sein. Immer wieder wurden die Gespräche ausgesetzt, mal weil die Türkei hartleibig bei der Zypernfrage war, mal weil die türkische Regierung, wie im vergangenen Sommer auf Demonstranten eindreschen ließ. Aber auch dies muss dazu gesagt werden: Ein Teil der EU-Mitglieder will keinen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, trotz aller Versprechungen und Zusagen, die dem Land über Jahrzehnte gemacht worden sind, und auch das fördert den Gesprächsverlauf nicht. Gestern nun hat die EU einen neuen Fortschrittsbericht über die Entwicklung in der Türkei vorgelegt. Er attestiert dem Land Licht und Schatten, allerdings etwas mehr Licht als Schatten, und deshalb sollen die Beitrittsverhandlungen, so die EU-Kommission, nun beschleunigt werden. – Bei mir im Studio ist Rolf Mützenich, der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Herr Mützenich, der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber, der wirft der EU-Kommission jetzt vor, sie fahre einen Kuschelkurs gegenüber der Türkei. Sehen Sie das auch so?

    Rolf Mützenich: Das was ich von dem Bericht gelesen habe, ist nach meinem Dafürhalten sehr abgewogen. Er benennt die kritischen Punkte, die sich gerade auch bei den Demonstrationen um den Gezi-Park und vieles andere auch bewegt haben. Er kritisiert auch die Verfolgung der Medien. Aber auf der anderen Seite attestiert er eben auch, dass die Regierung Erdogan – und das ist auch meine Wahrnehmung – versucht, sich zurzeit innenpolitisch neu zu positionieren, auch die Kurden zu versuchen, mit ins Boot zu nehmen, auch eine Versöhnung möglicherweise zu unternehmen, und auf der anderen Seite auch die Vorstellung, die die Türkei gehabt hat, ein sozusagen Nachfolgereich des Osmanischen Reiches anzuführen mit den arabischen Umbrüchen. Dass das nicht so einfach funktioniert, wird auch in der Regierung Erdogan durchaus gesehen und das eröffnet auch Chancen.

    Kapern: Sie haben das Stichwort Gezi-Park gerade genannt. Es ist doch schon erklärungsbedürftig. Warum soll eine Regierung, die Demonstranten brutal niederprügeln lässt, mit beschleunigten Beitrittsverhandlungen belohnt werden? Die Logik erschließt sich nicht unmittelbar.

    Mützenich: Nein, nicht unbedingt mit beschleunigten Beitrittsverhandlungen. Aber ich glaube, der Versuch lohnt sich, indem Kapitel geöffnet werden, die innenpolitische Reformen auch anstoßen können, die auch gerade die Frage der Achtung der Menschenrechte beinhalten, auch Rechtsstaatlichkeit, weil das sind ja die Kapitel, die noch gar nicht eröffnet worden sind. Die könnten ja auch die Chance bieten, gerade dieses Vorgehen, was wir auch zurecht kritisiert haben, in Zukunft stärker auszuschließen und insbesondere auch die Verantwortlichen mit zur Rechenschaft zu ziehen. Das gehört zu einem rechtsstaatlichen Prozess dazu, und die Europäische Union hat durch die Beitrittsgespräche mit anderen Ländern in der Vergangenheit bewiesen, dass möglicherweise solche Entwicklungen dadurch auch angestoßen werden können.

    Kapern: Aber sie hat auch bewiesen, dass möglicherweise ein EU-Beitritt vollzogen wird, ohne dass diese Entwicklungen abgeschlossen sind. Will man diesen Fehler, den man im Falle Rumänien und Bulgarien gemacht hat, bei der Türkei partout wiederholen?

    Mützenich: Nein, das glaube ich nicht, weil die Konstellationen andere sind. Man hat auch daraus gelernt, aus diesen Fehlern. Das ist mein Eindruck auch aus den Gesprächen mit Vertretern der Europäischen Kommission, aber auch einzelner europäischer Regierungen. Aber auf der anderen Seite ist auch offensichtlich, dass wir der Türkei – und das haben Sie ja auch angesprochen – eben nicht eigentlich eine realistische Beitrittsperspektive geschaffen haben. Zumindest ist von einzelnen wichtigen Regierungen auch immer wieder der Eindruck erweckt worden, wir wollen euch eigentlich gar nicht innerhalb der Europäischen Union haben. Das hat zur Frustration auch in der Türkei gerade in der Bevölkerung beigetragen, die in der Vergangenheit sehr stark Träger des europäischen Prozesses gewesen war.

    Kapern: Ministerpräsident Erdogan hat kürzlich ein sogenanntes Demokratiepaket vorgelegt. Auch darauf haben Sie schon angespielt, Herr Mützenich. Und alle Beobachter waren sich eigentlich einig, das ist eher ein kümmerliches Päckchen, denn ein Paket. Vielleicht meint er es ja mit der Demokratisierung doch gar nicht ernst?

    Mützenich: Da kann man Fragezeichen hinter Ministerpräsident Erdogan stellen. Aber auf der anderen Seite erleben wir zurzeit auch innerhalb der AKP - aber auch der türkische Präsident spielt hier eine sehr wichtige Rolle – einen Prozess, die ja nicht alles das hinnehmen wollen, was Ministerpräsident Erdogan auf den Tisch legt. Also es gibt da durchaus eine sehr plurale Debatte nach meinem Eindruck zurzeit im Parlament, in der Parlamentsfraktion auch der AKP, und ich finde, die Aufarbeitung der Demonstrationen um den Gezi-Park, insbesondere das brutale Vorgehen einzelner staatlicher Institutionen, ist in der Türkei noch nicht abgeschlossen und das bietet in der Tat, wie die Europäische Kommission sagt, Chancen zu einer erneuten Diskussion mit der türkischen Regierung.

    Kapern: Auch das Kurden-Problem in der Türkei haben Sie schon angesprochen. Gerade die kurdischen Vertreter in der türkischen Innenpolitik haben sich über alle Maßen enttäuscht gezeigt über dieses Demokratiepaket. Das heißt, dieser Kurdistankonflikt würde ja immer näher an die EU herangetragen, wenn man die Verhandlungen mit der Türkei jetzt vorantreibt?

    Mützenich: Das ist richtig. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht übersehen: Wir haben ja auch diesen Kurden-Konflikt durchaus in der deutschen Innenpolitik. Wir erleben auch immer wieder Auseinandersetzungen zwischen Türken und zwischen Kurden um die Frage auch einer sozusagen innenpolitischen Situation in der Türkei. Also dieser Konflikt ist sozusagen in Deutschland schon da. Deswegen haben wir ja nachhaltiges Interesse, dass es einen Aussöhnungsprozess gibt. Und dass nach Jahren des Stillstandes jetzt endlich der Versuch unternommen wird – und in der Tat: der ist sehr schwierig -, sollte uns doch Anlass geben, ihn zu unterstützen, weil er hilft letztlich, glaube ich, auch in Deutschland selbst.

    Kapern: Es heißt immer wieder, das Interesse in der Türkei an einem Beitritt zur EU lasse nach. Ist das auch Ihre Wahrnehmung?

    Mützenich: Das ist auch meine Wahrnehmung. Das hat mit vielen unterschiedlichen Gründen zu tun. Wir haben über einzelne bisher gesprochen. Aber es wächst zurzeit auch wieder die Diskussion in der Türkei selbst, das Vorgehen, die Türkei schafft es alleine, sowohl eine Null-Probleme-Außenpolitik mit seinen Nachbarn – wir sehen das Problem Syrien, wir sehen aber auch die Situation mit Armenien, viele andere Dinge auch -, wird wahrscheinlich ohne Partner nicht gelingen, und die Türkei hat durchaus ein Interesse, auch verlässliche Partner zu finden, genauso wie wir das auch haben. Es ist ein strategischer Vorteil, wenn wir gemeinsam mit der Türkei versuchen, mit diplomatischen Mitteln auf die schwierige Situation im arabischen Raum einzuwirken.

    Kapern: Einige Regierungen innerhalb der EU senden an Ankara immer wieder die Botschaft aus, wir wollen euch nicht in der EU. Das haben Sie eben gesagt. Zu diesen Regierungen zählt auch die deutsche, die eine privilegierte Partnerschaft befürwortet – die Union. Nun finden heute wieder Sondierungsgespräche statt zwischen SPD und Union. Wird das zu einem Konflikt in diesem Punkt führen, der Türkei-Beitritt zur Europäischen Union?

    Mützenich: Das wird heute nicht und, glaube ich, auch nicht in den nächsten Tagen im Fokus stehen, …

    Kapern: Aber wird das ein Konflikt sein, der diese Koalition beschäftigt?

    Mützenich: Ja, es wird diese Koalition mit Sicherheit beschäftigen, auch die Gespräche, weil wir haben ja auch gesehen, dass die FDP durchaus eine andere Haltung, damals auch der Außenminister gehabt hat, aber nicht die Kraft aufgebracht hat, auch die CDU und insbesondere Bundeskanzlerin Merkel von einem anderen Vorgehen zu überzeugen. Wir sehen aber auf der anderen Seite in der CDU auch eine sehr intensive Diskussion, die spätestens damit begonnen hat, als gut ausgebildete junge türkische Jugendliche wieder in die Türkei zurückgegangen sind. Heute haben wir ja einen Saldo, der sozusagen genau das bringt, was wir auch befürchtet haben, dass viele ihre Zukunft nicht hier oder innerhalb einer Europäischen Union sehen, sondern sozusagen diesen Wirtschaftsaufschwung, den die Türkei macht, auch mitzunehmen. Und ich glaube, wir hätten einen großen Vorteil davon, von den Jugendlichen, die heute in der Türkei sind, aber in Deutschland aufgewachsen sind, auch einen verlässlichen Prozess der Demokratisierung mit anzustoßen, und das gibt auch Überlegungen in der CDU, also durchaus auch Chancen.

    Kapern: Der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, heute Morgen bei uns zu Besuch im Studio. Herr Mützenich, danke, dass Sie vorbeigeschaut haben.

    Mützenich: Vielen Dank für die Einladung, Herr Kapern.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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