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"Mursi ist der Pragmatiker"

Mit der Vermittlung der Waffenruhe im Gazakonflikt kann Ägyptens Präsident Mursi einen außenpolitischen Erfolg verbuchen, den er nach Ansicht der ägyptischen Politologin Hoda Salah dringend benötigt. Denn in der Innenpolitik leiden seine Muslimbrüder weiterhin unter einer großen Legitimationskrise.

Hoda Salah im Gespräch mit Doris Simon | 22.11.2012
    Doris Simon: Am Telefon ist jetzt Hoda Salah, sie ist ägyptische Politologin an der FU Berlin. Guten Morgen.

    Hoda Salah: Guten Morgen.

    Simon: Frau Salah, wie sehr muss der ägyptische Präsident jonglieren und wie weit ist er bereit, dabei zu gehen?

    Salah: Ich denke, er ist sehr bereit zu gehen, weil Sie können sich vorstellen, dass momentan in der Innenpolitik in Ägypten leiden die Muslimbrüder unter einer großen Legitimationskrise. Ich weiß nicht, auch in den Medien wird das leider jetzt gar nicht gezeigt, dass in den letzten Tagen auch viele Ägypter in den Demonstrationen ermordet worden sind, und es gibt große Demonstrationen gegen die Muslimbrüder. Da muss er jetzt diesen Erfolg haben in der Außenpolitik, damit er etwas von dieser Legitimation gewinnt in Ägypten, dass er was für Palästina tut, um auch seine Anhänger nicht zu enttäuschen und auch seine Gegner etwas im Stande zu halten.

    Simon: Die Israelis hatten ja zwischenzeitlich sich beklagt, dass der Draht nach Ägypten, der alte Draht, fast ganz zum Erliegen gekommen ist. Hat sich der Präsident in den letzten Wochen darum gekümmert, das Verhältnis zu Israel wieder intern, vielleicht nicht nach außen hin, aber intern wieder zu verbessern?

    Salah: Diese Vermutung ist eigentlich auch falsch, weil Mursi hat in seiner Rede seine Amtskollegen in Israel als Freunde genannt, was ihm auch in Ägypten eine große Kritik gebracht hat. Das heißt eigentlich, in seiner Außenpolitik hat er kaum Veränderungen gegenüber Israel. Im Gegenteil hat er sie als seine Freunde bezeichnet, was auch natürlich seine Anhänger sehr enttäuscht hat, und Sie können sich vorstellen, wie das ägyptische Volk auch sehr humorvoll ist, da gab es auch sehr viele Witze über ihn. Eigentlich sehe ich, er hat von Anfang an eigentlich die alte Politik fortgesetzt und immer Israel und den Westen beruhigt, er garantiert die Sicherheit Israels.

    Simon: Das heißt, Mursi ist eigentlich ein Pragmatiker aus Ihrer Sicht?

    Salah: Ich sehe, Mursi ist der Pragmatiker auf jeden Fall. Er ist sehr interessiert an internationalen Verbündeten. Aber er ist auch - und das ist sehr wichtig zu erwähnen - sehr interessiert, seine Macht in Ägypten zu erhalten. Er ist sehr interessiert, dass die Macht der Muslimbrüder auch international fortgesetzt ist. Das heißt, er hat jetzt Hamas, sagen wir, auch gebeten, nicht weiter den Konflikt zu eskalieren, weil eigentlich er selbst vor Neuwahlen steht und auch die Parlamentswahl steht an. Dann gibt es auch die Wahl in Tunesien, auch die Konflikte in Syrien, und ich denke, die erste Priorität der Muslimbrüder ist, ihre Macht auch in verschiedenen Ländern, weil sie wissen, das ist eine internationale Organisation, zu etablieren.

    Simon: Frau Salah, wir sprechen die ganze Zeit über den ägyptischen Präsidenten Mursi. Sie sagten ja selber, es gibt in seiner eigenen Bewegung, unter den Muslimbrüdern, viel Kritik an seiner Politik, die viele für viel zu israelfreundlich halten. Ist Mursi umgeben von Leuten in der Regierung, die genauso denken wie er, oder ragt er so ein bisschen raus?

    Salah: Er ist umgeben von Leuten, die ihn natürlich auch beraten, manchmal falsch, manchmal richtig. Aber als er in der Opposition war, also die Muslimbrüder, war es ihnen sehr leicht, Israel zu kritisieren, die Außenpolitik Ägyptens zu kritisieren, auch Mubarak so als Zionistenfreund darzustellen. Aber natürlich ist Mursi jetzt auch ein Präsident geworden und er weiß, er kann es sich nicht leisten, sich israelfeindlich darzustellen. Und das heißt, er verabschiedet sich von der alten Politik, was ich sehr gut finde, dass er jetzt einen Frieden mit Israel fortsetzen möchte. Natürlich manchmal übertreibt er, was auch Mubarak nicht gemacht hat, wenn er die Israelis als seine Freunde [bezeichnet], weil bei der Revolution gab es auch kritische Stimmen, man möchte diese Friedensverhandlungen mit Israel fortsetzen, aber natürlich das Gaza-Abkommen oder auch die Sicherheit des Sinais etwas sicherstellen.

    Aber ich glaube, jetzt momentan und leider ist das eine Fortsetzung der alten Politik, sowohl in Ägypten als auch im Westen als auch in Israel. Das heißt, Ägypten und Hamas sind sehr autoritäre Systeme gegenüber ihrer Bevölkerung, sie unterdrücken ihre Bevölkerung. Das wissen wir auch, dass Hamas ein sehr autoritäres System ist, und auch seine Bevölkerung hat sehr zu leiden darunter. Aber gleichzeitig, um Legitimation zu gewinnen, versuchen sie, ihre Außenpolitik zu mildern - gerade auch Ägypten -, und der Westen unterstützt das, auch für die Sicherheit Israels. Aber es gab zum Beispiel in den letzten Tagen kaum Kritik an Mursi, dass diese Gewalt in Ägypten so eskaliert ist und viele Ägypter auch vom Polizeistaat wieder ermordet worden sind. Verstehen Sie mich? - Ich meine, das ist jetzt die alte Politik, ohne Friedenskonzept, ohne richtiges Friedenskonzept für die Bevölkerung, dass endgültig auch dieser Konflikt wirklich gelöst ist. Aber ich glaube, in ein paar Jahren gibt es wieder einen Krieg, und leider sind Israel, der Westen, Ägypten wieder in ihrer alten Politik: Waffenstillstand, aber kein richtiges Konzept für Frieden, damit alle drei Bevölkerungen nichts zu leiden haben.

    Simon: Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, Frau Salah, sagen Sie, dass auch die neue ägyptische Regierung der Muslimbrüder durch das Amt, durch die Verantwortung, durch die internationalen Zwänge im Prinzip intern und in der Außenpolitik so weitermachen wie die alte Regierung Mubarak?

    Salah: Genau, und das ist meine große Kritik, weil natürlich, auf jeden Fall ich bin auch dafür: Die Sicherheit Israels muss garantiert werden, der Friedensvertrag muss versichert werden und so weiter. Aber das ist leider auf Kosten der Bevölkerung auch wieder in der Innenpolitik.

    Simon: Wir haben ja im Augenblick nur eine Waffenruhe. Das ist ja nur mal gerade eine Pause und kein Mensch weiß genau, wie es jetzt weitergehen soll, ob sich irgendetwas wirklich entwickelt. Was kann denn in dem Konflikt, so wie Sie sie jetzt beschrieben haben, die neue ägyptische Regierung realistisch leisten?

    Salah: Wissen Sie, was ist Realismus und was ist jetzt ideale Politik? Wenn das jetzt die Fortsetzung der alten Politik ist, dann heißt das, die Generation von unseren Kindern, die hat auch wieder zu leiden. Aber wir brauchen ein neues Konzept von Frieden.

    Simon: Ja, aber die Frage ist, was kann die realistisch überhaupt schaffen, die ägyptische Regierung? Kann die da irgendetwas vermitteln, wird die das tun, einen Frieden oder eine längere Waffenruhe zwischen Hamas und Israel?

    Salah: Auf jeden Fall sich weiter an dieses Friedensabkommen halten, aber mehr Dialog zu führen, mehr Konzepte zu führen, nicht wie gestern jede Partei wie in Israel oder in Hamas feiern, ob das ein Sieg gegen den Feind ist. Das ist kein Sieg, wenn ungefähr 140 Palästinenser sterben und auch Leute in Israel sterben. Das heißt, neue Konzepte, aber diese Konzepte sind nicht da. Wir haben leider in den drei Ländern wieder eine Fortsetzung der alten Politik mit ihrer gewaltsamen Richtung gegen die Bevölkerung. Auch viele Israelis jetzt sind im Exodus, sie verlassen ihr Land, sie fühlen sich nicht sicher in Israel. Das ist, was ich traurig finde, dass die alte Politik wieder da ist. Das heißt, es wird wieder Frieden geben, es wird Ruhe auch für ein paar Jahre sein. In den nächsten fünf Jahren wird wieder Ruhe sein, bis zur nächsten Wahl vielleicht in Israel. Dann eskaliert das wieder, um radikale Anhänger wieder zu gewinnen auf beiden Seiten.

    Simon: Also nach Ihrer Einschätzung keine große Veränderung in der Nahostpolitik durch die neue ägyptische Regierung?

    Salah: Nein.

    Simon: Das war Hoda Salah, ägyptische Politologin an der Freien Universität in Berlin. Vielen Dank, Frau Salah.

    Salah: Ich danke Ihnen sehr.

    Simon: Auf Wiederhören!

    Salah: Auf Wiederhören.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.