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Musikalisches Gedenken in Jena
Der Klang der Stolpersteine

Die Universitätsstadt Jena hatte 2016 immer wieder mit Neonazi-Aufmärschen zu kämpfen. Auch am 9. November, am Tag des Pogroms von 1938 gegen die jüdische Bevölkerung. In diesem Jahr haben sich deshalb thüringische Musiker eine besondere Aktion ausgedacht, um gegen Rechts ein deutliches und hörbares Zeichen zu setzen.

Von Henry Bernhard | 10.11.2017
    Musiker spielen in Jena zum Gedenken an die Opfer der Progromnacht am 9. November 1938.
    Musiker spielen in Jena zum Gedenken an die Opfer der Pogromnacht am 9. November 1938. (Deutschlandradio / Henry Bernhard )
    Das Gedenken an die Opfer des Pogroms 1938 beginnt im Wohnzimmer von Klaus Wegener. Der Musiker spricht mit den Mitgliedern seiner Samba-Band noch letzte Details für den Auftritt ab.
    "Also, die Reihenfolge der vier Stücke haben wir zumindest schon mal klar. Und am Ende spielen wir das Lied 'Dos Kelbl' oder 'Dona Dona', und zwar mit Bläsern und Percussionsgruppe."
    Samba, aber auch Chorgesang, Jazz, Klassik neben jeweils einem Stolperstein, der an deportierte und ermordete Jenaer Juden erinnern soll. Die Idee hat Wegener nach dem 9. November letzten Jahres entwickelt, gemeinsam mit Till Noack.
    "Letztes Jahr am 9. November sind Rechtsextreme durch die Stadt gezogen mit Fackeln. Und wir haben versucht, mit Musik, mit anderen Aktionen uns dagegen zu stellen, aber da waren wir ganz drauf konzentriert: Die dürfen nicht durch unsere Stadt! Und die haben dadurch einen ganz großen Teil der Energie abgezogen quasi, die eigentlich dem Gedenken gehört hätte."
    Zivilgesellschaftlicher Widerstand in Jena war nicht breit genug
    Rechtsextreme waren im vergangenen Jahr mehrfach an besonderen Daten in Jena aufmarschiert: Am Geburtstag Adolf Hitlers, am Todestag von Rudolf Heß, am Jahrestag des Stauffenberg-Attentats auf Hitler und eben am 9. November, am Jahrestag der Pogromnacht. Der zivilgesellschaftliche Widerstand dagegen war wie immer in Jena breit, aber nicht breit genug, fand Noack.
    "Wir saßen zusammen und haben uns geärgert, dass der Protest gegen die vielen Nazi-Demos im vorigen Jahr so ganz von der Jugend, von der engagierten und natürlich auch bisschen aufgeregten Jugend getragen worden ist und dass uns, für unseren Geschmack – manche sehen das anders – die Bürger gefehlt haben auf der Straße, Bürger in unserem Alter und aus der Mitte halt irgendwie. Und wir haben da mit verschiedenen Leuten diskutiert, ich unter anderem mit meinem erwachsenen Sohn, habe mich darüber echauffiert, und da hat der gesagt: Na, dann mach doch, dann hol‘ sie doch auf die Straße! Und dann haben wir gemeinsam dieses Konzept mit Prof. Paulus entwickelt."
    Aufbruch der Musiker von Sampa Sopros. Der nächste Stolperstein ist nicht weit. Vor einem Wohnhaus in einer viel befahrenen Straße. Ein paar Zuhörer warten schon, alte und junge. Klaus Wegener spricht sich mit den Perkussionisten ab, die schon ausgepackt haben.
    "Ja, entweder da vor oder, um den Verkehr nicht zu behindern, gegenüber. Ich hab mit Gegenüber kein Problem. Wenn wir uns sehen, wird das gut gehen. Dann baut ihr euch auf und wir packen erst mal drüben aus."
    Vor dem Haus liegen die Stolpersteine für Salomon und Frieda Hoffmann, deportiert 1942 nach Theresienstadt, ermordet 1944 in Auschwitz.
    "Sei vorsichtig, dass du nicht drauf trittst, Levy!"
    Ein junges Paar stellt gerade mit seinem kleinen Sohn eine Kerze neben die Blumen.
    Warum sind sie da?
    "Weil wir hier wohnen."
    "In der Wohnung, wo damals die Geschichte gespielt hat sozusagen."
    Beschäftigt man sich dann auch mit der Familiengeschichte?
    "Um ehrlich zu sein: Selber noch nicht. Also, man läuft natürlich jeden Tag drüber und kennt auch die Namen, aber jetzt genau … Also, ich persönlich nicht. Aber durch so etwas kann etwas angestoßen werden."
    "Ja!"
    "Ich glaube, das werde ich heute Abend auch machen!"
    Punkt 18 Uhr beginnt Klaus Wegener mit Sampa Sopros, zeitgleich mit 24 anderen Bands, Chören, Kapellen, verteilt an den Stolpersteinen in der ganzen Stadt. Um die 60 Leute stehen auf der anderen Straßenseite, hören zu, wippen mit, klatschen.
    Darüber reden statt zu schweigen
    Nur einen knappen Kilometer weiter, in einer stillen, abgelegenen Straße, stehen etwa 30 Menschen um 3 Musiker mit Gitarren und Geige. Gerade haben die ein Stück beendet und ermuntern eine ältere Dame, etwas über die von hier deportierten frühen Anwohner zu erzählen.
    "Ja unbedingt! Gerne, gerne! Wir bitten darum! "
    "Es ist sicher von Interesse, wenn Sie hier heute so zahlreich erschienen sind, was mich wirklich freut, weil: Die anderen Jahre waren wir immer mehr im kleineren Kreis, was zu erfahren über die Menschen, derer wir heute hier erinnern, für die die Stolpersteine auch gelegt worden. Und zwar für Heinrich Heß, das ist der Stolperstein hier vor dem Haus 25. Und hier für Agnes Holzmann, das ist der Stolperstein am Haus 23."
    Heidrun Gehlmann vom "Arbeitskreis Sprechende Vergangenheit" umreißt kurz die Lebenswege der früheren Bewohner und ihre Wege in den Tod. So viel wie hier, sagt sie danach, hätten ihr an solch abgelegenen Plätzen noch nie zugehört. Danach spielen wieder die Straßenmusiker.
    Mit Musik Menschen bewegen
    In Hörweite ein paar Meter bergauf spielt ein Saxofon-Quartett. Es spielt vor dem Haus von Max Grossmann, der noch im November 1938, keine zwei Wochen nach dem Pogrom, im KZ Buchenwald ermordet wurde. Es ist 18:30 Uhr. An allen Stolpersteinen wird nun das gleiche Lied angestimmt. "Donna Donna", über das Kalb, das sich nicht dagegen wehren kann, zur Schlachtbank geführt zu werden. Ein älterer Mann, der sich eben einen Textzettel geholt hat, singt leise mit.
    "Durch die Zeitung sind wir aufmerksam geworden, und das Angebot war sehr verlockend. Sonst waren die Veranstaltungen eigentlich immer nur am Westbahnhof und meistens nur trockene Rede. Und die musikalische Untermalung ist eigentlich schon was ganz Schönes."
    Istvan Balogh ist 70 Jahre alt und zum ersten Mal bei einem Gedenken am 9. November. Drei Stationen ist er mit seiner Frau abgelaufen.
    Die nächste und letzte Station ist der Westbahnhof. Seit 1985 gibt es hier, am Ort der Deportation, das Gedenken an die Pogromnacht. So viele wie heute waren noch nie da. 1.000 Menschen schätzt die Polizei. Nach den Ansprachen und dem Kaddisch des Landesrabbiners dirigiert Klaus Wegener die überall im Publikum verstreuten Musiker und alle, die mitsingen willen. Er sieht angestrengt aus und glücklich.