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Musikwissenschaft
Ethnomusikalische Feldforschung im 21. Jahrhundert

Im Rahmen der internationalen Ringvorlesung "Welt Musik Wissenschaft" unternimmt die Universität Wien eine Standortbestimmung der musikethnologischen Forschung. Beteiligt ist auch das Hildesheimer Center for World Music. Dort versucht man, sich vom kolonialistischen Erbe des Fachs zu lösen, und strebt den gleichberechtigten Dialog der Kulturen an.

Von Dörte Hinrichs |
    "Das ist ein Charango aus den Anden, da gibt es verschiedene Stile. Also in Peru wird eher gesurft und in Bolivien eher Begleitung gespielt."
    Schnell fliegen die Finger über das kleine Saiteninstrument, das Dr. Julio Mendivil spielt. Das Charango erinnert ein wenig an eine Ukulele. Dem Peruaner, einer der beiden Direktoren des Centers for World Music an der Universität Hildesheim, ist das Instrument aus den Zentral-Anden geläufig - seine Geschichte genauso wie seine Spieltechnik mit:
    "fünf Doppelsaiten, die Saite in der Mitte ist oktaviert, also das heißt, dass eine eine Oktave tiefer ist als die andere, und in Peru wird immer doppelsaitig gespielt. Und was auch ganz typisch ist, ist, dass das Instrument früher häufig den Resonanzkörper aus dem Panzer eines Gürteltiers hatte. Heutzutage benutzt man auch Holz und die Form einer Gitarre."
    Über 6000 Musikinstrumente und 45.000 Tonträger aus aller Welt gehören zum Forschungsbestand der Einrichtung. Am Center for World Music beschäftigen sich Musikethnologen wie Dr. Julio Mendivil und seine Kollegen zum Beispiel mit Musik und Krieg in den Anden, aber auch mit Musiktraditionen in Usbekistan oder Popularmusik und Folklore in Skandinavien. Eine der größten privaten Sammlungen außereuropäischer Musikinstrumente hat der ehemalige Lehrer Rolf Irle dem Center for World Music gestiftet. Ein Teil der 3000 Instrumente wird in einer ehemaligen Kirche ausgestellt. Berührungsängste mit den zum Teil sehr alten und seltenen Instrumenten hat man hier nicht.
    "Diese Sammlung steht an jedem ersten Sonntag im Monat offen, im wahrsten Sinne des Wortes, die Vitrinen werden geöffnet und die Menschen können die Instrumente anfassen. Rolf Irle, der Sammler führt durch die Sammlung. Und das Vermittlungskonzept ist deutschlandweit einmalig: Hier dürfen die Instrumente explizit angefasst werden, gespielt werden, man darf reinblasen. Das ist sicherlich zum einen für den Erhalt der Instrumente nicht so günstig, andererseits ist Rolf Irle davon überzeugt, dass zu den Instrumenten gehört, dass sie gespielt werden, selbst wenn sie im Museum gelandet sind",
    erzählt Olga Weiss, studentische Hilfskraft am Center for World Music. Auf der Empore ist die Kirchenorgel zu sehen, darunter ein riesiges Horn aus dem Himalaja, ähnlich einem Alphorn. In den Vitrinen sind Saiteninstrumente, Lauten ausgestellt, die über die Seidenstraße nach China gekommen sind und sich dann weiterentwickelt haben. Bei vielen Instrumenten ist man noch dabei, ihre Herkunftsgeschichte zu erforschen. Mendivil:
    "Etwas, was wir ganz interessant finden ist die soziale Biografie der Instrumente. Diese Instrumente haben alle eine Geschichte. Die kommen alle aus anderen Ländern und haben irgendeinen Weg hier gefunden bis zum Center. Diese Instrumente waren an eine soziale Interaktion gebunden und dann wurden die aus diesem sozialen Kontext herausgerissen und haben jetzt eine ganz andere Stellung hier in der Sammlung."
    Einige Hinweise bekommen die Musikethnologen durch Exponate, die den musikalischen Alltag abbilden.
    "Zum Beispiel hier sieht man Leute, die tanzen oder die spielen. Diese Objekte kommen aus Westafrika. Da kann man sehen, dass getrommelt wird und dass dazu getanzt wird. Da können wir einige Informationen aus dem sozialen Kontext ableiten. Ganz interessant sind hier die Lamellophone, die gibt es überall in Afrika mit verschiedenen Namen und auch auf den karibischen Inseln. Und interessant hier ist, dass die Instrumente auch verziert werden, zum Beispiel hier mit einer Gruppe von Tänzern. Es gibt immer Verzierungen, die irgendwelche kulturellen Informationen wiedergeben. Einige haben auch Resonanzkörper aus Kürbisschale."
    Musik aus Lebensmitteln
    Aus Früchten, nicht nur aus Holz und Metall, haben die Menschen in aller Welt Musikinstrumente gefertigt. Und schon seit der Antike werden Tierkörper zu diesem Zweck verarbeitet, nicht nur Felle für Trommeln. So ist zum Beispiel ein Eselsgebiss in der Hildesheimer Sammlung zu sehen und zu hören. Mendivil erklärt:
    "Das ist ein peruanisches Instrument, das wird als Percussionsinstrument gespielt. Also wenn Sie auf den Kiefer schlagen, dann vibrieren die Zähne und dann macht das so ein Geräusch, das wird benutzt als Rhythmusinstrument. (Geräusch) Das waren afrikanische Sklaven, die nach Peru gebracht worden sind. Sehr wahrscheinlich hatten die keine anderen Mittel, Musikinstrumente herzustellen, da haben sie einfach auf das Material zurückgegriffen, was gerade da war. Und die haben alles benutzt, Knochen, Holzstücke, alles."
    Es sieht schon etwas makaber aus, wenn der Totenschädel eines Esels den Rhythmus vorgibt, aber auch der konservierte Panzer von Gürteltieren oder von einer großen Schildkröte, den Julio Mendivil gerade aus der Vitrine holt, wird auf diese Weise wiederbelebt:
    "Das kommt aus Guatemala, darauf wird geschlagen und es wird als Rhythmusinstrument genutzt. Die Quiché-Indianer aus Guatemala spielen das Instrument noch heute, aber das wurde auch in der vorspanischen Zeit in Yucatán und Guatemala gespielt."
    Auch bunt bemalte Holzlöffel aus der Türkei, auf der Sufi-Tänzer abgebildet sind dienen als Musikinstrument. Sie erinnern Olga Weiss, die aus Kasachstan kommt, an die Holzlöffel, die sie aus der russischen Folklore kennt und die oft mit Früchten bemalt sind.
    Rettung von Tonaufnahmen
    Das Center for World Music arbeitet außerdem an der Digitalisierung von klassischen Musikstücken und Unterhaltungsmusik, um das kulturelle Erbe zu erfassen. Musikethnologen haben an Projekten mitgewirkt in Sierra Leone, Malawi, Ghana und Ägypten. Gefährdete Tondokumente konnten gemeinsam mit Wissenschaftlern vor Ort gesichert werden, wie zum Beispiel liturgische Gesänge der koptischen Kirche aus Kairo und frühe Highlife-Aufnahmen aus den Archiven der Ghana Broadcasting Corporation in Accra. Auch 100 Jahre iranische Musiktradition auf Schallplatten wurden konserviert, darunter die ersten Aufnahmen iranischer Sängerinnen aus dem Jahr 1912. Doktoranden aus Hildesheim arbeiten eng mit iranischen Kollegen zusammen, um eine mehrsprachige Datenbank aufzubauen. Dabei kam eine unglaubliche Vielfalt iranischer Musik zum Vorschein, die jetzt in dem digitalen Musikarchiv gesichert wird.
    Beim Austausch zwischen den verschiedenen Musikkulturen am Center for World Music will man auch bewusst neue Wege gehen und sich gegenseitig bereichern, betont Dr. Julio Mendivil:
    "So ein Musikarchiv wie hier hatte früher eine sehr kolonialistische Tradition und das wollen wir nicht weiterführen. Wir wollen eine postkoloniale Politik führen, indem wir die Information, die wir hier gesammelt haben zurückgeben. Zum Beispiel das Projekt, das wir für Peru planen, ist so gedacht, dass wir Leute holen, die hier musikethnologisch ausgebildet werden, aber auch Leute von uns werden nach Peru gehen und auch da eine Ausbildung bekommen. Und da gibt es wirklich einen Dialog und nicht mehr so eine Entwicklungshilfe.
    In der Regel sind das Musiksammlungen, die entweder so Schellack-Platten sind oder Kassetten, Tapes, je nachdem, was für ein Tonträger das ist oder je nachdem, was für Geräte die benutzt haben. Und da haben wir eine gewisse Expertise entwickelt, weil wir das schon gemacht haben in verschiedenen Ländern. Und was wir nicht kennen, ist zum Beispiel der Umgang mit der Musik aus diesen Regionen. Und das ist was, das wir von Kollegen lernen. Wir können manchmal technischen Input geben und bekommen dafür ganz viel inhaltlichen Input."