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Nach Referendum
"Schottland wird mehr Kompetenzen einfordern"

Auch wenn die Unabhängigkeits-Befürworter in Schottland ihr Ziel nicht erreicht haben - viele könnten sich mit dem Ergebnis trotzdem arrangieren, sagte der in Edinburg lebende Soziologe Jan Eichhorn im DLF. Er erwartet nun aber schottische Forderungen nach mehr Autonomie.

Jan Eichhorn im Gespräch mit Bettina Klein | 19.09.2014
    Blick auf einen Stimmzettel zum Referendum, ob Schottland unabhängig werden soll.
    Wie werden sich die Schotten entscheiden? (AFP - LEON NEAL)
    Auf Schottland kommen aus Sicht Eichhorns in den kommenden Monaten Konflikte zu. Viele Bürger könnten sich mit der Idee einer starken "Devolution", also weitgehender Autonomie von der Zentralregierung in London, anfreunden. Dementsprechend werde es nach dem Referendum nun Forderungen nach mehr Eigenständigkeit Schottlands geben.
    Die Frage sei allerdings, wie viel davon schließlich umgesetzt werden könne. Sollte Schottland sich mit seinen Forderungen nicht weitgehend durchsetzen, hält Eichhorn auf lange Sicht neue Unabhängigkeitsbestrebungen für möglich.
    Grundsätzlich sorge der Konflikt zwischen Schottland und der britischen Regierung auch für Proteste in Wales und England. Auch von dort kommen Forderungen nach mehr Autonomie und einer differenzierteren Mitbestimmung.
    Das schottische Referendum sieht Eichhorn als Meilenstein für die Demokratie der Region. An dem politischen Prozess hätten sich viele Menschen beteiligt, die sonst nicht wählen gegangen seien. Er hoffe, dass das Referendum sich nachhaltig positiv auf die schottische Demokratie auswirke.

    Das Interview in voller Länge:
    Bettina Klein: Viele sind früh aufgestanden auf der britischen Insel, oder haben die Nacht vielleicht sogar durchgemacht, und nun ist es klar: Die Befürworter einer Unabhängigkeit Schottlands sind unterlegen. Sie haben sich gestern nicht durchsetzen können beim Referendum. In Edinburgh begrüße ich am Telefon den Sozialwissenschaftler Jan Eichhorn, der an der dortigen Universität forscht, auch und gerade über die Vor- und Nachteile einer Unabhängigkeit von Schottland. Schönen guten Morgen!
    Jan Eichhorn: Schönen guten Morgen.
    Klein: Herr Eichhorn, sind Sie jetzt erleichtert, oder eher ein bisschen traurig?
    Eichhorn: Es ist schon spannend. Einerseits geht es ruhig weiter, es wird nicht ganz so unruhig in den nächsten Wochen und Monaten. Aber es wird trotzdem unglaublich spannend und ich bin auch wirklich gespannt zu sehen, was jetzt in den nächsten Monaten passiert. Denn es wird unglaubliche Einflüsse auf Großbritannien und auch darüber hinaus haben, obwohl es nur ein Nein war, denn so viele Prozesse sind in Gang gesetzt worden, die kaum aufzuhalten sind in dem Sinne, wie sich Schottland und der Rest von Großbritannien vielleicht noch mal anders neu arrangieren müssen.
    Klein: Geben Sie uns ein Beispiel. Womit rechnen Sie?
    Eichhorn: Die Regierung in Westminster und auch die Oppositionsparteien haben Schottland sehr viele weitere Kompetenzen versprochen. Schottland wird die jetzt einfordern. Die Scottish National Party wird sich da vorne an die Spitze stellen und am meisten einfordern. Das Problem ist aber, dass innerhalb der Parteien in Westminster es auch ziemlich viele gibt, die die Idee gar nicht so toll finden. Das heißt, was die Parteiführungen da vorgeschlagen haben, trifft nicht auf besonders viel Gegenliebe, vor allem bei den Konservativen, und das wird ziemlich viele Konflikte in den nächsten Monaten mit sich bringen.
    "Weitreichende Einflüsse auch über Großbritannien"
    Klein: Also auch noch mal ein Machtkampf. Ist denn absehbar, was passiert in Schottland, wenn man sich mit diesen Bestrebungen nicht durchsetzen kann in London?
    Eichhorn: Wir haben im nächsten Jahr die britischen Parlamentswahlen und jede der unionistischen Parteien, die sich nicht wirklich dafür einsetzt, könnte da abgestraft werden. Im Jahr danach sind auch schon wieder schottische Regionalparlamentswahlen und da würden auch noch mal den Parteien gegebenenfalls Denkzettel verpasst werden können. Es könnte aber auch sein, wenn sehr viel durchgesetzt wird, dass einige der Wähler in England dann sagen, Moment mal, Schottland wird immer mehr gegeben, wenn ihr uns jetzt nicht auch endlich eine bessere Vertretung garantiert, dann gehen wir zur UK Independence Party aus Protest. Es gibt also mehrere verschiedene Szenarien, die weitreichende Einflüsse auch über Großbritannien hinaus haben können.
    Klein: Wir haben mit dem Politiker Graham Watson gerade schon darüber gesprochen, dass auch andere Regionen mehr Autonomie und mehr Selbstbestimmung möglicherweise einfordern werden und das alles auch münden kann in einen - das ist die Frage - Umbau des britischen Staates. Was erwarten Sie da?
    Eichhorn: Auf jeden Fall. Die Waliser sind zum Beispiel total unzufrieden. Die sagen jetzt schon seit Monaten, die Schotten begehren sozusagen auf und kriegen dann noch mehr Kompetenzen, und uns werden gleichzeitig die Mittel gekürzt. Die Waliser sind auch tatsächlich unfair behandelt. Die kriegen deutlich weniger an öffentlichen Geldmitteln. Dabei sind sie wirtschaftlich strukturell deutlich schwächer und bräuchten eigentlich eher noch mehr Förderung. Von daher gibt es hier eine ganze Reihe von Punkten, die in den nächsten Monaten und Jahren diskutiert werden müssen.
    Klein: Ist das überhaupt vorstellbar, dass jetzt alle Regionen viel Autonomie, viel Selbstständigkeit einfordern, so wie das die Schotten gemacht haben? Wäre das überhaupt realistisch, das umzusetzen?
    Eichhorn: Die Waliser werden nicht genauso viel umsetzen können, einfach weil sie wirtschaftlich nicht die gleiche Stärke haben. Aber sie werden auch mehr Kompetenzen für sich selber haben wollen und vor allem eine gerechtere Aufschlüsselung der Finanzen, die im Moment ja noch zentral verteilt werden. Von daher wird das nicht nur eine Sache, die zwischen Schottland und England verhandelt werden muss, sondern auch zwischen Wales und Schottland, Wales und England, aber auch innerhalb von England, weil da viele sagen, Moment mal, die schottischen Abgeordneten in Westminster dürfen ja auch über Sachen abstimmen, die nur die Engländer betreffen, und das trifft natürlich auch auf Unzufriedenheit.
    "Unglaublich starker demokratischer Prozess"
    Klein: Herr Eichhorn, Sie leben und arbeiten in Edinburgh. Alle haben gesagt, selbst wenn es so ausgeht, wie es nun ausgegangen ist, wird sich alles verändern, und Schottland habe sich schon verändert im Zuge dieser ganzen Kampagne. Inwiefern?
    Eichhorn: Schottland hat sich dahingehend verändert - und das, was positiv sein wird, war ja jetzt alles sehr unsicher -, dass hier ein unglaublich starker demokratischer Prozess vonstattenging. Seit zwei Jahren wurde hier intensiv diskutiert und vor allem haben viele Leute mitgemacht, die normalerweise nie wählen, die sich nie an Politik beteiligen, und das ist einmalig. Vor allem auch junge Leute. Mit der Wahlalterabsenkung auf 16 wurde ein unglaubliches Potenzial unter jungen Leuten entfacht, und es hat eben gerade ja auch der erste Minister, Alex Salmond gesagt, dass er möchte, dass das Wahlalter generell auf 16 abgesenkt wird. Also wir werden hier einige spannende Sachen erleben im Sinne demokratischer Innovation und deliberativer Demokratie auch, die hoffentlich nicht jetzt hiermit endet, sondern dass das Potenzial, was da eröffnet wurde, jetzt auch genutzt wird und weiterentwickelt wird.
    Klein: Abschließend: Wir haben viel darüber gesprochen in den vergangenen Tagen und Wochen über die Abneigung Richtung London. Die Schotten haben sich beklagt über die Elite, wie sie es verstanden haben, und sich nicht ernst genommen gefühlt. Was passiert jetzt mit all diesen, ja offenbar doch sehr starken Empfindungen?
    Eichhorn: Die Empfindungen sind auch weiterhin da. Aber wir dürfen auch nicht vergessen: Die Mehrheit der Schotten wollte immer auf jeden Fall mehr Autonomie. Aber auch der Großteil derer, die die Unabhängigkeit wollten, findet die Idee einer starken Devolution mit sehr großer Autonomie innerhalb Großbritanniens eine doch gute Lösung, wenn vielleicht auch nicht ihre Ideallösung, aber dann ist das im Prinzip der Kompromissvorschlag, mit dem die meisten Schotten leben könnten. Die Frage ist natürlich, wie viel davon umgesetzt wird, und davon wird viel abhängen. Wenn tatsächlich Schottland noch sich stärker durchsetzen kann, dann könnte ich mir vorstellen, dass da auch eine gewisse Zufriedenheit sich weiterentwickelt. Wenn das nicht groß umgesetzt wird, dann wäre ich auch nicht überrascht, wenn man - wer weiß, vielleicht in 10, 15 Jahren - auch noch mal Bestrebungen zur Unabhängigkeit sieht. Es kommt darauf an, wie gut sich die weiteren Schritte umsetzen lassen.
    Klein: Jan Eichhorn, Soziologe an der Universität Edinburgh, heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk zum Ausgang des Referendums. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch, Herr Eichhorn.
    Eichhorn: Tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.