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Nahost-Konflikt
"Der Gazastreifen ist ein Freiluftgefängnis"

Der Nahost-Experte Michael Lüders wertet den Protest der Palästinenser im Gazastreifen als Ausdruck von Verzweiflung. Wenn man mit 16 Jahren schon wisse, dass man keine Zukunft habe, sei es unter Umständen auch eine Option, sich erschießen zu lassen, sagte Lüders im Dlf. Die Zeichen stünden auf Sturm.

Michael Lüders im Gespräch mit Dirk Müller |
    Michael Lüders, Autor und Nahost-Experte
    Michael Lüders (picture alliance / Karlheinz Schindler/dpa-Zentralbild/ZB)
    Dirk Müller: Welche Rolle spielt dabei die regierende radikalislamische Hamas? Das ist unser Thema mit dem Politikwissenschaftler und Nahost-Experten Michael Lüders. Guten Tag!
    Michael Lüders: Schönen guten Tag, hallo!
    Müller: Herr Lüders, gehört bei der Hamas Gewalt zur Staatsräson?
    Lüders: Es gibt natürlich gewalttätige Elemente innerhalb der Hamas, das ist gar keine Frage. Es gibt aber auch einen pragmatischen Flügel innerhalb der Hamas, der auf Verhandlungen setzt mit Israel. In der Vergangenheit hat die Hamas ihre Karte auch abgewandelt und hat sich direkt wie auch indirekt ausgesprochen für einen palästinensischen Staat an der Seite Israels, also in den von Israel 1967 eroberten Gebieten möchte man einen palästinensischen Staat errichten. Man könnte, wenn man wollte, wahrscheinlich mit der Hamas eine politische Lösung finden, aber das setzt natürlich voraus, dass es auch auf israelischer Seite die Bereitschaft gibt, einen territorialen Kompromiss mit den Palästinensern zu finden und die Gründung eines palästinensischen Staates zuzulassen.
    Müller: Wer hat die Proteste jetzt gesteuert?
    Lüders: Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich eine ultimative Steuerung gab. Ich denke, dass hier zwei Züge parallel gefahren sind. Auf der einen Seite das Engagement der Zivilgesellschaft, denn es gibt viele Palästinenser im Gazastreifen, die natürlich die Verhältnisse für unerträglich halten. Andererseits hat natürlich auch die Hamas dann erkannt, dass diese Proteste politisch zu nutzen wären. Wir müssen mal einen kurzen Blick auf den Gazastreifen werfen. Das ist ein Gebiet von der Größe Bremens, und es leben dort fast zwei Millionen Menschen unter sehr schwierigen Verhältnissen. Das Gebiet ist hermetisch abgeriegelt, es gibt keine Möglichkeit, hinein- oder hinauszukommen, ohne dass die israelischen Behörden zusagen. Das gilt auch für den Grenzübergang auf der ägyptischen Seite. Die Ägypter arbeiten eng mit den Israelis zusammen, und beide sind sich einig, man möchte die Palästinenser nicht rauslassen. Und das hat gravierende Folgen zum Beispiel in der Gesundheitsversorgung, die in weiten Teilen zusammengebrochen ist. Die Kriegsfolgen 2014 sind noch immer nicht beseitigt. Es ist ein Freiluftgefängnis, von dem die Vereinten Nationen sagen, dass es im Jahr 2020 - das ist ja nun nicht mehr so weit weg - nicht mehr bewohnbar sein wird aufgrund der Versalzung der dortigen knappen Wasservorräte und des Zusammenbruchs der Versorgung mit Lebensmitteln.
    "Die Palästinenser sind die großen historischen Verlierer"
    Müller: Es wird ja jetzt viel diskutiert, Herr Lüders, über die Verantwortlichkeiten auf beiden Seiten. Viele sehen das ganz einseitig, die Israelis sagen, das waren die Palästinenser schuld, die Hamas-Führung, ganz klar, hat das Ganze gesteuert, manipuliert, forciert, wie auch immer interpretiert. Die Hamas, viele Palästinenser äußern sich ganz genau in die gegenteilige Richtung. In der internationalen Politik ist das Vorgehen Israels äußerst umstritten. Wenn wir aber noch einmal auf die Hamas schauen: Jetzt war dieser Tag programmiert, er war angesagt, er war fest einprogrammiert, das heißt, er war auch kalkulierbar. Und dennoch kommt es zu dieser gewalttätigen Auseinandersetzung, zu diesen Toten, zu diesen vielen Verletzten, wie auch schon vor einigen Wochen. Warum konnte das niemand verhindern?
    Lüders: Was sollen die Palästinenser denn machen? Die Palästinenser sind die großen historischen Verlierer der Auseinandersetzung mit den jüdischen Israelis. Beide Völker beanspruchen das historische Land Palästina für sich. Die Palästinenser waren ursprünglich bereit, im Friedensvertrag von Oslo von 1993, sich zu begnügen mit einem palästinensischen Staat im Westjordanland und im Gazastreifen mit Ostjerusalem als Hauptstadt. Das hätte bedeutet, dass sie 25 Prozent des historischen Gebiets von Palästina für ihren Staat erhalten hätten. Die Israelis hätten 75 Prozent bekommen. Aber zu der Umsetzung dieser Lösung ist es nicht gekommen, die Siedlungspolitik hat mittlerweile 60 Prozent des Westjordanlands für jüdische Siedlungen dienstbar gemacht. Die Bewegungsfreiheit der Palästinenser, ihre Lebensmöglichkeiten werden immer weiter eingeschränkt, und unter den Nationalkonservativen in Israel glaubt man, dass man diese leidige Palästina-Frage irgendwie lösen könnte mit militärischer Gewalt und dadurch, dass man den Palästinensern klar signalisiert, ihr habt keine Chance. Und das wird aber nicht funktionieren, weil natürlich der Widerstandswille sehr ausgeprägt ist.
    Müller: Herr Lüders, um da noch mal zu unterbrechen: Wäre denn Wegbleiben, und zwar das öffentlich zu thematisieren, das öffentlich zu filmen und klar zu machen, wir sind weggeblieben trotz dieser Provokation, jedenfalls aus palästinensischer Sicht, wäre das nicht eine denkbare bessere Alternative gewesen?
    "Die Palästinenser werden weiterhin Widerstand leisten"
    Lüders: Weg bleiben von den Protesten, meinen Sie?
    Müller: Von den Grenzzäunen, von den Provokationen, Abstand nehmen, eben gar nicht erst hinzugehen.
    Lüders: Ja, natürlich, das wäre theoretisch sicherlich eine Option gewesen, aber so funktioniert Emotionalität nicht, so funktioniert Politik und Psychologie nicht. Es ist ein historischer Tag, dieser Nakba-Tag, die Erinnerung an die Vertreibung der Palästinenser im Zuge der israelischen Staatsgründung, und das ist sehr tief eingewachsen in die palästinensische Identität, wenn man so will. Und die Palästinenser werden auch weiterhin Widerstand leisten, vor allem, weil sie wissen, dass sie keine Chance haben. Sie bekommen ja ihren Staat nicht.
    Müller: Die Führung sitzt ja irgendwo ganz gesichert und schickt dann Jugendliche und Kinder nach vorn.
    Lüders: Ich weiß nicht, ob man das so zugespitzt sagen kann. Man könnte ja auch sagen, wie kann es eigentlich sein, dass von israelischer Seite aus mit Scharfschützen auf Demonstranten geschossen wird, dass von israelischer Seite der Tod von Demonstranten und die Verletzung einer sehr großen Zahl von Protestierern in Kauf genommen wird. Rein theoretisch könnte man ja auch mit Wasserwerfern gegen die Demonstranten vorgehen. Noch einmal: Die Palästinenser haben das Problem, wenn Sie sich friedlich verhalten und auf Verhandlungen setzen, wie das ja Mahmud Abbas, der Präsident der Autonomiebehörde versucht hat seit Jahren, dann bekommt man nichts von der israelischen und der amerikanischen Seite. Wenn man auf Gewalt setzt, gilt man als Terrorist und bekommt erst recht nichts. Also egal, was die Palästinenser tun, es gilt hier die Sponti-Parole: "Du hast keine Chance, also nutze sie".
    Müller: Also für Sie ist das schwarz-weiß?
    Lüders: Nein, für mich ist das nicht schwarz-weiß. Für mich ist die Tragik die, dass auf israelischer wie auch auf palästinensischer Seite ein starker Hardliner-Flügel existiert, der glaubt, man könnte mit Maximalforderungen alles erreichen. Aber die Macht liegt weitgehend aufseiten der Israelis. Was die Palästinenser im Gazastreifen machen, ist in erster Linie Hilflosigkeit, auch Ausdruck von Verzweiflung. Denn wenn man mit 16 schon weiß, dass man keine Zukunft hat, dann ist es unter Umständen auch eine Option, sich erschießen zu lassen – wäre gewiss nicht unser Lebensweg, aber die Verhältnisse dort sind eben sehr dramatisch, und sie werden nicht besser werden. Es geht jetzt darum, eine Friedenslösung zu finden. Wie soll die aussehen? Die Amerikaner und die Israelis verständigen sich mit Mohammed bin Salman, dem allmächtigen Kronprinzen Saudi-Arabiens, und die Verhandlungen, die jetzt geführt werden für eine Lösung der Palästina-Frage sind an Absurdität kaum zu toppen. Die Verhandlungen gehen dahin – was heißt Verhandlungen? Mohammed bin Salman hat dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas ultimativ mitgeteilt, mit Unterstützung der Amerikaner und der Israelis, dass die Palästinenser nur einen Teil des Westjordanlandes für sich bekommen, einen kleinen Teil, etwa 40 Prozent, mit Abu Dis als Hauptstadt. Abu Dis ist eine kleine Stadt östlich von Ostjerusalem, die dann als Hauptstadt dienen soll. Und gleichzeitig, man höre und staune, soll der Gazastreifen in Richtung Nordsinai verlängert werden, etwa bin in Höhe al-Arisch. Und dieses Gebiet sollen die Palästinenser bekommen, hier soll Palästina neu entstehen. Wie das funktionieren soll, ein völliges Rätsel. Aber in diese Richtung gehen die Verhandlungen.
    Palästina als "eine Art Indianerreservat"?
    Müller: Das ist für viele ja vollkommen neu, die das jetzt hören, was Sie jetzt sagen. Das heißt, das ist schon durchaus ein Plan, der konkretisiert ist, der irgendwo auf dem Tisch liegt?
    Lüders: Der wird verhandelt, diskutiert. Mahmud Abbas ist Ende 2017 nach Riad, in die saudische Hauptstadt einbestellt worden, und Mohammed bin Salman hat ihn, wie mehrere Quellen berichten, ultimativ aufgefordert, die amerikanischen Vorstellungen anzunehmen. Das hat er natürlich nicht getan, das würde kein Palästinenser politisch überleben. Ob es für die Umsetzung eines solchen Planes kommt, ist auch völlig offen. Aber nichtsdestotrotz, in diese Richtung wird gedacht. Man glaubt, dass man diese Palästinafrage in einer Art Indianerreservat entsorgen könnte. Das wird nicht funktionieren. Man darf nicht vergessen, dass zwischen dem Mittelmeer und dem Jordanfluss, also im historischen Gebiet Israel-Palästina mittlerweile mehr Nichtjuden als Juden leben. Und die Vorstellung, dass also eine jüdische Minderheit auf Dauer über eine nichtjüdische Mehrheit herrschen könnte, das wird nicht funktionieren. Es hat jedenfalls im vorigen Jahrhundert in Südafrika nicht gepasst, nicht funktioniert, und es wird auch in diesem Jahrhundert im Nahen Osten nicht funktionieren. Die Zeichen stehen auf Sturm. Man darf die Konflikte auch nicht isoliert betrachten. Dieselben Kräfte in den USA, die den Umzug der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem betrieben haben, sind auch diejenigen, die die Konfrontation mit dem Iran suchen, und das macht die ganze Sache so gefährlich.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.