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Neue Medien
Gleichschaltung oder Befreiung?

Täglich erleben Menschen in modernen Gesellschaften, wie sich ihr Alltag durch den Einsatz der Neuen Medien verändert. Dem Gewinn an individuellen Zugangschancen zu Kommunikation, Konsum und Wissen stehen erhebliche Verluste im Angebot von personenbezogenen Dienstleistungen gegenüber, an deren Existenz und Qualität die Bürgerinnen und Bürger großes Interesse haben.

Von Christiane Bender |
    .Ein Finger zeigt auf das Symbol eines Einkaufwagens auf einer Taste einer Computertastatur.
    Schon jetzt ist erkennbar, dass der Online-Handel zu Defiziten in der Versorgung der Bevölkerung durch Läden des Einzelhandels führt. (picture alliance / ZB / Jens Büttner)
    Watson heißt der neue Arzt. Vor ein paar Monaten wurde er vorgestellt, aber nicht etwa auf einem Ärzte-Kongress, sondern auf der CeBIT, der großen Computermesse in Hannover. Denn Watson ist kein Mensch. Er ist ein gigantischer Parallelrechner, ein Supercomputer von IBM. Künftig soll er in Krankenhäusern und Praxen das medizinische Personal bei der Behandlung von Patienten unterstützen und kontrollieren, wenn nicht gar ersetzen. Außerdem lässt sich Dr. Watson mit den Datenpools von Patienten vernetzen, die mit Apps ihren Gesundheitszustand rund um die Uhr überwachen und optimieren. Der digitale Arzt und das digitale Krankenhaus sind keine Utopien einer fernen Zukunft: Schon seit Jahren rufen Patienten in den USA die Tipps der Electronic Nurse zuhause am Computer auf. Sie ersparen sich so eine teure Behandlung und den Weg in die nächste Praxis. Auch die Deutschen, die viel häufiger als ihre Nachbarn zum Arzt gehen, nutzen längst Onlineportale und Chatrooms, um ihre Krankheit selbst zu diagnostizieren.
    Computer bekommen eine immer größere Bedeutung für die Behandlung von Patienten. Schon seit Langem werden erfolgreich computergestützte Erhebungs- und Auswertungsverfahren in der Medizin verwendet. Aber der Trend, dass die algorithmisierte Auswertung von massenhaften Patientendaten zunehmend die Grundlage für ärztliche Entscheidungen bildet, beunruhigt. Es ist zu begrüßen, dass Ärzte die Chance bekommen, ihre Praxis vor dem Hintergrund umfangreicher Daten zu überdenken. Aber wenn es für sie schwieriger wird, die Algorithmen ihrer Computerprogramme zu durchschauen, ist Kompetenzverlust die unvermeidliche Folge. Die Patienten sehen sich mit der Frage konfrontiert: Wem vertrauen sie eigentlich? Den Ärzten, den Computern oder sich selbst?
    Das digitale Krankenhaus
    Die Ärzte leiden jedoch nicht nur unter dem Entzug des Vertrauens durch die Patienten. Auch die eigenen Organisationen vertrauen ihnen nicht. Deren Betreiber nutzen elektronische Systeme, vergleichbar wie in vielen anderen Organisationen, zur Steuerung und Kontrolle von Abläufen, Kosten und Personal. Als Folge klagen Ärzte und Krankenschwestern über bürokratische Belastungen und den Abbau ihrer Freiräume. Die Patienten vermissen Aufmerksamkeit und Zuwendung durch das Personal.
    Das digitale Krankenhaus ist ein komplexes Gebilde, auf das verschiedene gesellschaftliche Akteure Einfluss nehmen. Dazu zählen die Unternehmen der Gesundheitsindustrie und Produzenten der digitalen Technologien, die privaten und öffentlichen Betreiber, die Beschäftigten auf den unterschiedlichen Stufen der Hierarchie, die medizinischen Forschungsinstitute und schließlich die Patienten mit ihrem Interesse, nichts für ihre Gesundheit zu versäumen. Im Zuge des demografischen Wandels und des medizinischen Fortschritts ist Gesundheit zu einem massenhaft nachgefragten Konsumgut geworden. Bei nahezu allen beteiligten gesellschaftlichen Akteuren besteht daher Einigkeit, dass die Digitalisierung das probate Mittel ist, um medizinisches Personal mit dem notwendigen Wissen zu versorgen und um Leistungen massenhaft und kosteneffizient anzubieten.
    Doch die Gefahr ist groß, dass eine solche technologische Modernisierung im Gesundheitssystem - letztlich nach industriellem Vorbild - zu einer Standardisierung der Beziehungen zwischen den Beteiligten führt. Die nicht-technischen Aspekte der medizinischen Dienstleistungen wie individuelle Zuwendung, gewachsene Erfahrungen und persönliches Vertrauen werden unterminiert und für viele Patienten zu raren Gütern.
    Krankenhäuser sind in vielerlei Hinsicht ein Brennspiegel des raschen gesellschaftlichen und vor allem technologischen Wandels, den wir derzeit beobachten. In mancher Hinsicht sind wir "bloße" Zeitzeugen, zumeist aber Promotoren, also aktiv daran beteiligt. Die Politik gibt der Bevölkerung Impulse, noch forcierter als bislang, die digitalen Technologien in das Alltagsleben zu integrieren.
    Wissenschaftsjahr der digitalen Gesellschaft
    Das Bundesministerium für Bildung und Forschung, an dessen Spitze die Diplom Mathematikerin und Bundesforschungsministerin Johanna Wanka, steht, hat 2014 zum Wissenschaftsjahr der digitalen Gesellschaft erklärt. Die Ministerin fordert Auf- und Nachrüstung in Richtung Digitalisierung, Big Data und elektronischer Vernetzung, um Wachstum und Wohlstand für Deutschland zu sichern. Angesichts dieser Mobilisierung können wir damit rechnen, dass die noch nicht digitalisierten Räume unseres Lebens über kurz oder lang unter Veränderungsdruck geraten.
    Doch verstehen wir überhaupt, was Digitalisierung bedeutet? Viele Individuen, vor allem jüngere, feiern begeistert die technischen Möglichkeiten, die sich ihnen bieten: Vervielfältigung der Kommunikationsmöglichkeiten, Optimierung der eigenen Handlungschancen, Zugang zu Informationen sowie Steigerung der Selbstkontrolle. Andere fühlen sich hin- und hergerissen von ambivalenten Gefühlen innerhalb eines Prozesses, der immer schneller Tempo aufnimmt, der scheinbar subjektlos verläuft und nicht zu stoppen ist. Denn es geht nicht nur um technische Veränderungen und individuelle Nutzungsstrategien, sondern auch um tief greifende kulturelle Eingriffe, die das Leben der Bürger neu strukturieren. Dafür benötigen sie Einsicht und Überblick, vor allem, wenn sie an der Gestaltung der digitalen Gesellschaft mitwirken wollen.
    Geht es also in der digitalen Gesellschaft um mehr persönliche Freiheit und Befreiung oder droht Gleichschaltung, Kontrolle und Abhängigkeit?
    Dramatische Veränderungen für die Bürger weltweit
    Martin Schulz, der Präsident des Europaparlaments, hat zu dieser Frage Stellung bezogen. Er zweifelt nicht daran, dass weitere dramatische Veränderungen auf die Bürger weltweit zukommen. Er vergleicht daher die digitale Revolution mit der frühen Industriellen Revolution. Mechanisch arbeitende Maschinen ersetzten damals vorwiegend manuelle Tätigkeiten. Die Auswirkungen immer weiterer maschineller Anwendungen waren radikal: Die agrarisch-feudale Welt mit ihren Lebensformen, zwischenmenschlichen Beziehungsmustern und ihrer Kultur wurde in den Abgrund getrieben. Das Industriezeitalter brachte neue soziale Akteure, die Unternehmer und die Arbeiterschaft, mit völlig neuem Selbstverständnis hervor. Ihre Lebensbedingungen waren durch fortschreitende betriebliche Arbeitsteilung, die Trennung von Arbeit und Freizeit, kleinere Familienhaushalte und durch wachsende Städte geprägt. Karl Marx analysierte dieses Zeitalter der Industrialisierung: Die Lohnarbeit habe die besitzlose Masse aus der feudalen Abhängigkeit befreit und individualisiert. Sie brachte ihnen also Vorteile. Aber der Preis dafür sei der kollektive Zwang, der auf jedem Einzelnen lastete, sich mit geradezu militärischer Disziplin der mechanisierten Arbeitswelt anzupassen und zu unterwerfen.
    Heutzutage klagen viele Berufstätige, dass die seit der Industrialisierung überlieferten Formen der Arbeitsteilung, insbesondere die Unterscheidung zwischen Arbeit und Freizeit, nicht mehr gelten. Diese Entgrenzung der unterschiedlichen Lebensbereiche erzeugt Stress. Mit Smartphones wird - wie niemals zuvor - die Freizeit an die Arbeitswelt angepasst. Die Leitbilder der modernen Arbeitswelt, Multitasking, Mobilität, permanente Erreichbarkeit und Flexibilität, steuern zunehmend das Privatleben. Mobilfunkgeräte symbolisieren diese Ziele auf unnachahmliche Weise. Viele Organisationen erwarten von ihren Mitarbeitern flexible Verhaltensweisen, die auf deren Freizeit übergreifen. "Abschalten" wird aufgrund des gestiegenen Erwartungsdrucks und der erweiterten Kontrollmöglichkeiten schwer.
    Aber auch Individuen ohne beruflichen Druck inszenieren sich mit dem uniformen Verhaltensmuster der Mobilkommunikation. Der Anpassungsdruck an die Technik, den schon die frühe Industrialisierung ausgelöst hat, ist aus den betrieblichen Arbeitsprozessen in das Freizeitverhalten vieler moderner Menschen gewandert. Dennoch haben auch Erwerbstätige ein Interesse daran, die Technik für ihre Ansprüche an eine moderne flexible Arbeitswelt zu nutzen. Die Möglichkeit, am Computer vom Home Office zuhause zu arbeiten und mit den relevanten Informationen und Kommunikationen vernetzt zu bleiben, bietet große Chancen für eine selbstbestimmte Einteilung der Arbeit und für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
    Kampf um die Macht
    Martin Schulz gibt noch einen zweiten wichtigen Hinweis: Der Einsatz von Maschinen im frühen Industriezeitalter spielte sich als politischer Kampf um die Macht zur Regulierung der industriellen Arbeitswelt und des Technikeinsatzes ab. Die dabei erzielten Lösungen unterschieden sich jedoch in den europäischen Kernländern und den USA erheblich: In Europa konnten traditionelle, nicht-technisch dominierte Arbeits- und Lebensformen bewahrt und mit den Interessen vieler Menschen, beispielsweise an der Aufrechterhaltung von patriarchalen Herrschaftsformen im Handwerk und in der Familie, in Übereinstimmung gebracht werden. Die Bändigung des Industriekapitalismus durch weitreichende Regulierungen des Marktes, vor allem des Arbeitsmarkts, durch sozialpolitische Absicherungen, genossenschaftliche Selbsthilfestrategien und die berufliche Bildung prägten und prägen Deutschlands Ringen um eine sozial verträgliche Gestaltung des industriellen Technikeinsatzes bis heute. Dies sollten wir uns vor Augen halten, wenn wir den digitalen Herausforderungen begegnen.
    Ganz anders verlief die Entwicklung beim industriellen Späteinsteiger USA: Weder Tradition noch Politik boten nennenswerte Widerstände gegen den marktwirtschaftlich vorangetriebenen, technikorientierten Fortschritt. Energieversorgung, Produktion, Kommunikation, Transport und Konsum wurden technologisch vernetzt und forderten von den Menschen eine ihr gesamtes Leben bestimmende Anpassung ein. Der American Way of Life hieß schon bald Massenproduktion für den Massenkonsum. Die Fließbandarbeit, mit der die Güter des Alltagslebens gefertigt wurden, machte das Prinzip einer im großen Stil erreichten Integration und Kontrolle der arbeitenden Massen deutlich. Deren Anpassung an die technologischen Bedingungen der Arbeitswelt wurde mit der Chance belohnt, die von ihnen nach standardisierten Verfahren produzierten Massenwaren (Häuser, Wohnungen, Autos, Elektrizität, Küchengeräte) zu konsumieren. Massenproduktion und kommerzialisierter Massenkonsum galten und gelten noch heute als Kern einer funktionierenden freiheitlichen Gesellschaft und als Ideal der amerikanischen Demokratie.
    Amerika prägt das Internet
    An dieses Produktions- und Konsumideal setzt die Fertigung des Computers für breite Bevölkerungsschichten in den USA an. Thomas Betschon, Experte für Medien und Informatik der "Neuen Zürcher Zeitung", bringt es auf den Punkt: "Das Internet ist durch und durch amerikanisch geprägt." Es sollte in den 70er Jahren kein elitäres Projekt amerikanischer Universitäten bleiben, sondern massenhaft in privaten Haushalten Anwendung finden. Die rasche Eroberung dieses Marktes war das Ziel der Entwicklung von Hard- und Software aus dem vormals militärischen Kontext zum Massenkonsumgut im großen Maßstab. Die Firma Apple beispielsweise produzierte 1984 den Macintosh als leicht bedienbaren PC, der auch für private Nutzer erschwinglich war. Erst die durchdringende Digitalisierung löst sukzessive das Steuerungs- und Kontrolldefizit der industriellen Massenproduktion, das Verhalten der Individuen zwar zu kontrollieren, aber auf deren Bewusstsein kaum Einfluss nehmen zu können.
    Worin liegt also das Neue der Digitalisierung? Die digitale Revolution führt die Industrielle Revolution fort. Diesmal geht es aber nicht um manuelle Tätigkeiten, die durch Technik ersetzt werden, sondern um die Objektivierung von Wissen, Erfahrungen und Kenntnissen. In dieser Hinsicht stehen die elektronischen Technologien in einer langen kultur- und zivilisationsgeschichtlichen Tradition der Menschen, ihr Bewusstsein auszudrücken und zu vergegenständlichen. Aber die Fähigkeit, Informationen und Kommunikationen massenhaft und ohne größeren Zeitaufwand zu speichern, zu vervielfältigen und global zugänglich zu machen, stellt alle bisherigen Methoden, beispielsweise die des Buchdrucks, in den Schatten. Jede Äußerung, jedes Gespräch, jeder Text oder jedes Bild könnte im Prinzip schon während der Herstellung, ohne Bezug auf den Produzenten und auf dessen Kontrolle, gespeichert und weltweit vertrieben werden.
    Zugang zu immateriellen Gütern
    Wissen, Erfahrungen und Kenntnisse sind die Grundlage von Kultur und Zivilisation. Bislang werden in den modernen Gesellschaften diese immateriellen Güter vor allem von Berufstätigen durch personenbezogene Dienstleistungen gepflegt, entwickelt und weitergegeben. Ein ausgebautes Beschäftigungsfeld von Dienstleistungen, die der Öffentliche Dienst, der Markt und der Non-Profit-Sektor anbieten, gewährleistet den Bürgern Zugang zu den immateriellen Gütern, die sie für ihr selbstbestimmtes Leben benötigen. Immer mehr Bürgern steht beispielsweise das medizinische Wissen von Ärzten, das bibliografische Wissen von Bibliothekaren, das überlieferte Fachwissen von Lehrern und das Beratungswissen von Sozialarbeitern zur Verfügung.
    Ein besonderes Merkmal von personenbezogenen Dienstleistungen ist die unmittelbare Beziehung von Konsumenten und Produzenten. Die digitalen Medien als zunehmend global vernetzte und ent-personalisierte Wissensspeicher werden höchstwahrscheinlich dazu beitragen, viele dieser personenbezogenen, wissens- und letztlich auch vertrauensbasierten Dienstleistungen zu verändern, wenn nicht gar zu beseitigen, die das innerste Wesen heutiger moderner Dienstleistungs- und Wissensgesellschaften ausmachen.
    In Deutschland kristallisierte sich eine dienstleistungsstarke Gesellschaft erst spät mit der Expansion der Bildungseinrichtungen seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts heraus. Nicht Fabriken, sondern Bildungs- und Kultureinrichtungen, wohlfahrtsstaatliche Organisationen, Medienanstalten, Verwaltungen, Tourismus, Museen, Bibliotheken, Restaurants, Cafés, Einzel- und Großhandel mit ihren Angeboten prägen seitdem das attraktive Profil unserer Großstädte. Kulturelle und gastronomische Angebote bieten einem wachsenden Tourismus dankbare Orte. Mit einem vielfältigen Dienstleistungsangebot sichern Kommunen ein hohes Niveau der Versorgungs- und Lebensqualität ihrer Einwohner, zumal für Individualisten. Und Individualisten, die sich aus traditionellen Lebensverhältnissen befreien, sind zumeist besonders bedürftig nach immateriellen Gütern, sei es für ihre Bildungszwecke, sei es für Freizeitvergnügen, sei es um gesund zu bleiben oder lediglich, um das alltägliche Leben mit seinen Risiken zu bewältigen.
    Soziale Unterschiede nivelliert
    Zudem gelten Gesellschaften, die ihrer Bevölkerung einen umfangreichen Zugang zu sozialen Dienstleistungen bieten, als äußerst friedfertig. Sie haben so die schweren Konflikte der frühen Industrialisierungsphase überwunden und soziale Unterschiede nivelliert. Partizipation und Integration von sozialen Gruppen setzen die Wirksamkeit von Dienstleistungen voraus, oder - um es pathetisch zu sagen - die personenbezogenen Dienstleistungen tragen zur sozialen Ankerung im alltäglichen Training der Kunst des Sich Aufeinander Einstellens bei.
    Die sich permanent weiterentwickelnden Nutzungsmöglichkeiten der digitalen Technologien werden - soviel ist schon zu erkennen - die persönliche Struktur dieser Tätigkeiten verändern, ja gefährden. Davon sind einfache wie hoch qualifizierte Tätigkeiten betroffen, und besonders Berufe, die mit der Erarbeitung und Weitergabe von Wissen befasst sind. Das in den Dienstleistungen vermittelte Wissen wird sukzessive ent-subjektiviert und objektiviert und mithilfe von industriell gefertigten Konsumgütern global zugänglich gemacht. Die Konsumenten gewinnen dabei zunächst mehr Wahlmöglichkeiten. Sie erhalten zusätzliche Alternativen, die sie sich selbst über ihren Netzzugang erschließen.
    Aber wie lange werden die realen Angebote der "virtuellen" Konkurrenz standhalten? Die Ökonomisierung vieler Einrichtungen nach dem McDonald's-Prinzip hat einer entindividualisierten Massenproduktion von Dienstleistungen nach industriellem Vorbild bereits vorgearbeitet. Manche Ökonomen glauben, dass sich die meisten Dienstleistungsberufe von dieser Schwächung niemals erholen und künftig sogar verschwinden.
    Die Prosumenten von Dienstleistungen
    Jonathan Gershuny wagte bereits 1977 eine derart pessimistische Prognose.
    Er skizzierte idealtypisch einen neuen sozialen Akteur, der die moderne Dienstleistungsgesellschaft mit ihren Berufen untergräbt und der Industrie hilft, den tertiären Sektor mit neuen Produkten zu erobern. Gershuny nennt diesen Akteur Prosument. Prosumenten sind Produzenten und Konsumenten von Dienstleistungen in einer Person. Sie investieren Eigenarbeit, um sich zu informieren, und nutzen industriell gefertigte Produkte und Technologien, die sie von den Diensten anderer Personen unabhängig machen. Sie können so, weitgehend ohne soziale Verankerung, ihre Bedürfnisse befriedigen.
    Durch die Digitalisierung gewinnen die Prosumenten rasant an Bedeutung. Das Internet ermöglicht ihnen Zugang zu dem vielfältigen Wissen, ohne die dafür bislang zuständigen Berufstätigen mit den entsprechenden Einrichtungen in Anspruch zu nehmen. Beispielsweise der Trend, sich über die Bestände von Bibliotheken über das Internet zu informieren und Bücher online einzusehen, erübrigt oft den Besuch vor Ort. Die Frage bleibt offen, ob die geschaffenen Zugangschancen für die digitalisierten Güter, hier: die gespeicherte Literatur, die Nachfrage sichern oder erweitern können.
    Eine Gesellschaft, in der Prosumenten dominieren und personenbezogene Dienstleistungen übergangen und eingespart werden, nennt Jonathan Gershuny "Self-Service-Economy" oder "Selbstbedienungsgesellschaft". Ihm stand deutlich vor Augen, dass eine Gesellschaft von individualisierten (optimierungssüchtigen) Prosumenten, gerade aufgrund ihrer Vereinzelung und schwächeren sozialen Ankerung, autoritären Entwicklungen wenig entgegenzusetzen hat.
    Veränderungen im stationären Einzelhandel
    Betrachten wir die Veränderung in einem Wirtschaftszweig, den die meisten von uns als selbstverständlich gegeben voraussetzen, der aber durch den Wandel im Verhalten der Konsumenten zu Prosumenten massiv unter Druck gerät: der stationäre Einzelhandel.
    Prognosen zufolge sinken künftig dessen Umsätze rapide, während die des Online-Versands rasant steigen: Elektrogeräte, DVDs, Bücher, Textilien, Spielwaren, Kosmetikartikel, Brillen, Medikamente, ja sogar Lebensmittel werden zunehmend online bestellt. Da immer mehr Menschen Laptops, Smartphones und Tabletcomputer besitzen und viele ihre Handys mit Internetzugang weniger als zwei Stunden am Tag aus der Hand legen, wird die Entwicklung voraussichtlich noch zunehmen. Die Verbraucher wollen sich möglichst an jedem Ort und zu jeder Zeit, ohne lästige Hemmnisse wie Öffnungszeiten, Sortimentsgrenzen und Bedienungsmängel informieren und ihre Bestellungen auf den Weg bringen. Vor allem den Läden kleinerer und mittlerer Händler, die unsere Quartiere so lebens- und liebenswert machen, zumeist familiengeführte Geschäfte, fällt es schwer, strategisch, etwa durch Kombination von Offline- und Online-Handel, zu reagieren.
    In weniger beliebten Quartieren von Großstädten, in kleineren und mittleren Kommunen, zeigt sich schon jetzt, dass stationäre Läden und ganze Einkaufszentren nicht mehr modernisiert werden und - nach einiger Zeit - schließen. Hinzu kommt, dass das beschäftigungspolitische Stiefkind, der Einzelhandel mit überwiegend Frauenarbeitsplätzen, einem hohen Anteil an Teilzeitarbeitsplätzen und niedrigen Verdiensten, aufgrund der schlechten Ertragslage vermehrt kurzfristig angelernte Beschäftigte einstellt. Ausgebildete Fachkräfte haben das Nachsehen. Die Masse der Käufer wird - über kurz oder lang - wenige Alternativen zum Online-Shopping haben, die dahinter stehenden Unternehmen gewinnen zusehends an Marktmacht.
    Genossenschaftliche Gegenwehr
    Prosumenten als Bürger, die ein lebenswertes Umfeld mit vielfältigen Dienstleistungsangeboten assoziieren, werden sich schon bald veranlasst sehen, ihre durch Selbstbedienung gewonnene Zeit zu nutzen, um die Versorgungssituation in ihren Quartieren - nach frühindustriellen Modellen genossenschaftlicher Gegenwehr - selbst zu organisieren. Oder sie helfen den heimischen Anbietern, mit lokal- und wirtschaftspolitischen Lösungen wie Regionalwährungen, ihre Existenz zu sichern.
    Die Schatten der künftigen Entwicklung wirft das Verschwinden der Buchhandlungen voraus. Das Verhalten der Prosumenten trägt, neben weiteren Faktoren, dazu bei, die Branche in die Knie zu zwingen: Aus vielen Kommunen und Quartieren sind Buchhandlungen längst verschwunden. Verbleibende Läden bieten ihren Kunden ein immer geringeres Buchsortiment an. Kundenbindung, gute Beratung, Öffnung von Erlebnisräumen und intellektuellen Oasen heißen Rezepte, um Standorte zu sichern.
    Aber in den Läden sind immer weniger ausgebildete Buchhändler anzutreffen. Die Zukunft des Berufes ist ungewiss. Das Internet hat das Leseverhalten massiv verändert. Zwar lesen die Deutschen noch, aber viele Texte, etwa wissenschaftliche Abhandlungen, erscheinen nur Online. Wikipedia hat das Interesse am Kauf von Nachschlagewerken zum Erliegen gebracht. Hinzu kommt die elektronische Verfügbarkeit von Büchern über Lesegeräte.
    Doch inzwischen wird den meisten Prosumenten klar: Der Großversand Amazon ist kein vertrauensvoller Partner wie es vielleicht der Buchhändler vor Ort war. Amazon verdient nicht nur am Versand von Konsumgütern und als Verlag.
    Beispiel Amazon
    Jeff Bezos, der Gründer, nennt seine Motive: Eine Buchhandlung sei ein guter Ort, um möglichst viele Daten von zahlungskräftigen und gebildeten Kunden zu erlangen. Amazon rationalisiert also nicht nur den massenhaften Vertrieb von Konsumgütern, sondern greift auf die üblicherweise vertraulichen und geschützten Informationen seiner Kunden zu, sammelt Mailadressen und erstellt Kundenprofile für eigene Werbezwecke oder um sie weiterzuverkaufen. Diese Aspekte erweitern Gershunys Sozialfigur vom Prosumenten als Selbstbediener: Die mächtigen Internetkonzerne Amazon, Facebook und Google bedienen sich ihrerseits am Prosumenten. Sie greifen auf dessen persönliche Daten zu, kommerzialisieren diese und kontrollieren darüber die Nutzer.
    Der frühen industriellen Massenproduktion und Massenkonsumtion gelang lediglich der Einfluss auf die äußere Verhaltensanpassung. Der Einsatz der elektronischen Medien dagegen erreicht das Bewusstsein der individuellen Prosumenten unmittelbar als Gegenstand von Kontrolle und Manipulation. So generiert Amazon über das elektronische Lesegerät Kindle unmittelbare Daten zum Leseverhalten: Welche Bücher werden gelesen? Wo steigen Leser aus? Wie viel Zeit benötigen sie? Welche Passagen werden mehrfach aufgerufen?
    Auswirkungen auf das Angebot der Massenliteratur
    Der enge Zusammenhang zwischen der wachsenden Marktmacht der Internetgroßhändler und dem kontrollierten Bestell- und Leseverhalten der Kunden wird sich künftig mit Sicherheit auf das Angebot der global verfügbaren standardisierten Massenliteratur auswirken. Die Existenz von Autoren, Verlagen, Buchhandlungen und schließlich auch von Printmedien könnte massiv gefährdet werden. Die digitale Revolution lässt vermutlich die arbeitsteilige Grundstruktur einer ganzen Branche, die die Kultur und Bildung der Bürger fördert, erodieren. Berufe, vor allem personenbezogene Dienstleistungen, deren Ausübung gerade in diesem Bereich an eine Kombination von Ausbildung, Erfahrungen und persönlichem Engagement gebunden ist, verschwinden vom Markt.
    Diese Entwicklung berührt die Interessen der Bürger an einer nicht durch Marktmacht beherrschten demokratischen Öffentlichkeit, die für eine konsensbasierte Gesellschaft wie Deutschland so unverzichtbar ist. Die Politik der amerikanischen Internetkonzerne mit ihrer Begeisterung dafür, der Bevölkerung auf kommerzieller Basis, Zugänge zum Wissensuniversum zu verschaffen, stößt hierzulande auf eine differenzierte kulturelle Infrastruktur, die nicht zum Einsturz gebracht werden sollte. Daher benötigen wir dringend ein gesellschaftliches Bündnis und eine politische Strategie zur Sicherung und Förderung der Qualität aller Medien, die an dem "alteuropäischen" Projekt einer aufgeklärten Öffentlichkeit mitwirken.
    Lösungen für das Alltagsleben der Deutschen gefunden
    Der Bundesrepublik Deutschland ist es bislang gelungen, Veränderungen zu bewältigen und dennoch als besondere Gesellschaft in ihren Lebensformen unverwechselbar zu bleiben. Sozialer, politischer, kultureller und technologischer Fortschritt konfrontierte die Bevölkerung immer wieder mit schwierigen Herausforderungen, erzeugte Spannungen und Konflikte, aber letzten Endes wurden Lösungen für das Alltagsleben der Deutschen gefunden, die manche Neuerungen im Zaum hielten und die Lebensqualität hierzulande nicht schmälerten, sondern verbesserten. Auf der Basis dieser Stärke lässt sich die Digitalisierung sozial verträglich "bändigen". Die in den USA tief verwurzelte Überzeugung, dass nahezu alle Entwicklungen, die technisch möglich sind, auch technisch zu realisieren sind, wird hierzulande nicht geteilt. Die Europäer und die Deutschen müssen sich auf ihren eigenen Weg besinnen.
    Gerade jetzt, da sich die Industrie in Deutschland ihrer alten Stärke wieder bewusst wird und ihre Produkte - seien es Autos, Heizgeräte oder Umkleidekabinen - digital aufrüsten will, darf nicht vergessen werden: Der breite Zugang der Bevölkerung zu den immateriellen Gütern von personenbezogenen, vor allem sozialen Dienstleistungen stellt eine Qualität dar, die das Leben schichtenübergreifend frei, vielfältig und lebenswert macht.
    Christiane Bender ist Professorin für Soziologie an der Helmut Schmidt-Universität Hamburg.