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Neues Buch von Arundhati Roy
In Gräbern leben lernen

20 Jahre hat sich die indische Autorin Arundhati Roy nach ihrem gefeierten Debütroman Zeit gelassen - um mit ihrem neuen Werk "Das Ministerium des äußersten Glücks" den "großen indischen Roman" zu schreiben: Eine Geschichte um Transgender, Dalits und Muslime, die am undenkbarsten Ort ihr Glück finden.

Von Mithu Sanyal | 13.08.2017
    Menschenrechtlerin und Autorin Arundhati Roy hält bei einem Protestmarsch in Neu-Delhi ein Mikrofon in der Hand
    Arundhati Roy setzt sich kritisch mit der Politik Indiens auseinander, etwa dem Kastensystem oder dem Krieg in Kaschmir. (dpa / Rajat Gupta)
    Aber zuerst ein Nationallied aus Kaschmir: "Trav'ling lady, stay awhile until the night is over. I'm just a station on your way, I know I'm not your lover."
    Tilo riss die Augen auf: "Leonard Cohen?" - "Ja. Selbst er weiß nicht, dass er in Wirklichkeit Kaschmiri ist. Oder dass sein richtiger Name Las Kone ist ...", antwortete Musa.
    Tilo und Musa sind das große Liebespaar in "Das Ministerium des äußersten Glücks", zwei Körper und Seelen, die zusammenpassen wie Teile eines nicht fertig gelösten - und vielleicht unlösbaren - Puzzles. Trotzdem ziehen sie ihre Kleidung nicht aus, wenn sie miteinander ins Bett gehen, weil dies Kaschmir ist und die Polizei jederzeit die Tür eintreten kann.
    Arundhati Roys neuer Roman ist beinahe erschreckend universell. Nicht, weil westliche Singer-Songwriter zitiert werden, sondern weil die Konflikte darin die Probleme der globalisierten Welt sind. Bei Roy ist nicht nur das Private politisch, sondern auch das Intime international.
    Kein Roman zum Querlesen
    Merken Sie sich Tilo und Musa gut, da die beiden zwar die Hauptfiguren - zwei der Hauptfiguren - des Romans sind, allerdings in den ersten 172 Seiten überhaupt nicht auftauchen. "Das Ministerium des äußersten Glücks" ist kein Buch zum Querlesen, könnte man dabei doch leicht den Eindruck erhalten, versehentlich mehrere verschiedene Bücher erwischt zu haben. Doch wenn man der Autorin vertraut und ihrem Erzählstrang folgt, verwebt sie die unterschiedlichen Zeit- und Handlungsebenen so nahtlos miteinander, dass man beim Lesen nicht nur stets orientiert ist, sondern die Übergänge auch nahezu zwangsläufig wirken:
    Natürlich muss das Buch ein halbes Jahrhundert früher anfangen und 900 Kilometer entfernt in der ummauerten Altstadt Delhis. Und wie jede gute Entstehungsgeschichte beginnt auch diese natürlich mit der Geburt eines Kindes: Eines lange ersehnten Sohnes, Aftab, der sich bei näherem Hinsehen als Sohn und Tochter entpuppt.
    "In Urdu, der einzigen Sprache, die seine Mutter beherrschte, hatten alle Dinge, nicht nur Lebewesen, sondern alle Dinge - Teppiche, Bücher, Stifte, Musikinstrumente - ein Geschlecht. Alles war entweder männlich oder weiblich. Alles außer ihrem Baby. Ja, natürlich, sie wusste, dass es ein Wort für jemanden wie ihn gab - Hijra. Eigentlich zwei Wörter, Hijra und Kinnar. Aber zwei Wörter ergeben keine Sprache."
    Ein drittes Wort wäre das englische Transgender. Nur dass Hijras in Indien - im Gegensatz zu Europa und Amerika - offiziell als drittes Geschlecht anerkannt sind. Bereits im Ramayana, dem großen indischen Epos aus dem 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, gibt es Hijras. Das heißt allerdings nicht, dass damit auch Rechte einhergehen. Die meisten Berufe sind Hijras nach wie vor verwehrt - außer Sexarbeit und dem Sprengen von Hochzeiten durch lautes, schrilles Verhalten, bis sie mit Geldgeschenken verjagt werden. Immerhin haben Hijras seit 1994 in Indien das Wahlrecht und 1998 zog Shabnam Bano als erste Hijra in den Landtag von Madhya Pradesh ein.
    Aus Aftab wird Anjum
    Doch sogar das ist noch Zukunftsmusik, als Aftab in Delhi aufwächst, wo er sich ebenso fremd fühlt wie in seinem Körper. Mit 15 sieht er eine Frau, die selbstbewusster durch die Straßen geht und glamouröser gekleidet ist als alle anderen Frauen - weil sie keine Frau ist. Aftab folgt ihr bis zu einer blauen Tür, die in die Khwabgah führt. Kurz darauf legt Aftab seine Jungenkleidung ab, wird zu Anjum und tritt durch die blaue Tür und in ein anderes Universum.
    Sie wird eine der begehrtesten Hijras werden, um deren Telefonnummer sich internationale Journalisten reißen und neben der biologische Frauen farblos und unfeminin aussehen. Doch kann all das Anjums Wunsch nach dem Unmöglichen nicht stillen: nämlich Mutter zu werden. Stoff genug, um damit die restlichen 500 Seiten zu füllen. Und das tut der Roman - auch.
    Denn Arundhati Roy wäre nicht Arundhati Roy, wenn sie sich auf ein Schicksal beschränken würde oder auf eine Geschichte. Statt dessen schlüpft sie in die Haut jeder Person. Noch die kleinsten Nebenfiguren erhalten, frei nach Andy Warhol, 15 Minuten im Scheinwerferlicht. Deshalb wundert es nicht, dass Roy zehn Jahre für die Fertigstellung ihres lange ersehnten Romans brauchte. zehn Jahre, in denen sie mit ihren Figuren lebte und sie schließlich konsultierte, in welches Verlagshaus sie einziehen wollten - und ja, es war nicht der Höchstbietende.
    Neben den Figuren auch Fleisch und Blut gibt es auch noch die aus Stein und Herzblut: wie Delhi, die Stadt, die Arundhi Roy liebevoll Großmutter nennt, und die eine zentrale Rolle für die Handlung spielt. Das ist nicht Neu-Delhi, sondern Alt-Delhi, die ummauerte Altstadt, in der die hauptsächlich muslimische Bevölkerung so dicht und gedrängt wohnt, dass Privatsphäre beinahe ein obszönes Wort ist. Die Stadt, die die Moghul-Herren gebaut haben, versus des Neu-Delhis von den Reißbrettern der englischen Kolonialherren.
    Das Kichern der Geschichte
    Deshalb nimmt Kulsoom Bi, die eine Mischung aus Mutter und Guru für die Bewohner der Khwabgah ist, die jüngeren Hijras zu Schulungszwecken mit Vorliebe in das rote Fort über der Altstadt, wo eine Ton- und Lichtshow über das Leben der Moghul-Herrscher aufklärt.
    "Dann plötzlich ist deutlich das tiefe, unverwechselbare, krächzende, kokette Kichern eines Hofeunuchen zu hören." - "Da!", sagte Kulsoom Bi wie ein triumphierender Schmetterlings-Kundler, dem ein seltener Falter ins Netz gegangen ist. "Habt ihr das gehört? Das sind wir. Das sind unsere Vorfahren, das ist unser historischer Hintergrund. Wir waren nie gewöhnlich, wir waren Teil des königlichen Hofstaats."
    "Der Augenblick war so kurz wie ein Herzschlag. Aber wichtig war, dass er existierte. In der Geschichte präsent zu sein, wenn auch nur als Kichern, war ein Universum weit davon entfernt, völlig aus der Geschichte hinausgeschrieben zu sein."
    Das war natürlich bevor die Hindunationalisten alle Hinweise auf eine muslimische Kultur und Tradition in Indien verboten. Trotzdem ist die Khwabgah nicht das titelgebende "Ministerium des äußersten Glücks". Sie ist kein utopischer Gegenentwurf zur indischen Gesellschaft, sondern eine Nischen- und Subkultur, in der noch immer die Regeln und Unterschiede der Mehrheitsgesellschaft gelten:
    Als Anjum in die Khabgah einzieht, unterziehen die hinduistischen Hijras sich noch der extrem schmerzhaften religiösen Kastrationszeremonie. Die Muslimas würden das auch gerne tun, doch verbietet der Islam ihnen, ihr gottgegebenes Geschlecht zu verändern. Und Männer, die in einen Frauenkörper hineingeboren werden, gibt es in der Hijra-Community nicht. Obwohl Anjum Muslima ist, entscheidet sie sich für Chirurgie und Hormonbehandlungen, um endlich einen eindeutig identifizierbaren Körper zu bekommen. Doch wie die kleine Meerjungfrau aus dem Märchen muss die begabte Sängerin Anjum dafür mit ihrer Stimme bezahlen, die durch die Hormonspritzen seltsam krächzend wird und sich nun so anhört als würden zwei Stimmen miteinander streiten.
    "Weißt du, warum Gott Hijras erschaffen hat?", fragte Kusoom Bi sie eines Nachmittags. - "Nein, warum?" - "Es war ein Experiment. Er beschloss, etwas zu erschaffen, ein Lebewesen, das erwiesenermaßen unfähig ist, glücklich zu sein. Also erschuf er uns. Überleg doch mal, weswegen sind normale Menschen unglücklich? Preiserhöhungen, Schulzulassung für ihre Kinder, Männer, die ihre Frauen schlagen, Frauen, die ihre Männer betrügen, Hindu-Muslim-Unruhen, der Indo-Pak-Krieg. Aber bei uns sind die Preiserhöhungen, die schlagenden Männer und betrügerischen Frauen in uns. Der Krieg ist in uns. Indo-Pak ist in uns."
    Multiple Identitäten
    Trans ist eines der Themen, die zur Zeit Hochkonjunktur haben. Deshalb man kann niemandem verdenken, der vermutet, Arundhati Roy würde hier einem Trend folgen, so wie ihre Titel stets einem Schema folgen: Subjekt plus Genetivattribut bestehend aus Adjektiv und Nomen: "Der Gott der kleinen Dinge", "Das Ministerium des äußersten Glücks". Doch wäre das ein Irrtum. Ja, es geht um Körper- und Identitätspolitik, allerdings in der breitest möglichen Interpretation. Anjum wird zwar von der Grenze des Geschlechts gespalten, aber ist das nicht die einzige Grenze, die durch sie hindurchläuft. Wie alle Menschen, und besonders alle Figuren des Romans, ist sie von zahlreichen Identitäten geprägt.
    So gerät sie, 2002 auf einer Pilgerreise nach Gujarat, in die Hände von Hindufundamentalisten, nicht weil sie eine Hijra ist, sondern weil sie Muslima ist. In Indien wecken die Worte Gujarat und 2002 sofort Erinnerungen an Muslime, denen auf offener Straße Autoreifen um den Hals gelegt und die daraufhin in Flammen gesetzt wurden. Der Ausnahmezustand dauerte zwei Monate, mehr als 2.000 Menschen wurden getötet, 150.000 vertrieben. Anjum überlebt als Einzige ihrer Pilgergruppe, weil sie eine Hijra ist. Denn eine Hijra zu töten, bringt Unglück.
    Kuh-Urin als Allheilmittel
    Arundhati Roy forderte damals, dass der Regierungschef Gujarats, der die Ausschreitungen hätte stoppen können, vor Gericht gestellt würde. Inzwischen ist er nicht mehr Regierungschef Gujarats, sondern Indiens: Premierminister Narendra Modi. Seine Partei, die hindu-nationalistische BJP, verfügte, dass im Kino jetzt vor jedem Film die Nationalhymne gespielt wird und alle dabei aufstehen müssen. Und da Kühe im Hinduismus heilig sind, unterstützt die Regierung Kampagnen, die den Gebrauch von Kuh-Urin fördern - als Getränk, Medizin und Putzmittel.
    Was sich amüsant anhört, ist Teil der konsequenten Indien-den-Hindus-Politik, die nicht einmal vor den Toten halt macht. Erst vor Kurzem verlangte ein BJP-Kanditat bei den Wahlen in Madhya Pradesh, dass Muslime nicht mehr begraben werden dürften. Schließlich verbrennen die Hindus ihre Toten, also sollten auch Muslime gefälligst eingeäschert werden.
    Es ist nur konsequent, dass Anjum nach dem Trauma von Gujarat aus der Khwabgah aus und auf einen Friedhof zieht. Und so wie viele Muslime in Indien de facto in und neben Gräbern leben, weil die muslimischen Communitys gettoisiert werden, baut Anjum zwischen den Gräbern ihrer Ur- und Ur-Ur-Eltern das wirkliche "Ministerium des äußersten Glücks", das Jannat Guest House, wo sie denen, die durch die Ritzen der Gesellschaft gefallen sind, Obdach bietet. Jannat heißt Paradies.
    "Der nicht zu unterschätzende Vorteil des Gästehauses auf dem Friedhof war, dass er im Gegensatz zu allen anderen Vierteln nicht unter Stromsperren litt. Nicht einmal im Sommer. Weil Anjum den Strom von der Leichenhalle abzweigte, in der die Leichen Rund-um-die-Uhr-Kühlung erforderten."
    Die Sprache in "Das Ministerium des äußersten Glücks" ist weniger barock und überbordend als in dem "Gott der kleinen Dinge", ihrem Debütroman. Weniger heißt in Arundhati Roys Fall selbstredend, dass sie nicht mehr fünf Metaphern pro Satz verwendet, sondern nur noch eine oder zwei. Dafür ist jetzt Raum für Humor und sogar Selbstironie. Roy ist zu einer Autorin gereift, sie sich selbst nicht so ernst nimmt, ihre Figuren dafür aber umso mehr.
    Einer der ersten, die in das seltsame Paradies auf dem Friedhof einziehen, ist Saddam Hussein, nicht der Saddam Hussein, sondern ein junger Dalit, der den Namen des Diktators annimmt, nachdem er mit ansehen musste, wie ein Hindumob seinen Vater zu Tode prügelte, weil er vermeintlich eine Kuh umgebracht hatte. Von seinem Namensvetter weiß Saddam Hussein nichts, außer wie er bei seiner Hinrichtung aussah, weil das Video auf seinem Handy ist, als er es kauft. Anjum fragt ihn, ob er alle seine Lebensentscheidungen auf der Basis von Handy-Videos trifft und klärt ihn darüber auf, dass Saddam Hussein ein Bastard war.
    Trotzdem ist die Botschaft von "Das Ministerium des äußersten Glücks" eindeutig: Wenn Indien nicht so ein marktwirtschaftsfreundlicher Staat wäre, würden die westlichen Medien über Menschenrechtsverletzungen in Indien schreiben, und an erster Stelle - noch vor den Muslimen - kämen die Dalits, die indischen Ureinwohner, besser bekannt als: die Unberührbaren.
    Und deshalb dauerte es noch einmal länger, bis "Das Ministerium" das Licht des Buchmarktes erblickte, weil Roy das Manuskript zu Seite legte, um ihr Buch "The Doctor and the Saint" über das Kastenwesen in Indien zu schreiben, das ebenfalls dieses Jahr erschienen ist.
    Staatsfeindin Nr. 1
    "Es verblüfft mich jedes mal, wie Intellektuelle und Wissenschaftler ganze Büchereien mit Bänden über Indien füllen können, ohne das Kastenproblem zu erwähnen. Das ist so, als würde man über das Apartheitsregime in Südafrika schreiben, aber nicht über Apartheit reden."
    Buchcover: Arundhati Roy: Das Ministerium des äußersten Glücks
    Buchcover: Arundhati Roy: Das Ministerium des äußersten Glücks (S. Fischer / picture alliance / dpa / epa / Geoff Caddick)
    Die Kinderstimme, mit der sie diese unglaublich profunden politischen Aussagen macht, ist Teil des Gesamtkunstwerks Arundhati Roy. Von Anfang an rieb sich die Person Arundhati Roy mit ihrer Persona. Der Verlag, der ihren ersten Roman mit der Schönheit und Exotik der Autorin verkaufen wollte, fand schnell heraus, dass die Bücher zwar weggingen wie warme Semmeln, aber Roy mindestens ebenso viel Ärger bedeutete. Schön ist sie immer noch. So atemberaubend schön, dass sie es letztes Jahr auf das Cover des ELLE-Magazins schaffte - mit der Unterschrift: Staatsfeindin Nr. 1.
    Warum hat sie sich also nach zwei Jahrzehnten, in denen Verlage ihr Fantasiesummen für einen neuen Roman boten und sie stets erklärte, sie habe Wichtigeres zu tun, nun doch dafür entschieden? Weil es einfach Dinge gibt, die sich nur in Romanform erzählen lassen. Eine Menge Dinge, weshalb "Das Ministerium" ein Biest von einem Buch geworden ist. Arundhati Roy ist überlebensgroß, da ist es nur passend, dass sie ein ebenso überlebensgroßes Buch geschrieben hat, in dem es nicht um Transgender oder Dalits oder Muslime geht, sondern um alle zusammen.
    Die Stimme des Staates
    Trotzdem kommt es als Schock - in einem Buch das mit Erschütterungen nicht spart - wenn wir mitten in dem Buch nicht nur den Friedhof und Delhi verlassen, sondern auch die Erzählperspektive und von der dritten in die erste Person springen. Noch schockierender ist, dass die einzige Person, die in dem Roman aus der Ich-Perspektive berichten darf, der Vize-Chef des indischen Geheimdienstes ist, Diplab Gupta, und dass dieser kein gesichtsloser Superbösewicht ist, sondern ein zutiefst menschlicher und durchaus sympathischer Charakter. Zweimal wäre Gupta bereits beinahe einem Attentat zum Opfer gefallen.
    "Nach dem zweiten Angriff erhielten wir einen anonymen Brief: Heute hatten wir Pech. Aber vergesst nicht, wir müssen nur ein einziges Mal Glück haben. Ihr braucht die ganze Zeit Glück. Etwas an diesen Worten kam mir bekannt vor. Ich habe sie gegoogelt. Es war eine nahezu wörtliche Übersetzung der IRA-Verlautbarung nach dem Bombenanschlag auf das Grand Hotel in Brighton 1984, dem Margaret Thatcher entkommen war. Das ist vermutlich eine andere Art Globalisierung, diese universelle Terrorsprache." Inzwischen ist Gupta in Kaschmir stationiert.
    Bereits 2010 musste sich Arundhati Roy vor Gericht verantworten, weil sie den Krieg in Kaschmir als unrechtmäßig bezeichnet hatte. Denn der Konflikt in Kaschmir besteht nicht, wie man anhand von internationalen Medienberichten denken könnte, aus Grenzgefechten, sondern ist eine militärische Okkupation von enormem Ausmaß. Kaschmir ist der Gaza Streifen Indiens, nur brutaler.
    Während Indien und Pakistan jeweils die Region für sich beanspruchen, wollen die Kaschmiris einen unabhängigen Staat, doch sogar China hätte gerne ein Stück vom Kuchen. Seit 70 Jahren herrscht Krieg in Kaschmir, oder wie die Armeen es nennen "der Friedensprozess". Und wie jeder "Friedensprozess" ist auch dieser ein riesiger Markt der Möglichkeiten.
    "Wir gingen beunruhigenden Informationen über unsere Soldaten nach, die an bestimmten Kontrollposten Fenster für 'sichere Grenzübertritte' verkauften und diskret wegschauten, wenn Hirten, die die Berge wie ihre eigene Hosentasche kannten, die Widerstandkämpfer herüberbegleiteten. Sichere Grenzübertritte waren längst nicht alles, was auf dem Markt feilgeboten wurde. Es gab auch Diesel, Alkohol, Munition, Granaten, Klingendraht und Holz. Ganze Wälder wurden abgeholzt. In Feldlagern waren Sägemühlen eingerichtet worden. Kaschmiris wurden als Zimmermänner zwangsverpflichtet. Die LKW der Armeekonvois, die täglich Vorräte von Jammu nach Kaschmir hinaufbrachten, kehrten beladen mit geschnitzten Möbeln aus Walnussholz zurück. Wir waren, wenn auch nicht die bestausgestattete, so doch die besteingerichtete Armee der Welt."
    Tilo und Musa
    Und damit kommen wieder Tilo und Musa ins Spiel. Denn Musa ist Kaschmiri. Seine erste Frau und seine kleine Tochter wurden von der Armee ermordet. Bei der Beerdigung macht er sich verdächtig, weil er zu ruhig ist, also wird er um 4 Uhr morgens abgeholt und verhört. Danach gibt es nur noch einen Weg für ihn - in den Untergrund, um sich der riesigen Legion der Toten auf Urlaub anzuschließen.
    "It‘s a place where the dead are living and the living are just dead people pretending."
    Als die Armee wirklich die Tür zu Tilos und Musas Schlafzimmer eintritt, Musa ermordet und Tilo in das berüchtigte Foltergefängnis verschleppt, ist es Gupta, der die entsprechenden Hebel in Bewegung setzt, um sie zu befreien. Er kennt Tilo seit seiner Studienzeit und liebt sie genauso lange. Das Einzige, was größer ist als diese Liebe, ist sein Selbsterhaltungstrieb. Musa wird seinen eigenen Tod überleben. Tilo wird einen Mann heiraten, den sie nicht liebt, den linken Journalisten Naga. Und Gupta wird Naga für den Geheimdienst rekrutieren.
    "Eines muss ich Naga zugutehalten, nämlich, dass nie auch nur eine Rupie floss. In dieser Hinsicht war - und ist er - übertrieben ehrlich. Da seine Vorstellung von professioneller Integrität erfordert, dass er prinzipientreu lebt, musste er, um eine integre Person zu bleiben, die Prinzipien wechseln, und jetzt glaubt er nahezu mehr an uns als wir selbst."
    Der große indische Roman
    Es ist fraglich, ob die viel geliebte und noch mehr begehrte Tilo Arundhati Roy ist. Ja, sie kommt wie Roy aus Kerala, sie hat wie sie eine schwierige Beziehung zu ihrer Mutter, die wie Roys Mutter in ihrem Dorf eine Reformschule gründete. Am Anfang der Handlung - aber später in dem Roman, der sich nicht an lineare Handlungsabläufe hält - geht Tilo wie Roy nach Delhi, um dort Architektur zu studieren, und lebt wie diese währenddessen in einem Slum. Doch auch wenn, würde das nur einen Teil des Buches autobiografisch machen, nur eine der zahlreichen Stimmen, die Arundhati Roy scheinbar mühelos miteinander verknüpft, ebenso wie unterschiedliche literarische oder schlicht textuelle Genre: Fabeln und politische Pamphlete, Asylanträge, erzwungene Geständnisse und Transkripte von Fieberhalluzinationen.
    "Das Ministerium des äußersten Glücks" ist zugleich thematisch breiter als auch dichter als ihr Debütroman "Der Gott der kleinen Dinge", an dem das Verblüffendste war, dass es ihn überhaupt gab. Dass ein solches Buch in dem Indien er 1990er-Jahre existierte. Ging es in dem "Gott der kleinen Dinge" um eine Familie, handelt "Das Ministerium des absoluten Glücks" von allen und allem. Es ist der große indische Roman, so wie die Amerikaner stets den großen amerikanischen Roman schreiben wollen. Und wie das moderne Indien ist auch "Das Ministerium des äußersten Glücks" eine massive Reizüberflutung. Es ist von allem zu viel: zu viel Krieg, zu viel Folter und zu viele gestohlene oder ausgesetzte Babies - das letzte davon ist Miss Udaya Jebeen. Die Rettung Miss Udaya Jebeens bringt schließlich Tilo und Anjum zusammen und erfüllt Anjums unerfüllbaren Wunsch. Damit bekundet Arundhati Roy, dass bei allem Sterben und aller Verheerung, Glück möglich ist, und noch wichtiger: Alltag.
    "Sie kamen an einem dünnen, nackten Mann vorbei, in dessen Bart ein Zweiglein Stacheldraht steckte. Er hob die Hand zum Gruß und hastete davon. Als Miss Udaya Jebeen »Mummy, Pipi!« sagte, setzte Anjum sie unter eine Straßenlampe. Den Blick auf ihre Mutter gerichtet pinkelte sie und stand dann auf, um über den nächtlichen Himmel, die Sterne und die eintausend Jahre alte Stadt zu staunen, die sich in der Lache widerspiegelten. Anjum hob sie hoch, küsste sie und ging mit ihr nach Hause.
    Als sie dort ankamen, waren sämtliche Lichter gelöscht und alle schliefen. Alle außer Guih Kyom, der Mistkäfer. Er war hellwach und im Dienst, lag auf dem Rücken, die Beine in die Luft gestreckt, um die Welt zu retten, sollte der Himmel einstürzen. Aber sogar er wusste, dass letztlich alles gut werden würde. Es würde, weil es musste. Weil Miss Jebeen, Miss Udaya Jebeen gekommen war."
    Arundhati Roy: "Das Ministerium des äußersten Glücks"
    S. Fischer Verlag, Frankfurt 2017, aus dem Englischen von Anette Grube
    560 Seiten, 24,00 Euro