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NS-Regime
Die Anziehungskraft der Herrenmenschen-Ideologie

Der Historiker und Publizist Götz Aly befasst sich seit Jahrzehnten mit der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland. Ihm geht es dabei immer um die Rolle des Volkes. In seinem Buch "Volk ohne Mitte" geht er der Frage nach, wieso viele Deutsche dem Regime bis zum Untergang loyal blieben.

Von Michael Kuhlmann | 23.02.2015
    Das Bild zeigt das Denkmal für den Warschauer Aufstand in Warschau, im Vordergrund ein Blumenbeet.
    Denkmal Warschauer Aufstand: Die stillen antisemitischen Ressentiments von Millionen machten den Völkermord möglich. (dpa / picture alliance / Wolfgang Frotscher)
    Götz Aly hat den Konflikt mit seinen Historikerkollegen noch nie gescheut. In seinem neuen Buch hält er ihnen vor, Wesentliches zu übersehen.
    "Wenn Sie heute gucken, wie die nationalsozialistische Geschichte untersucht wird in Deutschland, dann finden Sie überall das Sich-Vertiefen in idyllisches Spezialistentum. Der eine arbeitet über dieses Zwangsarbeitslager und der nächste über jüdische Frauen im Westend von Frankfurt im Jahr 1938 und so weiter – dann wird ein großer Akzent natürlich auch zurechtgelegt auf die NS-Verbrechen. Aber der Nationalsozialismus erklärt sich in seiner Dynamik, nicht nur und nicht hauptsächlich aus seinen Verbrechen. Erst mal muss klargemacht werden, was daran auch anziehend war."
    Zugleich will Aly untersuchen, warum so viele Deutsche – ob Institutionen oder Privatpersonen – später ihre braune Vergangenheit verdrängten. Er stellt allerdings klar:
    "Es geht mir nicht darum, Einzelne zu schmähen. Gezeigt werden soll die Vielfalt der Fluchtversuche, die 20 oder 25 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reiches selbst von nachdenklichen, in anderer Hinsicht sehr verdienstvollen Deutschen unternommen wurden."
    Vielfalt der Verdrängung nach dem Untergang des Dritten Reiches
    Zu diesem Zweck listet das Buch Fallbeispiele auf: Die meisten Texte sind Wiederabdrucke, überarbeitet oder ergänzt um Anhänge aus Sicht des Jahres 2014. Neu abgefasst ist ein 40-seitiger Essay über den Umgang der Max-Planck-Gesellschaft mit den sogenannten Euthanasiemorden: Aly hat der Gesellschaft schon früher vorgehalten, dass eine ihrer Vorgängerorganisationen in diese Morde verstrickt gewesen sei; hier schildert er seine jüngsten publizistischen und juristischen Auseinandersetzungen. Ein anderer Text beklagt, wie milde die deutschen Historiker nach 1945 mit ihren Kollegen Werner Conze und Theodor Schieder umgingen – beide hatten mit ihren Publikationen vor 1945 durchaus auf brauner Parteilinie gelegen. Hinter den elf Essays mit ihren vielen Details steht ein Kernanliegen des Autors: Alle Deutschen müssten sich der Vergangenheit stellen. Und zwar anders, als es zumeist in den Massenmedien geschehe.
    "Heute – wenn über den Nationalsozialismus gesprochen wird im Fernsehen, in den Zeitungen, dann heißt es immer: Ja, die Nationalsozialisten haben damals. - Ja, wer sind das denn? Es waren die Deutschen, das muss man sich klarmachen, in ihrer übergroßen Mehrheit, die daran mitgewirkt haben, die sich in einer Weise in diese Politik hineingelebt haben, in diese Staatsform, in die kleinen Bestechungen, die sie bekommen haben, in die großen Aussichten für die Zukunft, die man ihnen vorgegaukelt hat – dass sie sich mit diesem System arrangiert haben, jedenfalls so weit, dass sie stillgehalten haben. Und damit haben sie die Basis geliefert."
    Erst die stillen antisemitischen Ressentiments von Millionen machten den Völkermord möglich, so Aly. Zugleich entfaltete die braune Ideologie ihre Anziehungskraft: Im Wort vom Herrenmenschen macht Aly ein Versprechen aus – das Versprechen neuer Aufstiegsmöglichkeiten für alle, die rassisch dazugehörten.
    "Das heißt: Zumindest in der Theorie und in der Programmatik kamen sich die Krupps und die Krauses näher. Und das macht die Sache attraktiv. In einer Zeit, in der alle aufsteigen wollten, aber nicht so genau wussten, wie."
    Gut ausgebildete Eliten des Nazireiches
    Denn, so Aly, viele Menschen in der Weimarer Republik hatten ein umfangreiches Bildungssystem durchlaufen. Ihre Bildung aber in sozialen Status umzumünzen, blieb für viele ein Traum.
    "Und wenn man sich das klarmacht, dann muss man bedenken, dass aus sehr guten politischen Initiativen – wie Bildungsaufschwung –, die wir nicht als schlecht betrachten können – dass aus solchen guten politischen Vorgaben und Rahmenbedingungen sehr Böses entstehen kann. Denn diese Abiturienten der Weimarer Zeit, diese jungen Studierenden, diese jungen Leute wurden dann die junge Elite des Nazireiches."
    Natürlich drängt sich die Frage auf, ob das aufwendige Bildungssystem an diesen Frustrierten nicht eben doch schlicht versagt hatte. Und im Ganzen sind die Erkenntnisse über soziale Versprechungen des NS-Staates nicht neu. Die Deutschen waren für Aly vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ein "Volk ohne Mitte": Bis 1990 hätten sie nicht gewusst, wer sie waren; ihnen habe der ruhende Pol gefehlt. Sein Buch "Volk ohne Mitte" begreift Götz Aly nun als eine Vorstudie zu einem größeren Projekt – folglich gibt es auf die Eingangsfrage, wie denn die Deutschen in die Barbarei absinken konnten, hier noch keine abschließende Antwort. Zum Umgang mit der Vergangenheit macht Aly aber bereits Vorschläge:
    "Ich glaube, dass ein wichtiger Punkt immer auch die familiäre Selbsterkundung ist. Also wie ist in der eigenen Familie ... wie ist es da gegangen, dass die Leute aktiv oder passiv oder sich arrangierend mit dem Nationalsozialismus abgefunden haben oder begeistert waren?"
    Und praktisch könnte das darauf hinauslaufen, dass gerade Privatleute einst enteigneten jüdischen Besitz den heutigen rechtmäßigen Eigentümern zurückgeben sollten.
    "Das wird nicht gemacht! Stattdessen identifiziert man sich mit dem Schicksal der Opfer. Dagegen ist, glaube ich, auch nichts zu sagen, das ist auch ein großer Fortschritt in der auch nationalen Selbstbeschäftigung damit, dass die Opfer in den Mittelpunkt gerückt wurden. Aber analytisch für die Frage: Wie konnte dieses Volk in diesem fürchterlichen mörderischen Abgrund enden, ist damit wenig gewonnen."
    Was Götz Alys Vorgehensweise betrifft, so kann man sich fragen, ob er seine Thesen in einem Essay von 80, 100 Seiten nicht prägnanter auf den Punkt hätte bringen können. Dafür aber wirft "Volk ohne Mitte" zusätzliche Schlaglichter: Indem es zum Beispiel daran erinnert, wie Deutschland im Zweiten Weltkrieg die besetzten Gebiete finanziell ausplünderte. Götz Alys gut geschriebene Essays machen auf Punkte aufmerksam, die in der breiten Debatte gerne einmal aus dem Blickfeld rücken. Sie skizzieren Gründe, warum man die gedankliche Auseinandersetzung mit der Tyrannei noch lange nicht abhaken kann.
    Buchinfos:
    Götz Aly: "Volk ohne Mitte. Die Deutschen zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus", S. Fischer Verlag, 266 Seiten, Preis: 21,99 Euro, ISBN: 978-3-100-00427-7