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Nuit debout
"Eine Bewegung im Dörnröschenschlaf"

Die Protest-Bewegung Nuit-debout in Paris sei ein Ausdruck dafür, dass die Franzosen eine Sehnsucht nach Utopie haben, sagt die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot im DLF. Zurzeit fehlten der Bewegung aber politische Ziele und Wortführer. Sie reflektiere auch nicht die Realität in den Pariser Banlieus.

05.05.2016
    Guérot: Nuit debout ist immer auch ein bisschen Volksfest
    Nuit debout ist immer auch ein bisschen Volk (AFP / Sebastien Bozon)
    Kathrin Hondl: Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot ist Mitbegründerin des European Democracy Lab in Berlin, beschäftigt sich mit der Zukunft der europäischen Demokratie und war natürlich auch schon bei den Pariser Nuit-debout-Versammlungen. Frau Guérot, welchen Eindruck haben Sie: Könnte die Nuit-debout, wie ja manche prophezeihen, der Beginn einer großen Protestbewegung ähnlich wie bald vor 50 Jahren Mai '68 sein?
    Ulrike Guérot: Ja, das ist eine interessante Frage. Ich war, wie gesagt, auch einen Abend da und einen Vormittag, und ich glaube, das ist so eine Bewegung im Dornröschenschlaf. Ich glaube, es gibt zwei oder drei Probleme, warum das eben noch nicht zu der Bewegung geworden ist. Das eine ist, es ist natürlich sehr Paris-lastig. Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen Paris und den Banlieues, und es gibt auch ein Spannungsverhältnis, und das ist auch in den französischen Medien groß thematisiert worden, zwischen den sogenannten Cols bleues und den Cols blancs, also den Intellektuellen, die da stehen, also Schüler, Studenten oder eben auch Lehrer versus den Arbeiter, den klassischen französischen Arbeiter. Und da ist man sich uneins, wer da eigentlich der Wortführer ist. Und was natürlich fehlt, ist so eine Ikone wie damals eben so ein Daniel Cohn-Bendit, der, wenn man das jetzt vergleichen will, irgendwann mal dieses Aufbegehren begriffen hat und daraus dann wirklich eine Bewegung mit klaren politischen Forderungen wurde. Das ist Nuit debout eben noch nicht.
    Hondl: Ja, aber Frau Guérot, gerade so ein, ich sage jetzt mal in Anführungszeichen, "Führerprinzip" lehnen die meisten auf der Place de la République ja gerade ab. Da herrscht ja so das absolute Prinzip Basisdemokratie. Auch der griechische Ex-Minister und Linken-Star Yanis Varoufakis durfte, als er dort aufgetreten ist, ja auch nur drei Minuten reden wie alle anderen auch. Inwiefern ist denn die Skepsis der Nuit-debout-Leute gegenüber Leader-Figuren nicht vielleicht auch berechtigt?
    Guérot: Da bin ich bei Ihnen, das habe ich auch so erfahren. Wie gesagt, ich habe mir das auch mal angehört, dass dann eben diese Redner – jeder kann das Mikrofon nehmen, das ist wirklich sehr paritätisch und sehr egalitär, und jeder hat drei Minuten, und dann sitzen da eben 100, 200 oder 300 Leute vor einem. Das geht also wirklich von den Klimaschützern zu den Frauenrechtlern zu den Gabonesen, die Waffenhandel verklagen und so weiter. Es ist wirklich ganz durchwachsen. Es ist natürlich alles berechtigt und alles schön, aber es ist natürlich auch das Problem, weil, wenn man daraus eine Bewegung machen will, die zum Beispiel eine zentrale politische Forderung entwickelt und die dann eben auch an konkrete Aktionen gebunden ist, dann ist das eben schwierig, wenn das nicht artikuliert wird und wenn das nicht auch sich über eine Persönlichkeit artikuliert, die dafür steht. Wollen wir uns kurz daran erinnern, Nuit debout ist ja losgegangen als Reaktion auf die neuen Arbeitsgesetze von Francois Hollande, die einfach in der französischen Linken auf große Ablehnung stoßen, aber wo die Regierung natürlich sagt, wir machen diese Arbeitsgesetze ja eigentlich für die Jugendlichen, damit man eben auch mal für ein oder zwei oder drei Jahre einen Job bekommen kann und nicht arbeitslos wird, weil der Job notwendigerweise nicht mehr gekündigt werden kann.
    Hondl: Und welche Rolle, meinen Sie, spielt jetzt heute noch dieser Protest gegen die Arbeitsrechtsreform für die Nuit-debout-Bewegung? Das Ganze hat damit begonnen, nach einer Demo gegen dieses geplante Gesetz, über das ja seit dieser Woche nun auch das Parlament debattiert. Ist das noch das zentrale Anliegen?
    Guérot: Ich glaube nicht mehr, dass das das zentrale Anliegen ist, aber es ist der Artikulationspunkt, dass die Linke, die sich in Frankreich als Die Linke bezeichnet, gegen dieses Gesetz ist. Und was, glaube ich, sehr fühlbar ist, ist, dass die Linke, also die, die sich so "à gauche", wie man in Frankreich sagt, fühlen, nicht mehr meinen, dass die Regierung, also sagen wir jetzt mal Hollande, Macron und Valls, sie vertritt. Und da gibt es wirklich einen ganz tiefen Riss, der ist sehr fühlbar, zwischen dem, was die PS, also die Partie Socialiste, die an der Regierung ist, was die vertritt und jetzt will, nämlich dieses Reformpaket, und diejenigen, die sich in Frankreich "à gauche", links fühlen und die nicht dahinterstehen in ihrer großen Mehrheit. Und da läuft ein Spannungsverhältnis, und die Frage ist tatsächlich, welche andere politische Forderungen könnte das jetzt noch umfassen, dass daraus, ich sage mal, eine linke Gegenbewegung innerhalb der linken Partei wird, und wohin würde das führen? Im Grunde ist das ja tragisch für die französische Linke, dass sie so zerrissen ist, das ist ja dann auch wiederum ein Problem von Nuit debout. In dem Moment, wo die Forderungen von Nuit debout erstens unklar sind und zweitens von der eigenen Regierung nicht aufgegriffen werden, ist natürlich die Frage, wohin kann diese ganze Bewegung führen.
    "Das reflektiert nicht unbedingt das, was in den französischen Banlieues los ist"
    Hondl: Ein Problem, Sie haben es vorhin auch angedeutet und das wird auch oft bei den Versammlungen auf der Place de la République diskutiert, ist ja auch, dass da im Grunde eine ziemlich homogene Gruppe von Menschen immer zusammenkommt. Die sind fast alle weiß, mehr oder weniger gut ausgebildet, pariserisch, also Leute, die, auch wenn sie in prekären Verhältnissen leben, es sich leisten können, abends auf dem Platz rumzuhängen, sage ich jetzt mal. Also Nichtweiße, Migranten, Arbeiter oder Leute aus den Banlieues sieht man da kaum bei Nuit debout. Ist das vielleicht auch ein Grund, dass diese Protestbewegung irgendwie nicht so richtig massiv zu werden scheint, wie es zum Beispiel die Indignados in Spanien waren. Mit denen wird Nuit debout ja trotzdem oft verglichen.
    Guérot: Ja, da gebe ich Ihnen recht, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen sozusagen dieser Pariser – die Franzosen haben natürlich eine lange Tradition – Les Intellectuelles. Jeder, vom Studenten bis zum, ich sag mal, Sartre, Camus, Simone de Beauvoir, das sind so diese Ikonen, und Frankreich hat da eine ganz andere Tradition. Das Wort hört sich auch viel sympathischer an übrigens im Französischen als jetzt mal "Intellektuelle" im Deutschen. Und das ist so ein bisschen La Place de la République, das sind die, die für die Republik stehen, "Le coeurs à gauche", "Das Herz ist links" und so weiter. Und in der Tat, das ist weiß, das ist studiert, und das ist in seiner deutlichen Mehrheit jugendlich. Und das reflektiert nicht unbedingt das, was in den französischen Banlieues los ist. Diese Leute werden da nicht unbedingt mitgenommen. Deswegen gibt es tatsächlich eine Spaltung, und dass diese Bewegung eben noch nicht überschwappt auf die Vororte. Erinnern wir uns mal an diese Krawalle in den Vororten 2005, wo die Vororte gebrannt haben. Das ist eine ganz andere Mechanik und eine ganz andere Dimension, und man kann sich in der Tat fragen, ob Nuit debout, die Leute, die dort sprechen für diese Jugendlichen in den Banlieues, die ja ganz andere Sorgen haben. Die kommen nicht an Jobs, die sind schon diskreditiert aufgrund ihres Namens, ihres Migrationshintergrunds und so weiter. Da gibt es offensichtlich eine Sollbruchstelle, die in der Tat dafür verantwortlich ist, dass Nuit debout noch nicht groß zur Bewegung geworden ist.
    "Der Druck des Front National ist ganz massiv und groß"
    Hondl: Es gab jetzt eine aktuelle Umfrage in Frankreich. Danach meinen Zweidrittel der Französinnen und Franzosen, dass Nuit debout keine Zukunft habe und der Protestbewegung in den nächsten Tagen vermutlich die Luft ausgehen wird. Aber: Genauso viele wünschen sich in derselben Umfrage, dass Nuit debout weitergeht, weil diese Versammlungen einen Raum für, ich zitiere mal "demokratische Debatten seien". Das klingt ja erst mal ziemlich widersprüchlich, oder wie würden Sie das interpretieren?
    Guérot: Na ja, also Frankreich ist, glaube ich, nicht das einzige Land, das innerhalb der EU widersprüchliche Signale sendet, was es will oder was die Bevölkerung will. Ich glaube tatsächlich, dass es große Sympathie gibt, dass, ich sage mal, endlich was passiert. Das Land hat tatsächlich lange gelitten. Der Druck des Front National ist ganz massiv und groß. Marine Le Pen hat zwischen 2012 und 2015 15 Prozentpunkte hinzugewonnen. Da baut sich wirklich was auf. Viele Franzosen sind jetzt auch verängstigt durch die Terroranschläge, durch den Ausnahmezustand. Also dass das Land in einer großen politischen Unruhe ist, was man auch daran abmessen kann, dass Hollande ja unter 20 Prozent Zustimmung nur noch hat, das ist erst mal klar. Und insofern glaube ich tatsächlich, dass die Stimmung ein bisschen so ist: Einerseits wünscht man sich, dass was passiert, aber andererseits hat man fast die Sorge, dass nichts passiert oder dass aus Nuit debout eben nicht die Bewegung wird, die wirklich etwas ändern könnte. Und ich glaube, das reflektiert ein bisschen die Sehnsucht der Franzosen nach Veränderung und fast schon die Enttäuschung, dass Nuit debout vielleicht diese Veränderung gar nicht bringen kann.
    "Franzosen haben ein Bedürfnis nach politischer Utopie"
    Hondl: Nuit debout hat ja auch neben dem ganz realen, fast schon rituellen Protest gegen die ganz reale Politik so eine gewisse poetisch-utopische Seite, finde ich. Wenn da Hunderte Leute zum Beispiel spontan ein Orchestre debouts bilden und Dvroáks "Sinfonie aus der Neuen Welt" spielen oder auch schon diese surreale Zeitrechnung – heute ist der 66. März, gar nicht so weit weg von Kästners 35. Mai. Spiegelt sich da, Frau Guérot, auch so was wie ein Bedürfnis nach Utopie?
    Guérot: Ja, unbedingt. Ich glaube, die Franzosen haben tatsächlich ein Bedürfnis nach politischer Utopie. Wir haben in Deutschland, glaube ich, übersehen, wie sehr im Grunde verstaubt die politische Klasse in Frankreich eigentlich ist, und zwar seit Jahren. Wenn Sie einfach nur mal auf das Führungspersonal schauen, auf die Veralterung des Führungspersonals. Da hat man so ein bisschen dieses Gefühl von "etwas ist staubig", etwas sehr Morsches. Und dass da das Bedürfnis kommt, es müsste doch mal ganz anders sein, Frankreich müsste mal wieder atmen. Deswegen findet diese Nuit debout ja auch an La République statt, weil La République ist natürlich sozusagen der mythische Ort von Frankreich. Das erinnert ja immer an die Revolution. Dieser Mythos Republik, der schwingt da einfach mit, und im Grunde ist das natürlich immer so ein bisschen Volksfest, also Merguez und Würstchen, und können Sie Bierdosen kaufen, und auch Tanzen und Techno, also alles da. Und nebenan sitzen aber Leute auf dem Boden und diskutieren über die Basisdemokratie.
    Hondl: Die Utopie-Frage habe ich natürlich auch gestellt, Frau Guérot, weil Sie ja auch gerade ein Utopie-Buch geschrieben haben. "Warum Europa eine Republik werden muss" heißt es, und eben im Untertitel "Eine politische Utopie". Inwiefern, Frau Guérot, ist denn das Geschehen auf dem Platz der Republik in Paris jetzt vielleicht Ihrer politischen Utopie von einer Republik Europa verwandt oder förderlich?
    Guérot: Na ja, also zumindest kann man da sagen, dass die Franzosen mit dem Begriff der République einfach sehr viel anfangen können. Die République ist das, was verbindet, die République ist das, was nährt, die République ist etwas Soziales. Das ist in Frankreich wirklich so besetzt, und da hat die Republik als Begriff einen Resonanzboden. Insofern ist République Européenne, die Europäische Republik, da können die Franzosen intuitiv und emotional was mit anfangen. Aber jetzt mal wieder ernst: Die Lage in Europa ist ja wirklich problematisch. Brexit, was in Frankreich passiert. Wir reden gar nicht von Ungarn, von Österreich, von Polen und so weiter. Ich bin hier gerade in einem bekannten deutschen Internat, wo gerade Planspiele stattfinden, EU-Tribunal 2021, und die Aufgabe für die Schüler war, die Frage an die Schüler war, wer hat es zu verschulden, dass die EU zusammengekracht ist. Das heißt, in dieser Schule wird hier schon mal planspielmäßig gesetzt, der Zusammenbruch der EU könnte passieren. Und insofern ist ja das offensichtlich ein Zeitgefühl, sonst würde so ein Planspiel ja gar nicht stattfinden. Und wenn es aber stattfindet, dann heißt das, dass viele Leute das inzwischen für möglich halten, dass etwas zusammenkracht. Und wenn das so ist, dann muss was Neues entstehen. Und dann kommt die Utopie natürlich ins Spiel, dass wir uns alle noch mal ganz neu fragen, was wollen wir auf diesem Kontinent Europa zusammen, und wie. Und in diese Richtung habe ich dann einfach mal ein Buch geschrieben und gesagt, wir könnten mal über Europa als Republik nachdenken.
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