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Ökonom über die Zukunft Europas
"Wir müssen den Franzosen die führende Rolle überlassen"

Frankreich könne nach der Wahl Emmanuel Macrons zum Präsidenten neues Selbstvertrauen gewinnen, sagte der Ökonom und Frankreichkenner Stefan Collignon im DLF. Für Deutschland sei es wichtig, den Franzosen politisch die führende Rolle zu überlassen. Die Bundesregierung müsse gemeinsam mit Macron an einem politischeren Europa für die Eurozone arbeiten.

Stefan Collignon im Gespräch mit Birgid Becker | 14.05.2017
    Prof. Dr. Stefan Collignon, Centro Europa Ricerche, Rom
    Der Ökonom Stefan Collignon (imago / Reiner Zensen)
    Birgid Becker: Die Euphorie war kaum zu bremsen nach dem Wahlsieg von Emmanuel Macron. Europa hat er vor Marine Le Pen gerettet und den Euro gleich mit dazu. Was aber schnell folgte auf die Euphorie war eine innenpolitische Debatte um die Frage: Ob und wie soll Deutschland diesen Retter retten? Was eine ungewöhnliche Fragestellung ist, denn wann wäre es je vorgekommen, dass die größten Volkswirtschaften Europas Rettungsringe hin und her werfen? Übertreiben wir's nicht ziemlich? Das habe ich vor der Sendung den Ökonomen und Frankreichkenner Stefan Collignon gefragt. Haben wir es da mit einer Portion deutschem Größenwahn zu tun?
    Stefan Collignon: Es ist vielleicht nützlich, sich mal an Adenauer und Willy Brandt und Helmut Schmidt zu erinnern. Die haben immer gesagt, wir sind ein wirtschaftlicher Gigant, aber politisch müssen wir Frankreich den Vortritt lassen. In den letzten zehn Jahren, Sarkozy, Hollande, Merkel, hat Deutschland immer sehr stark auf seine Eigeninteressen gepocht, sowohl wirtschaftlich wie politisch, und das hat doch sehr viel Reibung geschaffen. Das ging so weit, dass Marine Le Pen zu Hollande einmal gesagt hat, Sie sind ja nur der Vizekanzler der Provinz Frankreich von Deutschland.
    "Europäische Politik kann man nicht durch nationale Politik verändern"
    Worum es jetzt geht ist, dass man wieder die Kräfte bündelt, miteinander redet. Das hat Macron deutlich gesagt. Miteinander reden oder miteinander arbeiten heißt, auch politische Reformen voranzubringen. Europa so, wie es heute ist, funktioniert nicht mehr. Wir brauchen ein politischeres Europa für die Eurozone und Macron hat dazu ein klares Programm, und es wäre schön und wünschenswert, wenn diese und die nächste deutsche Bundesregierung in dieser Richtung mit ihm zusammenarbeiten würde.
    Becker: Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat sich ja deutlich näher an die Seite Macrons gestellt, als das bislang bei der Kanzlerin der Fall ist. Martin Schulz erklärte zur Wochenmitte, dass er dafür sei, die Eurozone weiter auszubauen und einen Eurohaushalt einzurichten. Solche Aussagen, helfen die denn im Moment Emmanuel Macron?
    Collignon: Ja, weil sie zeigen, in welche Richtung es gehen kann und dass sein Programm auch Widerhall findet in Europa und nicht nur eine französische Marotte ist. Wenn wir eins aus der Griechenland-Krise gelernt haben, neben dem fürchterlichen wirtschaftlichen Scheitern, dann auch, dass man europäische Politik nicht durch nationale Politik verändern kann. Das Wählen eines neuen Premierministers oder Präsidenten in einem Mitgliedsland reicht nicht aus, um europäische Politik im Konsens zu ändern. Was aber wünschenswert wäre, dass man die Politik in Europa stärker einheitlich schafft und dass man dies auch stärker demokratisch absichert, und das sind die Ziele, die Macron in seinem Programm hat.
    Becker: Wobei, wenn man genau hinguckt: Auch der amtierende Finanzminister hat (und das war weit vor der Wahl Macrons) solche Ideen nicht rundweg abgelehnt, gemeinsames Budget nicht und auch den gemeinsamen Finanzminister nicht.
    "Das neue Paar kann einen großen Schritt nach vorne machen"
    Collignon: Es ist ja interessant, für alle politischen Entwicklungen gibt es offene Fenster oder auch geschlossene Fenster. Wenn wir zurückdenken: Zum Beispiel die großen institutionellen Reformen der Europäischen Union vor dem Maastricht-Vertrag wurden von Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing gemacht, nachdem beide ihre Wahlen zuhause gewonnen hatten und sie deswegen in einer starken politischen Position waren. Damals wurde das Europäische Parlament direkt gewählt, der Europäische Rat wurde gegründet und das europäische Währungssystem, was der Vorläufer für den Euro war, wurde von Schmidt und Giscard initiiert. - Es ist durchaus vorstellbar, dass nach der Bundestagswahl, wenn dann die Franzosen auch schon einige erste Schritte in der Innenpolitik gemacht haben, dass dann dieses neue Paar, was dann zwischen Deutschland und Frankreich entsteht, einen großen Schritt in Europa weiter nach vorne machen kann.
    Becker: Und das könnte auch der Fall sein, wenn das neue Paar auch das Paar ist, das jetzt im Gespräch miteinander ist, also dieses Tandem Merkel-Macron?
    Collignon: Sicherlich. Das Interessante an Frau Merkel ist, dass sie ja in zehn Jahren oder zwölf Jahren sehr viel gelernt hat, was Europa betrifft. Auf der anderen Seite, sollte Martin Schulz Kanzler werden – er ist ein geeichter Europäer, der durchaus sehr gut versteht, wie es funktioniert. In beiden Optionen gibt es durchaus viel Positives, was Europa weiterbringen kann, wenn der politische Wille da ist.
    Becker: Wie ist das denn mit dem wahrscheinlich kleinkariert klingenden, aber genauso wahrscheinlich zutreffenden Hinweis, dass für die Ideen, die Emmanuel Macron hat, die EU-Verträge geändert werden müssten? Das wird ja aller Voraussicht nach zumindest nicht zügig funktionieren, auch nicht nach der Bundestagswahl in Deutschland.
    Collignon: Das ist eine Aufgabe. Da muss dran gearbeitet werden. Es ist richtig, dann müssten Verträge neu geschrieben werden. Es ist auch nicht ganz klar, welche Art von Verträge dann neu geschrieben werden müssen. Zum Beispiel: Macron schlägt vor, ein Parlament für die Eurozone zu haben, was so in den heutigen Verträgen nicht vorgesehen ist, was aber wahrscheinlich sehr wichtig sein könnte, um den inneren Zusammenhalt politisch wie ökonomisch für die Eurozone zu stärken. Das wäre in gewisser Weise auch eine Neuschöpfung, die Europa weiterbringen könnte, so ein bisschen wie ein Haus im Garten der Europäischen Union zu schaffen.
    Becker: Früher hat man das mal Europa der zwei Geschwindigkeiten genannt und dann vor allem von europafreundlicher Seite gesagt, das sei keine gute Idee.
    "Der Kern Europas ist die Eurozone"
    Collignon: Das ist doch längst Realität. Diese Debatte ist Jahrzehnte alt inzwischen. Die Realität ist, der Kern Europas ist die Eurozone und darum herum gibt es die anderen Mitgliedsländer, die davon profitieren, den gemeinsamen Markt zu haben. Aber dieser gemeinsame Markt funktioniert ja nur, weil 75 Prozent des gesamten Bruttosozialprodukts der Europäischen Union durch den Euro zusammengehalten werden.
    Becker: Wie beurteilen Sie diese Debatte, die so schnell das Schreckenswort der Eurobonds, der gemeinsamen Schuldscheine nimmt, um fast alle Ideen, die in Richtung Vertiefung der Eurozone hinauslaufen sollen, ein bisschen zu diskreditieren?
    Collignon: Ja, das wird schnell von den Gegnern einer vertieften europäischen Zusammenarbeit hervorgekramt. Interessanterweise hat Macron sich da überhaupt nicht drauf versteift. Hollande hat das seinerzeit versucht und ist dabei an den Deutschen gescheitert. Macron hat diese Lektion gelernt und ich denke, zurecht legt er jetzt das Gewicht darauf, eine gemeinsame europäische Wirtschaftsregierung mit einem europäischen Finanzminister, einem europäischen Budget und einem europäischen Haushalt zu schaffen. Das ist sinnvoll.
    Ich würde hinzufügen: Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Welt heute eine andere ist mit Trump und der Türkei und das auch Verteidigungsanstrengungen in Zukunft gemeinsamer gemacht werden. Auch das ist etwas, was Geld kosten wird, und auch da muss man vollkommen neue Formen der Zusammenarbeit finden, die sicherlich in der Vergangenheit überhaupt keine Rolle gespielt haben.
    Becker: Wie könnte denn Deutschland wirklich Macron unterstützen? Wahrscheinlich ja nicht durch dieses Sammelsurium an gut gemeinten Ratschlägen, Reformratschläge, die sich mehr oder minder lesen wie eine Kurzfassung unserer Hartz-Gesetzgebung.
    Erfolge durch neues Selbstvertrauen?
    Collignon: Ich komme zurück auf das, was ich vorhin sagte. Von Adenauer bis Schmidt hieß es, politisch den Franzosen die führende Rolle zu überlassen. Das wäre auch heute wichtig. Im wirtschaftlichen Bereich möchte ich aber hinzufügen: Frankreichs Wirtschaft ist ja in keinem schlechten Zustand. Es stimmt, die Arbeitslosigkeit ist hoch und fällt nur sehr gering. Es stimmt, dass Macron Arbeitsmarktreformen durchführen will, die vielleicht nicht so aussehen werden wie die Hartz-Reformen in Deutschland unter Schröder, aber sicherlich ähnliche Effekte haben könnten. Aber der zentrale wichtige Punkt wird sein, dass insgesamt die Welt, die Finanzmärkte wieder Vertrauen schöpfen in Frankreich, dass das auch sich im französischen Selbstbewusstsein widerspiegelt, nicht mehr wir sind nur von Deutschland dominiert, sondern wir sind ein echter Partner, wir können mit Deutschland auch reden und Deutschland hört uns zu und sagt nicht immer nur Nein. Und mit diesem neuen Selbstvertrauen bin ich überzeugt, dass Frankreich in sehr kurzer Zeit, Sie werden sehen, schon nächstes Jahr, erstaunliche Erfolge in der Wirtschaftspolitik zeigen wird.
    Becker: Um die französische politische Führungsrolle, der Sie das Wort geredet haben, doch noch zu hinterfragen: Warum sollte das denn auch so sein, jetzt noch im 21. Jahrhundert?
    Collignon: Weil Präsident Giscard d’Estaing einmal sagte, wenn Deutschland und Frankreich sich einigen, dann haben wir die großen intellektuellen Traditionen Europas und der europäischen Geschichte vereint, den Rationalismus und die Romantik, die ökonomische Effizienz und die Rationalität. Das ist das Paar, auf dem Europa und seine Konstruktion steht. Helmut Schmidt hat mir einmal gesagt, "ich bin Hamburger gewesen und war immer nach England orientiert. Ich musste als Kanzler lernen, dass man sich am Ende nur auf Frankreich verlassen kann", und das gilt auch heute noch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.