Mittwoch, 15. Mai 2024

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Österreich und der Krieg in Jugoslawien

Remme: Seit fast 60 Tagen bombardiert die NATO nun Ziele über Jugoslawien. Viele militärische Ziele sind beschädigt worden, allein ohne einen politischen Erfolg zu erzielen. Das war auch in der vergangenen Nacht nicht anders. Kaum war der russische Jugoslawien-Beauftragte Viktor Tschernomyrdin nach seinen Gesprächen mit Präsident Milosevic abgereist, bombardierte die NATO Belgrad. Heftige Angriffe wurden gemeldet. Die schwedische Botschaft wurde beschädigt und serbischen Berichten zufolge wurde auch ein Krankenhaus getroffen. Bei diesem Angriff sollen drei Zivilisten ums Leben gekommen sein. Es sind Fehler gemacht worden. Unschuldige Zivilisten sind ums Leben gekommen. Der Angriff auf die chinesische Botschaft, ein Fehler, der erste zaghafte Aussichten auf diplomatische Erfolge vorerst zunichte machte. Das italienische Parlament hat gestern eine Feuerpause gefordert, und wenn es nach dem Willen der Grünen geht, dann soll der Bundestag schnellstmöglich genauso entscheiden. Die diplomatischen Bemühungen um eine UNO-Resolution und eine Feuerpause werden auch heute fortgesetzt. Außenpolitiker seinen in diesen Wochen nur dieses Thema zu kennen. Vor der Sendung habe ich den österreichischen Außenminister Wolfgang Schüssel gefragt, ob auch er seine Zeit ausschließlich dem Krieg im Kosovo widmen muß?

20.05.1999
    Schüssel: Nicht hundertprozentig, aber sicherlich einen großen Teil unserer Zeit, und das ist auch vollkommen richtig so. Wer hätte gedacht, daß Europa am Ende dieses Jahrhunderts wiederum eine Frage von Krieg und Frieden sein wird. Wir erleben im Moment den vierten Balkan-Krieg innerhalb von acht Jahren. Wir haben sechs Millionen Heimatvertriebene, eine Million Serben darunter, drei Millionen Bosniaken, eine Million Kroaten und jetzt über eine Million Kosovo-Albaner, 300 000 Menschen haben ihr Leben verloren. Da ist wirklich hohe Eile und auch Intensität der politischen Arbeit gefordert. Wir müssen jetzt etwas zu Stande bringen, was uns eben in den drei Kriegen zuvor nicht gelungen ist, daß möglichst alle Lunten an noch potentiellen Pulverfässern, die herumglimmen, endgültig ausgetreten werden. Das ist entscheidend!

    Remme: Geht es Ihnen auch so, oder ist das der Eindruck eines Außenstehenden, daß man angesichts der Fernsehbilder der vergangenen fast 60 Tage denkt, mitunter zumindest sich fragt, wie sind wir da nur hineingeraten?

    Schüssel: Schon, nur dürfen Sie nicht vergessen, daß die Fernsehbilder, wie übrigens bei allen Konflikten, immer nur einen Teil der Wirklichkeit zeigen. Es gibt wenige Fernsehbilder von den 500 000 Vertriebenen, die im vorigen Jahr bereits durch die Wälder gejagt worden sind. Es gibt überhaupt keine Informationen, was eigentlich mit den Tausenden Männern geschehen ist, die verschwunden sind, die aus den Flüchtlingszügen herausgeholt worden sind. Ich fürchte sehr, daß wir am Ende, wenn einmal Frieden herrscht - und ich hoffe, es wird bald der Fall sein -, Massengräber entdecken werden aufgrund von Zeugenaussagen, die jetzt gerade in den Flüchtlingslagern gesammelt werden, auf schwerwiegende Kriegsverbrechen und Verletzungen der Menschenrechte noch aufmerksam gemacht werden. Das ist noch lange nicht vorbei. Alle sind für den Frieden; das ist klar. Nur es darf nicht der Friede des Slobodan Milosevic und der Friedhöfe sein. Es muß ein Frieden sein, der den Opfern ihre Würde zurückgibt und die Heimkehr der Flüchtlinge unter sicheren Bedingungen garantiert.

    Remme: Kerstin Müller von den Grünen sagt, spätestens seit diesem Angriff auf die chinesische Botschaft haben Luftangriffe ihren Sinn verloren. Können Sie diesem Argument folgen?

    Schüssel: Sehen Sie, der Angriff und die Bombardierung von der chinesischen Botschaft war ein schrecklicher, ein entsetzlicher Fehler. Da gibt es überhaupt nichts zu beschönigen. Und gerade in einer Demokratie wie Deutschland oder Österreich muß man das offen zugeben. Man hat sich klar entschuldigt. Man hat versucht, glaube ich, daraus auch zu lernen. Offensichtlich ist es mit der Intelligenz von manchen Bomben nicht so weit her. Nur darf das, glaube ich, nicht dazu verleiten, jetzt die gesamte Aktion sofort wieder in Zweifel zu ziehen. Vergessen Sie nicht - -

    Remme: Darum geht es auch nicht. Es geht nur um die Frage, ob die Fortsetzung der Luftangriffe nach diesen 60 Tagen noch Sinn macht?

    Schüssel: Die Fortsetzung hat dann Sinn, wenn sie jetzt nicht irrtümlich ununterbrochen Ziele, die nicht gewünscht sind, die nicht militärisch begründet sind, treffen, sondern sie hat dann Sinn, wenn die militärische Infrastruktur zerschlagen wird. Das ist ja der eigentliche Sinn der Bombardements. Sie sollen darüber hinaus eines ermöglichen, und dort sind wir eben leider noch nicht: sie sollen ermöglichen, daß Belgrad akzeptiert, was die internationale Staatengemeinschaft, jetzt auch Russland in der G8-Gruppe mit verlangt, nämlich Rückkehr der Flüchtlinge, Sicherheitsgarantien, eine internationale Sicherheits- oder Militärpräsenz und Verhandlungen für eine politische Lösung, die zwar den Albanern volle Autonomie gibt, aber trotzdem nicht neue Grenzen zieht.

    Remme: Herr Minister, wie wichtig ist für Sie als Österreicher das Argument, die NATO dürfe in diesem Konflikt ihr Gesicht nicht verlieren?

    Schüssel: Das darf überhaupt kein Argument sein. Wenn jemand das Gesicht behalten muß, dann ist es nicht ein Militärbündnis, sondern dann sind es die Opfer. Das ist, glaube ich, der einzige Punkt. Zum erstenmal kommen ja auch in vielen öffentlichen Diskussionen, die durchaus kontrovers sind, moralische, wertemäßige Menschenrechtsfragen sehr stark in den Vordergrund. Es geht ja nicht um eine Eroberung. Es geht nicht darum, der serbischen Führung jetzt das Gesicht zu nehmen. Es geht darum, das zu erreichen, was gerade wir unter unserer österreichischen Präsidentschaft in der Union so sehnlichst erstrebt haben, woran wir monatelang hart gearbeitet haben, nämlich einen Verhandlungsfrieden. Das ist der eigentliche Punkt.

    Remme: Viele Menschen hierzulande, die von militärischer Planung nichts verstehen, fragen sich, welcher Schaden kann durch eine einseitige Feuerpause verursacht werden?

    Schüssel: Ich bezweifle, daß eine einseitige Feuerpause, ohne daß vorher klar ist, was dann folgt, nur einen einzigen Gewinn erkennt, und das ist Slobodan Milosevic mit seiner Taktik und Strategie, die Staatengemeinschaft zu teilen. Wenn Sie jetzt mit den Bombardements aufhören, dann erhebt sich ja erst recht die Frage, was dann, wie können wir verhindern, daß etwa die Vertreibungen neu und intensiviert und wieder stärker aufgenommen werden, wie können wir erreichen, daß nicht dann die UCK in dieses Vakuum verstärkt hineingeht, daß hier dann ein noch blutigerer Bürgerkrieg beginnt, wie können wir sicherstellen, daß man so rasch wie möglich bei einer Feuerpause - für mich müßte das gleichzeitig gehen - eine internationale militärische Präsenz in die Region hineinbringt, um dann die sichere Rückkehr der Flüchtlinge zu ermöglichen.

    Remme: In der NATO gibt es ganz offen völlig unterschiedliche Vorstellungen, wie es weitergehen soll. Bill Clinton und Tony Blair wollen Bodentruppen ausdrücklich nicht ausschließen. Ihnen geht es um einen Sieg um jeden Preis. Das kann sich Gerhard Schröder schon aus innenpolitischen Gründen nicht leisten. Wem gehört hierbei die österreichische Unterstützung?

    Schüssel: Ich glaube, daß Sie die Dinge etwas zu stark zugespitzt haben. Ich glaube, daß wir hinter den Kulissen und unter der Oberfläche viel mehr positive Bemühungen im Moment haben als man sieht. Es reden die Amerikaner direkt mit den Russen, es reden die Militärleute bereits über eine mögliche Komposition einer solchen internationalen Militärpräsenz. Ich finde es auch gut, daß hier solche Gespräche stattfinden, weil das auch für unsere Bürger, gleichgültig ob in Deutschland oder Österreich, Sicherheit gibt, daß ein solcher immer noch lokaler Konflikt nicht ausufert zu einem Dritten Weltkrieg. Solange die Amerikaner, die Russen, die Europäer miteinander reden, solange Vermittler sich darum bemühen, etwas Konstruktives weiterzubringen, ist es gut. Zweitens. Übersehen Sie nicht, daß es auch erstmals innerhalb Serbiens und Jugoslawiens ruhige, besonnene Stimmen gibt, die für den Frieden werben. Das ist die Opposition, die teilweise fliehen mußte, weil sie der Diktator vertrieben hat, etwa der gestrige Bombenanschlag auf das demokratische Hauptquartier einer Partei. Sie haben aber Demonstrationen für den Frieden, gegen die zwangsweise Rekrutierung von jungen Männern in Serbien. Vergessen Sie nicht, daß es erstmals auch mit dem Präsidenten von Montenegro einen ruhigen, besonnenen, proeuropäischen Führer einer Republik Jugoslawiens gibt, der einen anderen Weg gehen will. Diese Kräfte sollten wir stärken!

    Remme: Dennoch, Herr Schüssel, dürfen Bodentruppen eine Option sein?

    Schüssel: Man sollte nichts ausschließen; das ist klar. Ich glaube nicht, daß im Augenblick diese Dinge und diese Option im Vordergrund stehen. Ich hoffe auch sehr, daß wir längst innerhalb der nächsten zwei, drei Wochen zu einer Lösung kommen, die allerdings die Forderungen der Staatengemeinschaft voll respektieren muß. Übersehen Sie nicht, daß auch erstmals von Belgrad einige interessante Stimmen kommen, daß die Prinzipien der G8 interessant sind, daß sie einen Fortschritt darstellen. Ich glaube, wenn die gemeinsame Linie der Staatengemeinschaft aufrecht bleibt, dann können wir in zwei, drei Wochen dort sein, wo wir hin wollen.

    Remme: Sie haben eben einmal kurz das Schicksal der Menschen erwähnt, die noch im Kosovo sind. Über diese Schicksale wissen wir nicht viel. Wissen Sie möglicherweise mehr, oder aber die Frage, welche Chancen hat man, diesen Menschen zu helfen?

    Schüssel: Wir sind am Montag mit Präsident Rugova, das ist der gemäßigte Führer der Kosovo-Albaner, beim europäischen Außenministerrat zusammengesessen, und er hat sehr bedrückend über seine Wochen in der Gefangenschaft als Geisel von Milosevic geredet. Sein Eindruck ist, Pristina ist heute eine Geisterstadt. Es gibt dort fast keine Albaner mehr. Der Kosovo ist beinahe menschenleer. Früher waren dort zwei Millionen Menschen, 90 Prozent Albaner. Heute schätzt er, sind vielleicht 2, 300 000 Albaner noch in den Wäldern versteckt. Es ist also das Konzept der ethnischen Säuberung beinahe schon aufgegangen. Die Menschen, die sich noch versteckt halten oder die in den Wäldern herumirren, sind zum Teil in sehr schlechtem Gesundheitszustand. Daher ist es ganz wichtig, daß wir versuchen, gemeinsam mit den Schweizern, Griechen, Russen, da gibt es diese Focus-Initiative, mit entsprechenden Sicherheiten in die Region hineinzukommen, um humanitär zu helfen. Das läuft jetzt langsam an, und das finde ich eigentlich eine ganz wichtige humanitäre Initiative.

    Remme: Die letzte Frage, Herr Minister

    Schüssel: Wie lange, glauben Sie, werden die Luftangriffe noch andauern?

    Schüssel: Wie ich gesagt habe, ich glaube, daß man jetzt sich annähert zwischen Europa, Russland und Amerika in Richtung auf Vorarbeit zu einer UNO-Sicherheitsratsresolution und daß man vielleicht in zwei, drei Wochen eine solche Lösung hat. Ich hoffe das sehr, und ich glaube, daß wir uns auf diese Arbeit konzentrieren müssen, jetzt aber auch schon die Planung aufnehmen müssen für die Zeit danach, denn es wird eine höllische Arbeit sein, einfach logistisch 1,2 Millionen Flüchtlinge zurückzubringen, sie zu ernähren, ihnen Wasser zu geben, ihnen beim Wiederaufbau zu helfen. All dies kann man jetzt schon planen, auch wenn man nicht bei der NATO ist.

    Remme: Wolfgang Schüssel war das, der österreichische Außenminister.