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Paris
Die kleinste aller Weltstädte expandiert

In Paris herrscht Aufbruchstimmung. Nicht nur in der Politik, wegen des neuen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, sondern auch in der Stadt selbst. Paris soll radikal umstrukturiert und erweitert werden. In seinem Buch "Le Grand Paris" untersucht Günter Liehr, wie und warum.

Von Bettina Kaps |
    Blick auf Paris
    Blick auf die französische Hauptstadt Paris. (picture alliance / dpa / Foto: Kevin Kurek)
    Paris ist die kleinste aller Weltstädte: Gut zwei Millionen Menschen leben hier auf einer Fläche von nur 105 Quadratkilometern. Seit 1860 ist das Stadtgebiet nicht mehr erweitert worden. Das war politisch gewollt: Paris sollte nicht wachsen, so die These von Günter Liehr. Deshalb wurde der Stadt ein Korsett verpasst: Früher umrundeten sie Festungsanlagen, heute schnürt der "Boulevard Périphérique" sie ein. Straßen und Häuser jenseits der Ringautobahn gehören zu anderen Städten.
    In seinem Buch "Le Grand Paris: Eine Stadt sprengt ihre Grenzen" geht Liehr der Frage nach, wie es zu diesem Anachronismus kam und warum er jetzt in rasantem Tempo überwunden werden soll.
    Der Autor Günter Liehr am Ufer des Bassin de la Villette in Paris.
    Der Autor Günter Liehr am Ufer des Bassin de la Villette in Paris. (Bettina Kaps / Deutschlandradio)
    Der Autor blickt zurück ins 19. Jahrhundert und beschreibt lebendig, wie Paris damals unter Napoleon dem Dritten und dem Präfekten Haussmann umgekrempelt wurde. Der Stadtplaner Haussmann erscheint als halsstarriger und kühner Kraftprotz – Liehr stützt sich auf Äußerungen von Zeitzeugen. Er zitiert auch aus Romanen und interpretiert Gemälde, auf denen die Verwandlung von Paris zu sehen ist.
    Das Paris der Revolten
    Zugleich analysiert er, welche politischen und wirtschaftlichen Ziele die urbanistischen Eingriffe vorantrieben.
    "Ein Teil der Aufgabe bestand [...] darin, die Hauptstadt, in der seit dem Mittelalter immer wieder Konflikte zwischen den Herrschenden und dem Pariser Volk ausgebrochen waren, politisch zu entschärfen, jenes Paris der Revolutionen, Revolten und Rebellionen zu zähmen, von dem, wie Friedrich Engels schrieb, 'in gemessenen Zeiträumen die elektrischen Schläge ausgehen, unter denen eine ganze Welt erbebt'."
    Haussmann verwandelte das innere Paris in eine geschützte Zone für die dominierenden Kreise, schreibt Liehr. Industriebetriebe und die Arbeiterbevölkerung wurden an die Ränder gedrängt. Eine derart gezielte Weichenstellung in Richtung Segregation und Gentrifizierung habe es zuvor in Paris nicht gegeben.
    Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die völlig nutzlosen Festungsanlagen aus dem 19. Jahrhundert abgerissen. Einzelne Sozialreformer drängten damals schon auf die Organisation eines "Grand Paris". Sie forderten echte Solidarität zwischen Hauptstadt und Banlieue, einen Finanzausgleich, mehr Demokratie. Aber dazu kam es nicht. Der Grund: Auf den Äckern rund um Paris war ein Industriepark entstanden, die Hauptstadt wurde von linken Arbeiterhochburgen umzingelt. Im Jahr 1924 freute sich die Parteizeitung "L´Humanité" über kommunistische Wahlerfolge:
    "Paris, die Hauptstadt des Kapitalismus, ist eingekreist von einem Proletariat, das sich seiner Kraft bewusst wird. [...] Der Erfolg des 11. Mai beinhaltet potenziell die Kontrolle der reaktionären Viertel des Zentrums, seiner Banken, seiner Staatsmonumente, seiner Versorgung, seiner Verbindungswege, seiner Kasernen, durch das revolutionäre Proletariat."
    Für die konservativen Politiker der Hauptstadt war klar: Eine Ausdehnung von Paris kam überhaupt nicht in Frage.
    Die Ursachen der Banlieue-Problematik
    Ein zweiter Modernisierungsschub setzte 1958 ein, unter Staatspräsident Charles de Gaulle. Beispielsweise mit dem Bau von riesigen Sozialsiedlungen vor den Toren der Stadt. Diese "Unterbringungssilos auf den Äckern der Ile-de-France", so Liehr, legten die Wurzeln für die heutigen Banlieue-Probleme. In Paris selbst gab es erneut Kahlschlagsanierungen: An den Stadträndern, im 13. und 19. Arrondissement, wurden wieder einmal Kleineleute-Viertel zerstört.
    "Es ging dann bei der großen Erneuerung nicht so sehr um massiven Neubau von Wohnungen, sondern vor allem um eine qualitative Umschichtung. [...] [Um einen] Bevölkerungsaustausch, der wie ein Fortsetzungskapitel in dem von Haussmann angestoßenen Prozess erscheint."
    Damals wurde auch die Ringautobahn gebaut. Der Kranz aus Asphalt vertiefte die Trennung von drinnen und draußen noch.
    Die Wende in der Stadtplanung
    Es war Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der 2007 völlig überraschend das Projekt "Groß Paris" lancierte. Es soll die Museumsstadt in die Spitzenriege der "Global Cities" katapultieren, Paris soll mit Schanghai, London oder Dubai konkurrieren. Die Bevölkerung wird nicht gefragt und von Solidarität zwischen armen und reichen Vierteln ist erst recht keine Rede mehr. Liehr beschreibt, was geplant ist und gerade beginnt.
    "Also werden sich in der Tiefe ein Jahrzehnt lang die Tunnelmaschinen durch 200 Kilometer Untergrund fräsen, während an der Oberfläche die neuen Zentralitäten in Form kleiner La-Défense-Ableger entstehen und auf den letzten Äckern Wissenschaftscluster und Shopping-plus-Kultur-Freizeitparks wachsen, derweil das alte Paris eine Halskrause aus exzentrischen Wolkenkratzern und ein Twin-Tower-Paar mit Schwimmbädern für Millionäre bekommt."
    Paris habe die Flucht nach vorn angetreten, sagt der Autor im Gespräch. Man könne es allerdings auch als ein Hinterher-hecheln betrachten.
    "Es gibt in Frankreich diese Angst vor der Verspätung. Die Furcht, den Anschluss verpasst zu haben. Das kommt in den Reden von Sarkozy auch zum Ausdruck: Wir laufen Gefahr, demnächst in der zweiten Liga zu spielen. Und das war schon so bei Louis Napoléon. Der hat auch festgestellt: Frankreich und vor allem Paris ist dabei den Anschluss zu verpassen. Der hat sich längere Zeit in London aufgehalten, der konnte das vergleichen."
    "Das nächste Mal war unter de Gaulle nach dem Ende des Algerienkriegs. Da war wieder so eine Situation da, wo Frankreich tatsächlich den Anschluss verpasst hatte, da musste mit Macht aufgeholt werden. Und es gab jedes Mal, in allen drei Fällen, so einen Schub, der Paris betraf. Weil Paris nicht nur das politische und kulturelle Zentrum des Landes ist, sondern auch das wirtschaftliche Zentrum."
    Günter Liehr schöpft aus seinem enormen Faktenwissen und behält stets die politischen Zusammenhänge im Blick. Originell ist, dass er Spaziergänge durch zwölf Viertel in- und außerhalb von Paris vorschlägt. Wer sie selbst nicht nachgehen kann, findet beim Lesen der reich bebilderten Kapitel weitere wenig bekannte Informationen über diese faszinierende Stadt und ihre Bewohner.
    Günter Liehr: "Grand Paris. Eine Stadt sprengt ihre Grenzen. 12 urbane Exkursionen"
    Rotpunktverlag, 395 Seiten, 36 Euro.