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Patrícia Melo
Rasanter Aufstieg und schneller Fall

Die Grande Dame des brasilianischen Kriminalromans hat ein Buch über ihre Heimat geschrieben, das pünktlich zu den Olympischen Spielen auch auf Deutsch erscheint. Patrícia Melo erzählt in "Trügerisches Licht" vom Show-Business und beschreibt Brasilien als ein Land, in dem es in jedem Bereich knirscht oder sogar kracht.

Dina Netz im Gespräch mit Jan Drees | 05.08.2016
    Die brasilianische Autorin Patricia Melo blickt am 11.10.2013 auf der Buchmesse in Frankfurt am Main (Hessen) in die Kamera.
    Die brasilianische Autorin Patricia Melo (picture alliance / dpa / Arne Dedert)
    Jan Drees: Heute beginnen in Rio de Janeiro die Olympischen Spiele. Und es soll wie ein fröhliches Sportfest wirken, aber die Realität sieht anders aus: Zwei Drittel der Brasilianer sind gegen die Spiele, denn ihr Land steckt in einer tiefen wirtschaftlichen Krise. Statt für die Spiele hätte man das Geld besser für Bildung und Gesundheitswesen ausgegeben, meinen viele. 85.000 Sicherheitskräfte sollen das Schlimmste verhindern – man fürchtet terroristische Anschläge genau so wie kriminelle Überfälle. Gerade ist ein neues Buch der Grande Dame des brasilianischen Kriminalromans, Patrícia Melo, erschienen, es heißt "Trügerisches Licht". Dina Netz, der Verlag bringt den Roman vermutlich nicht zufällig jetzt heraus, wie passt das Buch zum Auftakt der Olympischen Spiele?
    Dina Netz: Patrícia Melo ist bekannt als eine schonungslose Kritikerin der brasilianischen Gesellschaft. Insofern hätte man "Trügerisches Licht" auch blind jetzt herausbringen können, und es hätte ganz sicher gepasst. Und in der Tat geht Melo wieder einmal hart mit ihrem Land ins Gericht. Primär ist es ein Roman über das Showbusiness, über den rasanten Aufstieg und genau so schnellen Fall von Fernseh-Stars und -Sternchen. Aber es geht auch um Drogen, um die korrupte Polizei, um die Ränke der Politik. Melo beschreibt Brasilien als ein Land, in dem es in jedem Bereich knirscht oder sogar kracht.
    Drees: Was für eine Geschichte erzählt Melo denn vor diesem Hintergrund?
    Netz: Es geht um Fábbio Cássio, einen gutaussehenden Fernsehserien-Star, nach dem die Mädchen ihre Unterhosen werfen. Er schießt sich auf der Theaterbühne am Ende eines Monologs in den Kopf. Und es sieht aus wie ein brillant inszenierter Selbstmord. Es kommen aber bald Zweifel auf an der Suizid-These, und die perfekte Tatverdächtige ist schnell ausgemacht: Fábbios Freundin Cayanne, von der er sich trennen wollte und auf die seine Lebensversicherung läuft. Natürlich war auch sie es nicht, und bis Kommissarin Azucena den wahren Täter aufspürt, erlebt sie so einiges.
    Und dieses "einige" macht eben den Reiz des Buches aus. Da erfährt man von Polizisten, die mit den Drogenkartellen zusammenarbeiten und ihre eigenen Kollegen hinrichten, wenn die das rausfinden. Oder man erfährt, wie die Politik in die Polizeiarbeit reinregiert. Die Vorgesetzten der Kommissarin werden in diesem Buch alle paar Seiten ausgetauscht.
    Und man bekommt einen Einblick in eine Gesellschaft, die total auf ihre Stars fixiert ist, die genau so geil ist auf die trauernde Witwe Cayanne wie darauf, sie auf dem Scheiterhaufen brennen zu sehen. Man erfährt viel über Senderchefs und Presse, die die Stars behandeln wie einen hübschen Gegenstand, den man nach Gebrauch wegwerfen kann. Dieses Showbusiness ist, scheint mir, noch viel grausamer als bei uns, weil in Brasilien eine Fernsehkarriere eben eine der wenigen Chancen für Arme ist, zu Ruhm und Reichtum zu kommen und die Stars deshalb mit viel Neid und Missgunst beobachtet werden.
    Also, Patrícia Melo gewährt uns sehr genaue Einblicke in die brasilianische Gesellschaft, aber eher nebenbei, der Krimi verliert dadurch nicht an Spannung.
    Drees: Das klingt alles nach einer ziemlich harten Geschichte. In welcher Sprache erzählt Melo das?
    Netz: Patrícia Melo ist für ihre Schonungslosigkeit bekannt, auch stilistisch. Sie hält sich nicht auf mit Poesie: Sie nennt die Dinge beim Namen, steigt in knappem, fast sachlichem Ton mit ihrer Kommissarin hinab in die tiefsten Abgründe. Azucena hat keine Zeit, sich mit Reflexionen und Emotionen aufzuhalten. Und diese Verknappung, diese Reduktion auf die reine Handlung lässt das, was Melo erzählt, nur noch brutaler wirken.
    Drees: Das Buch ist in Brasilien 2014 erschienen, geschrieben hat Melo es also sogar noch vor der Fußball-Weltmeisterschaft dort. Ist es damit schon veraltet, oder gelten ihre Analysen heute noch?
    Netz: Melo konnte natürlich vieles noch nicht wissen, was bis heute passiert, den Sturz von Präsidentin Roussef zum Beispiel, der ja Züge eines Putsches hatte, die Verschärfung des Drogenkriegs, Gesundheits- und Bildungssystem sind inzwischen mehr oder weniger kollabiert. Die Gewalt, mit der knapp 80.000 Menschen nur für den Bau von Sportstätten umgesiedelt wurden, die Gewalt der Polizei in den Armenvierteln, die enorm zugenommen hat – das alles spielt im Roman natürlich noch keine Rolle. Aber es hätte an dem Buch vermutlich nicht viel verändert, denn einer der Chefs der Kommissarin sagt einmal: "São Paulo ist Gaza." Und Rio beschreibt er als noch schlimmer. Also: Melo betrachtete Brasilien schon 2014 als ein Land, in dem zumindest in den Großstädten Krieg herrscht. Und diese Analyse gilt heute wohl leider erst recht.
    Patrícia Melo: "Trügerisches Licht", Roman, aus dem brasilianischen Portugiesisch von Barbara Mesquita, Tropen Buchverlag, 320 Seiten, 14,95 Euro