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Politikwissenschaftlerin sieht Gefahr von Wahlmanipulation in Ägypten

Die ägyptische Politikwissenschaftlerin Hoda Salah von der Freien Universität in Berlin erwartet, dass es für den neuen Verfassungsentwurf zu einer Mehrheit kommt. Und: "Es gibt eine große Bereitschaft zu Brutalität", beschreibt sie die Gefahr eines Bürgerkrieges.

Hoda Salah im Gespräch mit Martin Zagatta | 15.12.2012
    Martin Zagatta: Und verbunden sind wir jetzt mit Hodah Salah, ägyptische Politikwissenschaftlerin an der Freien Universität in Berlin. Guten Morgen, Frau Salah!

    Hoda Salah: Guten Morgen, Herr Zagatta!

    Zagatta: Frau Salah, wir haben gehört, dieses Referendum, der Verfassungsentwurf ist höchst umstritten. Rechnen Sie mit einer Mehrheit, ist das für Sie klar?

    Salah: Ich befürchte eine Mehrheit, ja, leider. Obwohl eine sehr große Opposition dagegen ist, aber die Islamisten mobilisieren auch seit Tagen ihre Leute. Und wir gehen davon aus, dass es vielleicht auch eine Wahlverfälschung gibt und so weiter.

    Zagatta: Wie stark ist denn die Opposition, hat die da keine Chance, dagegenzuhalten?

    Salah: Sie hat Chancen, die ist auch sehr stark. Und auch, zum Erstaunen in dieser ganz dramatischen Situation ist sie auch sehr gut organisiert. Und man sieht auch sehr viele Aktionen. Und auch ist jetzt die Opposition beinahe eine Einheit. Die haben jetzt diese Nationalfront gegründet und haben auch gemeint, wir müssen alle zur Wahl gehen und Nein sagen. Aber wissen Sie, die Islamisten oder, sagen wir, auch diese Strömung, die islamische Strömung mit ihrer großen Breite, die sind auch sehr gut organisiert. Und wir wissen nicht, wer heute die Wahl beobachten wird. Das heißt, Sie wissen, das haben Sie auch in Ihrem Bericht gesagt: Die Richter wollen nicht mitmachen, ein großer Teil von denen. Und es gibt auch viele Gerüchte, dass auch viele Leute, die selbst den Muslimbrüdern angehören, die Wahl selbst beobachten werden. Das heißt, hier gibt es viele Rufe in Ägypten, dass Leute, wenn sie zur Wahlurne gehen, dass sie genau fragen, wer bist du, der Typ, der das beobachtet oder ob das ein Richter ist und so weiter.

    Zagatta: Welche Rolle spielt denn da, Frau Salah, welche Rolle spielt denn da eigentlich Präsident Mursi? Kann man ihn und seine Muslimbrüder – aus deren Reihen stammt er ja oder kommt er ja –, kann man die in einen Topf werfen?

    Salah: Wir gehen jetzt davon aus, dass es momentan innerhalb der Muslimbruderschaft auch Konflikte gibt. Das heißt, wir haben jetzt auch ... Der Präsident Mursi, der äußert sich kaum in der letzten Zeit, sondern eigentlich andere Leute, die gar nicht eine Position haben im Staat. Das heißt, man denkt, entweder hat er nicht viel zu sagen und sie regieren selbst Ägypten. Oder es gibt eine große Innerauseinandersetzung zwischen verschiedenen Gruppierungen. Und ich habe jetzt sehr viele Studien auch gelesen in der letzten Zeit, dass auch die Muslimbrüder, da haben sich auch ihre Innenstrukturen sehr geändert, dass momentan die salafistischen Gruppierungen innerhalb der Muslimbrüder mehr die Macht haben. Und Mursi gehört zu der moderaten oder auch etwas liberalen Strömung. Aber leider gehen die Muslimbrüder momentan selbst Richtung Radikalisierung, was eigentlich nicht 2005 oder so die Situation war.

    Zagatta: Ist denn diese neue Verfassung, kann man das so interpretieren, ist das ein Versuch der Muslimbrüder, Ägypten umzukrempeln in einen islamischen Staat einschließlich Scharia? Kann man das so sehen?

    Salah: Nicht nur die Muslimbrüder. Wissen Sie, diese Verfassungskomiteeleute, wenn man die Protokolle liest, da gab es auch große Streite zwischen den Muslimbrüdern und den salafistischen Gruppierungen. Das heißt, es gibt sehr viele Artikel, die die Muslimbrüder nicht wollten. Und sie haben auch sehr dagegen gekämpft. Zum Beispiel, dass von der Scharia auch die Gesetze durchgesetzt sind und nicht nur die Grundlage oder die Prinzipien der Scharia in der Verfassung. Und das heißt, momentan haben sie in der Verfassung selbst einen großen Streit zwischen islamischen Strömungen, die sehr radikal sind. Und leider gibt es auch ein paar Artikel darin, um sie ein bisschen zu beruhigen. Und dann etwas moderater, aber natürlich sind beide nicht demokratisch genug. Aber die Muslimbrüder selbst, die haben momentan ihre große Herausforderung mit diesen stark fundamentalistischen Gruppierungen, die nennt man die Salafiagruppen.

    Zagatta: Frau Salah, wenn wir Scharia hören hier im Westen, da sträuben sich ja bei vielen die Nackenhaare. Wie ist das in Ägypten? Das war ja vergleichsweise für die Region einmal eine relativ westlich orientierte Gesellschaft noch, gibt es da diese großen Bedenken bei der Mehrheit nicht?

    Salah: Auf jeden Fall, auf jeden Fall. Wenn Sie die Debatten verfolgen – und das ist auch was, was sehr traurig ist –, es geht alles jetzt um die Definition von der Religion und ihrer Rolle im neuen Ägypten. Und seit eineinhalb Jahren, da gab es auch diese Streite zwischen verschiedenen Gruppierungen und auch religiösen Gruppierungen über die Rolle der Scharia. Momentan, was ich sehr bedauere, dass jetzt der Konflikt auch sehr konzentriert auf die Religion und die Rolle der Scharia ist, und viele haben auch Angst davor ... Aber viele Menschen, die jetzt in Ägypten kämpfen, die kämpfen nicht nur wegen der Scharia, sondern es gibt auch sehr viele Artikel in der Verfassung selbst, die sind gegen Arbeiterrechte, gegen Frauenrechte, gegen Minderheitsrechte, gegen Kinderrechte. Es gibt kaum oder es gibt gar keine internationalen Konventionen, die in der Verfassung erwähnt sind, die Ägypten schon ratifiziert hat. Es gibt so ein großes Vakuum, nicht nur um die Religion, sondern auch um viele individuelle Menschenrechte und auch soziale und wirtschaftliche Rechte. Und die sind gar nicht erwähnt auch in der Verfassung. Die Scharia ist ein Teil von dem Kampf momentan, aber der Kampf geht jetzt von den verschiedenen Gruppierungen für einen demokratischen Staat, den man erhofft nach der Revolution.

    Zagatta: Das, was Sie sagen, klingt ja alles nicht sehr erfreulich. Ist denn der Islamismus, lässt sich das für Ägypten so sagen, ist der Islamismus der Sieger des Arabischen Frühlings in Ägypten?

    Salah: Bis jetzt schon. Aber leider diese radikale Erscheinung. Und was auch sehr traurig ist: Die Muslimbrüder waren ungefähr bis Mitte 2000 wirklich moderat und da gab es auch sehr viele ... Was auch sehr erschreckend ist momentan, wenn Sie die Zeitungen lesen in Ägypten, dass viele Wissenschaftler sich entschuldigen für ihre Analyse. Weil eigentlich, diese Radikalisierung innerhalb der Muslimbrüder, das erschreckt auch viele von uns. Und jetzt, wenn ich die Konflikte in Ägypten verfolge, ja, da bekommt man auch Angst und man kann nicht glauben, dass ... Diese Auseinandersetzung geht nicht um Argumente und Gegenargumente, sondern ob Sie Moslem sind oder nicht oder ob Sie in die Hölle gehen oder nicht. Und die ganze Diskussion ist momentan wirklich um, leider, kann zu einem Krieg führen! Weil, es gibt jetzt eine Liste sogar von den Muslimbrüdern, die sagen das in den Medien: Diese Leute sind nicht Moslem, wir müssen sie bekämpfen! Wissen Sie, das ist so erschreckend momentan, diese Situation!

    Zagatta: Sehen Sie die Gefahr – das sagen ja manche –, sehen Sie die Gefahr eines Bürgerkrieges? Oder wäre das übertrieben?

    Salah: Nein, das ist nicht übertrieben. Was ich jetzt in den letzten, sagen wir, drei Wochen verfolge, und auch wenn ich die Aktionen sehe: Ägypten ist momentan in einem großen Schockzustand. Wie kann die Gewalt so eskalieren, wie kann die Gewalt zwischen verschiedenen Gruppierungen der Gesellschaft ... Wissen Sie, wenn Sie Bilder sehen, da gibt es auch momentan diese neuen Medien, man kann alles sehen momentan, man kann live das miterleben, da gibt es Schwerter dabei in den Kämpfen, da gibt es viele Waffen. Es gibt eine große Bereitschaft zu Brutalität, es gibt sehr viele Tote, Verletzte. Das ist momentan wirklich sehr, sehr gefährlich. Und was ich sehr, sehr schade finde von den Muslimbrüdern, auch von anderen Gruppierungen, die beruhigen die Lage nicht, sondern sind noch radikaler in ihren Äußerungen!

    Zagatta: Hoda Salah, ägyptische Politikwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin. Frau Salah, ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch!

    Salah: Ich danke Ihnen, Herr Zagatta!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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