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Politische Visionen
Niederländischer Historiker fordert "Utopien für Realisten"

Offene Grenzen, die 15-Stunden-Woche und vor allem die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens - das sind zentrale Visionen des niederländischen Historikers und Journalisten Rutger Bregman, die er in seinem neuen Buch "Utopien für Realisten" darlegt. Bregman regt dazu an, die eingefahrenen Gleise etablierter Denkmuster zu verlassen.

Von Ralph Gerstenberg |
    Eine Bürgerinitiative fordert das Bedingungslose "Grundeinkommen als Menschenrecht".
    Eine Bürgerinitiative fordert das bedingungslose Grundeinkommen als Menschenrecht. (picture alliance/dpa/Foto: Soeren Stache)
    Wir leben nicht nur in der besten aller Welten, sondern auch in der besten aller Zeiten, und genau das ist das Problem, meint Rutger Bregman in seinen "Utopien für Realisten". Wir können uns keine bessere Welt mehr vorstellen. Der Kontinent Utopia ist von der Landkarte verschwunden. "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen", hat Ex-Kanzler Helmut Schmidt nachfolgenden Politikern ins Stammbuch geschrieben. Und der Bundestagswahlkampf hat einmal mehr gezeigt, dass die meisten sich daran halten. Ein bisschen weniger CO2-Ausstoß hier, ein bisschen mehr Kaufkraft da, im Grunde geht es jedoch allen um den Erhalt des Status Quo. Eine wirkliche Vision haben die wenigsten - und die werden als weltfremde Träumer und unverbesserliche Idealisten abgetan, denen jeglicher Sinn für die gegenwärtigen politischen und sozialen Verhältnisse abhanden gekommen ist. Dem widerspricht Rutger Bregman in seinem Buch vehement:
    "Ohne all die idealistischen Träumer, die es zu allen Zeiten gab, wären wir immer noch arm, hungrig, schmutzig, ängstlich, dumm, krank und hässlich. Ohne Utopie sind wir verloren. Nicht, dass die Gegenwart schlecht wäre, im Gegenteil. Aber es ist eine freudlose Gegenwart, wenn wir nicht darauf hoffen dürfen, dass die Zukunft besser sein wird. 'Der Mensch braucht zu seinem Glück nicht nur diesen oder jenen Genuss, sondern Hoffnung, neue Unternehmungen und Veränderung', schrieb der britische Philosoph Bertrand Russell. An anderer Stelle erklärte er: 'Unser Ziel sollte nicht ein vollkommenes Utopia sein, sondern eine Welt, in der Phantasie und Hoffnung lebendig sind.'"
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    Buchcover Rutger Bregman "Utopien für Realisten" (Rowohlt Verlag )
    Rutger Bregman sieht Utopien als Skizzen oder als Wegweiser, die zu Veränderungen führen und vielleicht mehr über die Zeit aussagen, in der sie entstanden, als über die Zukunft, für die sie gedacht sind.
    Gefahren und Potenziale von Utopien
    Dabei ist ihm durchaus bewusst, wozu Utopien führen können, wenn sie als Blaupause für die Realität dienen und zum "großen Narrativ" anwachsen, zum allumfassenden Erklärungsmodell, dem eine zentrale These zugrunde liegt. Dann enden sie als Dystopien, in Zwietracht, Gewalt und Völkermord.
    "Es stimmt, die Geschichte ist voller furchtbarer Beispiele dafür, was geschehen kann, wenn Utopien verwirklicht werden - Faschismus, Kommunismus, Nationalsozialismus. Auf der anderen Seite verurteilen wir nicht automatisch ein ganzes Glaubensbekenntnis, weil religiöse Fanatiker zu Gewalt aufrufen. [...] Warum also den Utopismus in Bausch und Bogen ablehnen? Sollen wir tatsächlich aufhören, von einer besseren Welt zu träumen?"
    Die Antwort auf diese rhetorische Frage liefert Rutger Bregman in Form von Beispielen für möglicherweise machbare Utopien, die nicht besonders originell sind und wohl auch nicht sein sollen, schließlich handelt es sich ja um "Utopien für Realisten". Da wäre vor allem das bedingungslose Grundeinkommen, das Bregman unbedingt realisiert sehen will. Nachdem ausgerechnet der damalige US-Präsident Richard Nixon es Anfang der 1970er Jahre beinahe per Gesetz eingeführt hätte, sei es nun absolut überfällig. "Studien aus aller Welt" hätten belegt, dass es funktioniert, Geld ohne Auflagen an Bedürftige zu verteilen. Die Zuwendungen seien nicht sinnlos verprasst und in Drogenkonsum investiert worden, weder die Faulheit habe zugenommen noch der sittliche Verfall, wie Kritiker stets befürchteten. Das Geld sei vielmehr sehr gezielt und problemorientiert für Medikamente, Ausbildung, Kindererziehung und die Realisierung von Geschäftsideen verwendet worden. Zum ersten Mal in der Geschichte sei ein solches Grundeinkommen finanzierbar, rechnet Bregman vor, und es könne dem Sozialstaat seinen eigentlichen Sinn zurückgeben.
    "Der Sozialstaat, der den Menschen eigentlich Sicherheit und Selbstwert vermitteln soll, ist zu einem System von Misstrauen und Scham geworden. Rechte und Linke haben einen grotesken Pakt geschlossen. 'Die politische Rechte fürchtet, dass die Menschen aufhören zu arbeiten', beklagt die kanadische Professorin Forget, 'und die Linke traut ihnen keine eigenständige Entscheidung zu.' Ein Grundeinkommen wäre der bessere Kompromiss. Die Umverteilung würde die Forderung der Linken nach Gerechtigkeit erfüllen, und was das System der Gängelung und Demütigung anbelangt, so käme es der Forderung der Rechten entgegen, staatliche Einflussnahme zu begrenzen."
    Ein moderater Visionär
    Ähnlich argumentiert Rutger Bregman, wenn er für die Einführung einer 15-Stunden-Woche oder ein Ende der Abschottungspolitik westlicher Wohlstandsnationen plädiert. Immer fragt er nach Sinn und Nutzen des bestehenden Systems, studiert Fallbeispiele und Fakten und führt schließlich Alternativen ins Feld, die Forderungen nach mehr Gerechtigkeit und Wohlstand nicht nur als leere Versprechen auf Wahlplakaten erscheinen lassen.
    Rutger Bregman ist kein Politiker, er kann seinen Gedanken freien Lauf lassen, ohne auf Parteidisziplin, Koalitionsoptionen und Kennzahlen zu achten. Vielmehr stellt er die Aussagekraft von Zahlenwerken wie dem Bruttoinlandsprodukt infrage, weil eine große Menge an Wertschöpfungen darin nicht enthalten sei. Er ist auch kein Revolutionär, der für die Abschaffung der bestehenden Gesellschaftsordnung kämpft, sondern ein moderater Visionär, der mit seinen Vorschlägen die Lebensqualität der Menschen im Kapitalismus verbessern will.
    Die Vortragsweise in seinem Buch gleicht der eines Redners, der mit Headset-Mikrofon über die Bühne einer prall gefüllten Stadthalle tigert. Er spricht seine Leser, die er als seine Verbündeten betrachtet, direkt an und spart nicht mit rhetorischen Fragen und Floskeln wie "Verstehen Sie mich nicht falsch" oder "Worauf ich hinaus will, ist Folgendes". So versucht Bregman, seine Ideen mit wirksamen Mitteln zu popularisieren, womit er in seiner Heimat, den Niederlanden, bereits großen Erfolg hat. Sein Buch ist dort zu einem Bestseller geworden und führte zu einer Art Bürgerbewegung, die sich für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens einsetzt. Vor allem nach einem visionsarmen Wahlkampf wie dem gerade vorübergegangenen sei sein Buch hiesigen Politikern als Gute-Nacht-Lektüre dringend ans Herz gelegt. Und auch alle anderen Leser erwartet eine anregende Lektüre, die dazu ermutigt, scheinbar Unmögliches zu denken.
    Rutger Bregman: "Utopien für Realisten – Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen"
    Rowohlt Verlag, 303 Seiten, 18 Euro.