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Porträt
Die Reformation ist noch nicht abgeschlossen

Mit seinen "Reden über die Religion" wollte der Theologe, Altphilologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher einen Anstoß zu einer Neuorientierung der religionsphilosophischen Debatte geben. Er begeisterte damit die Frühromantiker Schlegel und Novalis, während er Goethe und Schiller "zu christlich" war.

Von Rüdiger Achenbach | 20.03.2015
    Berlin: Bunter wilder Wein in seiner Herbstfärbung umhüllt die Mauern der alten Gebäude der Berliner Charité. Die Geschichte des ältesten Berliner Krankenhauses geht auf das Jahr 1710 zurück.
    Berlin: Bunter wilder Wein in seiner Herbstfärbung umhüllt die Mauern der alten Gebäude der Berliner Charité. Die Geschichte des ältesten Berliner Krankenhauses geht auf das Jahr 1710 zurück. (picture-alliance / ZB / Kalaene Jens)
    "Meiner Ansicht nach hat Sie, mein teuerster Herr Prediger, das Verlangen, sich einen neuen Weg zu bahnen, auf einen Abweg, und meiner innigsten Überzeugung nach, auf einen gefährlichen Abweg geleitet. Ich weiß auch, dass in dem Zirkel, in welchem Sie leben, Männer wie ich für Schwachsinnige gehalten werden. Aber der Himmel weiß, dass ich dieses nicht schreibe, um Sie zu einer anderen Meinung zu bringen, sondern nur um Sie nicht in Unwissenheit zu lassen, welches die meinige ist."
    Als Friedrich Schleiermacher diese Zeilen las, die ihm Hofprediger und Oberkonsistorialrat Sack geschrieben hatte, konnte er aufatmen. Auch wenn Sack keinen Hehl daraus machte, was er von Schleiermachers Freundeskreis der Frühromantiker hielt, musste dieser dennoch nicht die erwarteten Strafmaßnahmen durch die Kirchenleitung befürchten.
    Sein Buch mit den Reden über die Religion hatte zwar unter Theologen für einigen Ärger gesorgt, aber Schleiermacher konnte weiterhin Prediger an der Berliner Charité bleiben. Und dies, obwohl seine Vorstellungen von der wahren Kirche, wie er sie in seinem Buch beschrieben hatte, den Oberen in der Kirche keineswegs gefallen konnten.
    "Die Gemeinschaft derer, die von der Religion ergriffen sind, ist eine Gemeinschaft ohne Hierarchie. Durch wechselseitigen freien Austausch wird der religiöse Sinn vertieft und vervollkommnet. Die wahre Kirche ist überall da, wo Menschen sich begegnen, in denen der religiöse Sinn lebendig ist."
    Für Schleiermacher entsteht eine religiöse Gemeinschaft, also auch die wahre Kirche, aus dem Mitteilungsbedürfnis religiöser Menschen untereinander. Die bestehende Kirche, die das Volk im Auftrag der staatlichen Obrigkeit in der Moral zu erziehen habe, verfehle daher das, was Religion eigentlich ausmache. Schleiermacher lehnt vor allem die Instrumentalisierung der Religion durch die Politik kategorisch ab. Hans-Joachim Birkner, Professor für evangelische Theologie an der Universität Kiel:
    "Als Grundschaden des bestehenden Kirchenwesens, als Quelle alles Verderbens macht er die staatskirchliche Verfassung der Religion namhaft. Er forderte die Trennung von Kirche und Staat."
    Die Kirche - so Schleiermacher - sollte ihren privaten Charakter zurückgewinnen und auf alle äußeren Privilegien verzichten.
    "Hinweg also mit jeder solchen Verbindung zwischen Kirche und Staat!"
    Den Verteidigern des Staatskirchentums in Preußen waren solche Forderungen natürlich ein Dorn im Auge. Aber Schleiermacher hatte hier nicht den Konflikt mit den Oberen der Kirche gesucht, sondern er wollte mit seinem Buch "Reden über die Religion", eine Auseinandersetzung mit der repräsentativen Philosophie seiner Zeit führen. Doch Schleiermachers Engagement im Berliner Kreis der Frühromantiker, der für viele nur aus realtitätsfremden Schwärmern bestand, trug ihm viel Argwohn ein. Ulrich Barth, Professor für evangelische Theologie an der Universität Halle-Wittenberg:
    "Am prekärsten aber war, dass Schleiermacher seit geraumer Zeit eine enge Beziehung zu einer verheirateten Frau, der Gattin eines lutherischen Predigers, unterhielt. Der Vorgang drohte sich zum gesellschaftlichen Skandal auszuweiten. Unter diesen Bedingungen zog er es vor, bei nächster Gelegenheit das Weite zu suchen."
    Im Sommer 1802 hat Schleiermacher dann Berlin und seinen Freundeskreis verlassen, um in Stolp in Hinterpommern die Stelle eines Hofpredigers anzutreten.
    Hier - in seinem Exil - wie er es nannte, fand er dann auch endlich die Zeit, mit der Platon-Übersetzung zu beginnen, die er ursprünglich mit Friedrich Schlegel geplant hatte. Unerwartet stieß er hier unter den Altphilologen eine Diskussion über eine völlig neue Interpretation Platons an. Seine Einleitungen zu den einzelnen Schriften galten schon bald als Beginn der neueren Platon-Forschung.
    An die Predigerzeit in Stolp schloss sich dann 1804 die Berufung als Theologieprofessor an die Universität Halle an. Als Napoleon nach der Niederlage Preußens 1806 die Universität in Halle schließen ließ, wechselte Schleiermacher nach Berlin, wo er Professor und erster Dekan der theologischen Fakultät an der neu gegründeten Universität in Berlin wurde. Gleichzeitig war er auch Prediger an der Dreifaltigkeitskirche. Mit der Wahl zum Mitglied der philosophischen Klasse der Königlichen Akademie der Wissenschaft fiel ihm schließlich noch ein drittes Amt zu, das ihn auch berechtigte, Vorlesungen an der philosophischen Fakultät zu halten. Hermann Fischer, Professor für evangelische Theologie an der Universität Hamburg:
    "Von diesem Recht macht er extensiven Gebrauch und vermag, zunächst in Konkurrenz zu Fichte, später zu Hegel, erfolgreich einen breiten Hörerkreis um sich zu versammeln."
    Inzwischen hatte der Vierzigjährige die zwanzig Jahre jüngere Henriette, die Witwe seines plötzlich verstorbenen Freundes Ehrenfried von Willich, zur Ehefrau genommen. Zu den beiden Kindern seiner Frau aus erster Ehe kamen dann in den nächsten Jahren noch drei Töchter und ein Sohn hinzu.
    Nachdem der alte preußische Staat nach seiner Niederlage 1806 zusammengebrochen war, wurde nun überall der Ruf nach Reformen laut. Auch in der preußischen Staatskirche. Die großen Themen waren die Union der Reformierten und Lutheraner, eine neue Kirchenverfassung und eine neue Gottesdienstordnung. Auch Schleiermacher beteiligte sich aktiv an diesen kirchenpolitischen Aufgaben. Er hatte sich schon seit einiger Zeit für die Union der Reformierten und Lutheraner eingesetzt, die dann 1817 zum 300jährigen Reformationsjubiläum auch tatsächlich feierlich in Preußen eingeführt wurde.
    Im Auftrag des Ministers Freiherr vom Stein, der das Staatswesen mit "Reformen von oben" modernisieren wollte, arbeitete Schleiermacher auch an einem Entwurf für eine Kirchenverfassung. Wobei er seine früheren, eher romantisch-schwärmerischen Vorstellungen über die Kirche korrigierte und seine Pläne den realen Bedingungen anpasste. Hans-Joachim Birkner:
    "Schleiermachers Beiträge zu den Verfassungsbestrebungen zielten nicht mehr wie 1799 auf die Trennung von Kirche und Staat, wohl aber auf die Selbstständigkeit der Kirche im Staat, auf eigene kirchliche Vertretungsorgane, auf eine Synodalverfassung."
    Schleiermachers Ziel war es, die Laien in der Kirche an Verwaltungsaufgaben zu beteiligen. Dazu Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Professor für evangelische Theologie an der Universität Saarbrücken:
    "Schleiermacher schwebte die völlige Neuordnung einer deutsch-protestantischen Landeskirche vor. Er ist damit der Vater der volkskirchlichen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts."
    Doch der Idee einer Volkskirche mit Selbstverwaltung standen viele, die in Preußen politisch den Ton angaben, ablehnend gegenüber. Auch König Friedrich Wilhelm III. hatte dafür keine Sympathie. Er wollte am Staatskirchentum festhalten. Schleiermachers Vorschläge wurden deshalb zu den Akten gelegt.
    Anderseits aber war der König, der auch schon die Union der Reformierten und Lutheraner vorangetrieben hatte, an einer Neuordnung des Gottesdienstes interessiert. Denn die Uneinheitlichkeit in der Liturgie innerhalb der preußischen Kirche widersprach seinem militärischen Ordnungssinn. Deshalb nahm er die Sache selbst in die Hand. Da er zum Beispiel auch das Niederknien bei den Einsetzungsworten zur Abendmahlsfeier einführen wollte, wurde die Agende des Königs von vielen Protestanten als zu katholisch abgelehnt. Friedrich Wilhelm Kantzenbach:
    "Die Art, wie der König eine weithin vom ihm selbst erarbeitete Gottesdienstordnung zur allgemeinen Einführung brachte, erregte auch bei Schleiermacher Widerspruch. Er bestritt das liturgische Recht des Landesfürsten in einer unter dem Decknamen Pacificus sincerus 1824 in Leipzig erscheinenden Schrift."
    Schleiermacher hatte dem König, der sich selbst gern auf Luther berief, deutlich gemacht, dass Luther grundsätzlich auf einer Trennung des geistlichen und weltlichen Regiments bestanden habe. Doch Friedrich Wilhelm III. war nicht bereit nachzugeben. Er beanspruchte das absolutistische Kirchenregiement. Wer Widerstand gegen die Neuordnung des Gottesdienstes leistete, musste mit Absetzung, Ausweisung oder Gefängnis rechnen. In einer Kirchengemeinde in Schlesien ging man sogar mit Soldaten gegen die Verweigerer der neuen Liturgie vor.
    Schleiermacher und seine Freunde erwogen zeitweise ernsthaft, sich von der preußischen Staatskirche zu trennen und eine eigene Gemeinde zu gründen. Doch 1829 wurde der sogenannte "Agendenstreit" dann endlich beigelegt, indem die staatlichen Behörden nun gewisse Konzessionen machten. Auch Schleiermacher konnte für seine Gemeinde einige liturgische Freiheiten erstreiten, letztlich musste er sich aber der Macht des Staates beugen. Deshalb unterstreicht er nun in einem Schreiben an einen seiner Schüler die Notwendigkeit, dass die Reformation nicht abgeschlossen sei, sondern noch weiter gehen müsse. Schleiermacher wollte statt der Staatkirche eine Volkskirche.
    Trotz seiner Beliebtheit als Prediger und seines hohen Ansehens als Universitätsprofessor, fühlte sich Schleiermacher dennoch auch bedroht. Denn nach dem Wiener Kongress hatte sich auch in Preußen zunehmend der Geist der Restauration breitgemacht. Wer jetzt noch von Reformen sprach, war schon verdächtig. Unter dem Einfluss des Fürsten von Metternich, der bei der politischen Neuordnung Europas auch nach dem Wiener Kongress immer noch eine dominierende Rolle spielte, ließ Friedrich Wilhelm III. in Preußen die Pressezensur und vor allem die Überwachung der Universitäten anordnen.
    Nachdem 1819 der Schriftsteller August von Kotzebue durch den Theologiestudenten und radikalen Burschenschaftler Karl Ludwig Sand ermordet worden war, stand auch Schleiermacher im Geruch der politischen Unzuverlässigkeit. Denn Schleiermachers Freund und Universitätskollege Martin Leberecht de Wette hatte der Mutter des hingerichteten Theologiestudenten einen Trostbrief geschrieben, der der Polizei in die Hände gefallen war. Ulrich Barth:
    "Schleiermacher musste Polizeiverhöre und Hausdurchsuchungen über sich ergehen lassen. De Wette wurde amtsenthoben und kam erst nach einigen Jahren in Basel unter. Schleiermacher blieb Solches erspart. Aber auch er lebte seit den 1820erJahren bis zu seinem Tod in ständiger Angst vor Absetzung oder Strafversetzung."
    1833 unternahm Schleiermacher dann eine Reise nach Schweden und Dänemark. In Stockholm traf er seinen schwedischen Jugendfreund Brinkmann aus der Herrnhuter Zeit in Barby. In Skandinavien war Schleiermacher inzwischen eine bekannte Persönlichkeit. Friedrich Wilhelm Kantzenbach:
    "In Kopenhagen wurde er enthusiastisch gefeiert. Die Studenten brachten ihm einen großen Fackelzug dar und sangen ein Huldigungslied."
    Am 12. Februar 1834 ist Friedrich Schleiermacher dann im Alter von 66 Jahren in Berlin im Kreise seiner Familie an einer Lungenentzündung gestorben. Unter enormer Anteilnahme der Bevölkerung wurde er drei Tage später auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde beerdigt. Schleiermachers junger Universitätskollege, der Historiker Leopold Ranke berichtet, dass sich etwa 30.000 Menschen auf den Straßen Berlins dem Trauerzug anschlossen. Ein anderer Teilnehmer notierte:
    "Vielleicht sah Berlin nie solches Trauerbegräbnis. Der Zug ging endlos durch die Straßen. Es war eine Anerkennung des Geistes, wie sie selten gesehen wird."
    Die Wirkung, die von Schleiermacher in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen ausging, ist enorm. Seine Anregungen für die Religionswissenschaft, die Philosophie und die Platonforschung wirken bis heute nach. Und in der evangelischen Theologie hat man ihm sogar den Ehrentitel "Protestantischer Kirchenvater des 19. Jahrhunderts" verliehen. Dazu Ulrich Barth, Professor für evangelische Theologie an der Universität Halle-Wittenberg:
    "Nimmt man alles zusammen, dann wird nachvollziehbar, warum Kenner der Christentumsgeschichte wie Ernst Troeltsch, Adolf von Harnack oder Emanuel Hirsch in ihm den eigentlichen Urheber und die bleibende Orientierungsgestalt des modernen Protestantismus erblickten."