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Premiere vor 50 Jahren
Eine Kantate zum Massaker von Iquique

1907 erschoss das chilenische Militär Tausende von Minenarbeitern in der Region von Iquique, die friedlich gegen die unmenschlichen Bedingungen in den Bergwerken demonstrierten. Schließlich erinnerten Musiker mit einer Kantate an dieses Massaker - sie wurde zu einer Hymne des Widerstands.

Von Peter B. Schumann | 17.08.2020
    School Santa Maria de Iquique devastated 1907 Chile | Verwendung weltweit, Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
    Das Massaker an der Santa Maria de Iquique Schule 1907 (Archives Snark)
    "Damen und Herren! Wir wollen hier die Geschichte erzählen, an die sich niemand mehr erinnern sollte. Im hohen Norden ist sie geschehen, in der Stadt Iquique, im Schicksalsjahr 1907. Dort haben sie die armen Salpeterarbeiter getötet, um des Tötens willen."
    Ein Massaker wird zum Stoff einer Kantate, und zwar nicht irgendeine der zahllosen Gewalttaten chilenischer Militärs, sondern der Massenmord am 21. Dezember 1907 in der Schule Santa María in der Hafenstadt Iquique. Von dort stammt der Musiker und Philosoph Luis Advis. In der politisch aufgeheizten Situation Ende der 1960er Jahre kam er auf die Idee, diese schrecklichen Ereignisse wieder ins Bewusstsein der chilenischen Öffentlichkeit zu bringen und zwar in der traditionellen Form der Kantate.
    "Ich hatte den Wunsch, die Hochkultur mit der Populärkultur zu verbinden und so dem Geschehen eine angemessene Aufmerksamkeit zu verschaffen."
    Ein Erzähler berichtet von Einzelheiten des Geschehens
    Dieser bis dahin schwärzeste Tag in der Geschichte der chilenischen Arbeiterbewegung war in Vergessenheit geraten und damit auch der Fakt, dass die chilenische Armee Tausende von friedlich streikenden Arbeitern ermordet hatte. Vor ein paar Jahren hat der Publizist Jorge Baradit die Hintergründe für das chilenische Fernsehen recherchiert.
    "Die Arbeiter forderten damals lediglich einen minimalen Schutz für ihre gefährlichen Arbeiten, denn viele waren in den Minen elend gestorben. Außerdem wollten sie gerechtere Löhne und auch nicht mehr mit Gutscheinen bezahlt werden. Als sie ihren wochenlangen Streik nicht ohne Ergebnis beenden wollten, sah die Regierung in ihnen eine nationale Gefahr und ließ sie von der Armee mit Maschinengewehren zusammenschießen."
    In der Kantate berichtet ein Erzähler die Einzelheiten des Geschehens. Ihre Dramatik kommt in der Musik zum Ausdruck wie an dieser Stelle - wo der Chor die Frage stellt: "Wo sind die Mörder, die töten um des Tötens willen? Wir schwören bei dieser Erde: Wir werden sie finden!" In der Band Quilapayún fand Komponist Luis Advis kongeniale Partner.
    Melodien erstmal auswendig lernen
    Die sechs bärtigen Sänger in schwarzen Ponchos galten Ende der 1960er Jahre als Wegbereiter des Neuen chilenischen Lieds: Sie haben den Melodienreichtum der andinen Folklore um politische Texte erweitert. Die Cantata de Santa María de Iquique entstand schließlich in enger Zusammenarbeit. Eduardo Carrasco, einer der Begründer der Quilapayún, erinnert sich.
    "Die Proben gingen zwar rasch voran. Da jedoch nicht jeder von uns eine Partitur lesen konnte, mussten einige die Melodien erstmal auswendig lernen. Dabei veränderte sich so manches. Luis war ständig dabei. Es war auch für ihn ein Lernprozess, denn unsere Arbeitsweise war sehr spezifisch."
    Aus der Kantate der Erinnerung wurde eine Hymne des Widerstands
    Nach Voraufführungen im kleinen Theatersaal der Universidad de Chile fand die Premiere am 17. August 1970 im Nationalstadion anlässlich des 2. Festivals des Neuen chilenischen Liedes statt. Drei Jahre später putschte Pinochet gegen den sozialistischen Präsidenten Allende, und seine Generäle verwandelten diesen Ort in ein Massengefängnis, wo gefoltert und gemordet wurde.
    Den Quilapayún gelang es, ins Exil zu fliehen. Bei ihren zahllosen Auftritten vor allem in Europa wurde aus der Kantate der Erinnerung eine Hymne des Widerstands gegen die Diktatur. Angesichts der Gräueltaten, die Polizei und Militär an friedlichen Demonstranten im vergangenen Herbst verübten, hat sie an Aktualität nichts verloren.