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Privat geht vor Staat?

719.000 Schüler lernen in Deutschland bereits an privaten, allgemeinbildenden Schulen - Tendenz steigend. Kleinere Klassen, motiviertere Lehrer und eine bessere Ausstattung - die Gründe für Eltern, ihre Kinder nicht auf eine öffentliche Schule zu schicken, sind vielfältig.

Von Conny Raupold | 22.05.2012
    Schon auf dem Weg zum Schulgebäude merkt man: Hier ist es etwas anders als an anderen Schulen. Das schicke weiße Haus liegt auf einem Hügel mitten im Grünen. Man kommt sich eher vor, als wäre man im 19. Jahrhundert bei einer wohlhabenden Familie eingeladen – nicht, als würde man zu einer Schule gehen. Die Herder-Schule ist eine alte Industriellenvilla. Ein außergewöhnliches Ambiente:

    "Ich war früher auf einer öffentlichen Schule, auf einem großen Schulzentrum mit 2500 Schülern etwa und ich merke schon die Unterschiede, die da sind."

    Tobias Wienold ist 19 Jahre alt und geht hier in die 13. Klasse. Er weiß – genau wie seine Mitschüler – die exklusive Lernatmosphäre zu schätzen. Die entsteht nicht nur durch die Umgebung, sie zeigt sich auch im Unterricht. Mehr als 20 Schüler pro Klasse gibt es nicht:

    "Wir können uns nicht verstecken vor den Lehrern. Wir werden drangenommen, auf jeden Fall. Wir werden im Prinzip mitgezogen, ob wir wollen oder nicht. Der Unterricht macht Spaß, ich habe keinen Lehrer, von dem ich sagen würde: Den kann ich gar nicht ausstehen."

    Die Exklusivität erkennt man auch im Gebäude. Ein altes großes Treppenhaus aus dunklem Holz. Kein überfüllter Betonkasten. Hier scheint alles übersichtlich und ruhig. Es gibt insgesamt nur 250 Schüler. Es ist alles etwas kleiner, etwas privater hier. Das ist ein großer Vorteil, sagt Tobias:

    "Viele meiner Freunde sagen Sachen wie 'Oh mein Gott, das habe ich gar nicht verstanden. Ich weiß gar nicht, wo ich es herbekommen soll ... die ganzen Informationen für das Abi'. Ich habe den Vorteil: Ich habe ein sehr familiäres Verhältnis mit meinen Lehrern. Ich kann auch nach dem Unterricht zu meinen Lehrern gehen – 'können Sie mir da helfen?'"

    Auf der Schule wird nach der Montessori-Pädagogik gearbeitet. Heißt: Die Schüler haben auch sogenannte Freiarbeitsphasen, in denen sie eigenständig arbeiten, erklärt Direktor Dirk Norpoth. Ein weiterer Unterschied zu anderen Schulen ist das Engagement der Lehrer. Hier geben alle alles, sagt der Direktor – das ist an öffentlichen Schulen oft nicht so:

    "Ich kenne viele Schulleiter im Freundes- und Verwandtenkreis und man hört immer wieder, dass die Schulen innerhalb der Kollegien von einem bestimmten Prozentsatz durchgezogen werden. Also nicht 100 Prozent aller Kollegen arbeiten an den gemeinsamen Zielen mit. Es ist eher eine Minderheit, die den Karren zieht."

    Kleine Klassen, individuelle Förderung, engagierte Lehrer - alles Gründe, warum Eltern ihre Kinder auf eine private Schule schicken. Viele Eltern sind seit der PISA-Studie kritischer gegenüber den öffentlichen Schulen geworden, bestätigt Helmut Klein. Er ist Experte für das allgemeinbildende Schulwesen am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln:

    "Es gibt eine Überlegung vonseiten der Eltern, dass man wohl feststellt, dass die freien Schulen möglicherweise doch Schulen sind, die sich wesentlich intensiver den Lernbedürfnissen und den Problemstellungen der Kinder annehmen, die dort angemeldet werden."

    Und so steigt die Zahl der Privatschulen in Deutschland stetig. Barbara Fisahn gehört zu den Eltern, die sich für die Privatschule für ihre Kinder entschieden haben. Ein Sohn und die Tochter gehen auf die Herder-Schule in Wuppertal. Sie waren vorher auf öffentlichen Schulen:

    "Da war es tatsächlich grad bei unserer Tochter so, dass die Lehrerin, die ich für pädagogisch sehr kompetent gehalten habe, selber gesagt hat: wir haben 30 Kinder in der Klasse, 15 sind problematisch und zwar mit sozialen Konflikten. Also da konnten die gar nicht diese Fürsorge leisten, die eben hier möglich ist."

    Aber diese Fürsorge hat ihren Preis. Die Beiträge, die pro Monat fällig werden, differieren. 100 Euro im Monat kann man im Schnitt aber schon los werden dafür. Es gibt Schulen, da sind es sogar 600. Nur was für "elitäre Sonderlinge" aus reichem Hause? Auf keinen Fall, meint Tobias Wienold:

    "Wenn ich jemandem sage, ich bin auf einer Privatschule, dann kommt erst mal ein komisches Gesicht. Und dann muss ich erst mal erklären: Das ist jetzt nicht so was, was ihr euch vorstellt. Wir laufen nicht alle mit zurückgegelten Haaren rum und fahren einen fetten BMW. Wir sind Leute wir ihr – ich stehe ja vor dir und ich bin einer wie du."

    Auch das Vorurteil, Privatschüler würden sich ihren Abschluss "erkaufen", muss der 19-Jährige regelmäßig entkräften. Schließlich werden sie auch – ganz normal – an einer staatlichen Schule geprüft:

    "Das ist in der Mittlere-Reifeprüfung so. Da war ich zum Beispiel in Düsseldorf und habe meine Prüfung dort abgelegt. Und im Abitur wird das nicht anders sein. Durch das Zentralabitur bedingt werden wir nach Oberhausen fahren müssen und dort unsere Prüfungen ablegen."

    Die Prüfung an einer öffentlichen Schule – lernen an der Privatschule. Offensichtlich sind immer mehr Eltern bereit, den Preis dafür zu zahlen, dass ihre Kinder diese spezielle Förderung bekommen – in einem Ambiente wie dem der Wuppertaler Schule. Wo man sich vorkommt, als sei man ein bisschen in einer anderen Welt.

    Beiträge zum Thema auf dradio.de:

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    - Neue Studie nennt die Gründe dafür
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