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Protest gegen US-Immigrationspolitik
"Singt die Mauern nieder!"

Seit Mitte Oktober protestieren in Los Angeles jeden Montag Musiker mit einem Konzert vor einem Untersuchungsgefängnis gegen die Einwanderungspolitik der USA. Sie kritisieren vor allem die Hunderttausenden Abschiebungen jährlich, die immer wieder Familien auseinanderreißen. Sie verstehen ihre Musik als ein Zeichen der Menschlichkeit.

Von Kerstin Zilm | 20.11.2014
    Kinder protestieren am 13. August 2014 in Los Angeles gegen die Einwanderungspolitik der USA. Nach Angaben der Behörden kamen allein in diesem Jahr bislang rund 57.000 Kinder ohne Begleitung erwachsener Verwandter aus Mittelamerika in die USA, wo sie hoffen Armut und Gewalt entfliehen zu können.
    Gegen die Einwanderungspolitik der USA gibt es immer wieder Proteste. (AFP PHOTO / Mark Ralston)
    "Stoppt Ungerechtigkeit! Stoppt Abschiebungen!" singt die Band auf dem Bürgersteig zwischen Stadtautobahn, Hauptbahnhof und Bürogebäuden in Downtown Los Angeles. Es sind die 'Jornaleros del Norte', Tagelöhner aus Mexiko. Sie haben sich vor ein paar Jahren zusammengetan, um für die Immigrationsreform Musik zu machen. Ihre Lautsprecher sind auf das zehn Stockwerke hohe Gebäude gegenüber gerichtet: Stacheldraht, Beton und Marmor mit winzigen Fensterschlitzen. Es ist ein Untersuchungsgefängnis. Hier sitzen Einwanderer ohne Papiere Haftstrafen ab oder warten auf ihren Prozess.
    Der Sänger schaut zu schemenhaften Gesichtern hinter den Glasscheiben. "Hallo, Einwanderer, da oben, ihr seid nicht allein!" ruft er ihnen zu, "Ein vereintes Volk ist unbesiegbar!" Bassist Pablo Alvarado bittet um eine kurze Pause und ergreift das Wort:
    "Dieses Gebäude ist ein Symbol für Unterdrückung, für die Zerstörung von Familien und deren Zukunft. Wir dagegen schaffen hier eine Gemeinschaft, ein Volk, mit all dieser schönen Musik, die ihr gleich hören werdet. Danke an alle Künstler, die ihre Musik in den Dienst des Volkes stellen. Weiter geht's mit der Party!"
    Seit Mitte Oktober gibt es jeden Montag von 17 bis 19 Uhr ein Konzert vor dem Gefängnis. Diesmal sind fünf Gruppen gekommen. Die meisten der Musiker sind aus Mexiko eingewandert oder Kinder von Einwanderern aus Mittel- und Südamerika. Auch Manuel Guerrero von der Blaskapelle "Banda Arrazadora". Dem schlaksigen Trompeter mit Baseballkappe steigen beim Blick zum Gefängnis Tränen in die Augen.
    "Es ist einfach sehr traurig zu wissen, dass einige von den Männern Familien haben, um die sie sich kümmern müssen, dass ihre Kinder vielleicht sogar Staatsbürger sind und sie trotzdem alles zurücklassen müssen - das bricht mir das Herz."
    Die Reform der Immigrationspolitik ist überfällig
    Das Motto der Montagsdemonstrationen ist "Chant Down The Walls" – "Singt die Mauern nieder!" Organisiert werden die Aktionen vom nationalen Netzwerk für Rechte von Tagelöhnern - NDLON. Die Organisation fordert Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen für alle elf Millionen Einwanderer ohne Papiere, einen Weg zur Staatsbürgerschaft und das Ende der Abschiebungen. NDLON-Sprecherin Claudia Bautista erklärt: "Eine Reform der Immigrationspolitik ist überfällig, 400.000 Abschiebungen pro Jahr sind zu viel."
    "Wir machen jeden Montag Musik für sie, um ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind und dass wir für sie kämpfen, bis Obama Erleichterungen für alle Einwanderer anordnet. Musik ist Protest und gleichzeitig ein Zeichen von Menschlichkeit, von Würde. Wir bringen ihnen jede Woche etwas Fröhlichkeit."
    "Obama hör zu, wir kämpfen!" singen die Jornaleros. Knapp 50 Demonstranten schwingen ihre Hüften zur Musik und schwenken Plakate im Takt: "Gerechtigkeit jetzt!" "Keine Abschiebungen mehr!" "Familien gehören zusammen!" steht darauf. Sie drehen sich um zum Gefängnis, winken zu den Glasscheiben, zu Schatten vor Neonlicht, zu blinkenden Taschenlampen zwischen Beton- und Marmorplatten.
    Rosa Segura ist eine Stunde durch den Feierabendverkehr gefahren, um Solidarität zu zeigen. Die zierliche Frau, Anfang Dreißig, mit hochgesteckten dunklen Haaren hat ihre zwei Töchter mitgebracht.
    "Sie sollen das sehen und wissen, was vor sich geht. Meine Eltern sind ohne Papiere eingewandert und ich habe ihren Kampf miterlebt und mitgelitten. Sie haben inzwischen die Staatsbürgerschaft. Jetzt müssen wir die unterstützen, die noch kämpfen und nur in die USA gekommen sind, um ein besseres Leben zu haben."
    Für ein Leben ohne Angst
    Eine Frau mit Protestplakat neben ihr nickt zustimmend. Virginia Bergton arbeitet in Notunterkünften für Flüchtlinge aus Mittel- und Südamerika. Sie erzählt von Kindern, die ohne Matratzen und Decken auf dem Boden schlafen, von Pfefferspray gegen Eltern, die Befehle der Beamten nicht verstehen. Sie fordert von Präsident Obama, keine Familien mehr durch Abschiebungen auseinanderzureißen.
    "Sie gehören zu unserer Gesellschaft! Wir verdammen Kinder zur Armut, wenn wir ihre Eltern abschieben. Das sind fleißige Leute. Es ist verrückt! Sie werden in ein Land zurückgeschickt, wo ihnen Tod und Hunger drohen. Und was passiert mit ihren Kindern?"
    "Arbeit ja, Immigrationsbehörden nein!" rufen die Musiker und versprechen den Männern hinter den Mauern solange jeden Montag zu ihnen zu kommen, bis Obama allen Einwanderern in den USA ein Leben ohne Angst ermöglicht.
    "Unsere Botschaft heute ist klar: Er muss seine ganze Macht für eine solche Lösung aufbringen. Das ist rechtlich möglich. Wir, - Musiker, Organisatoren, Familien - müssen heute hier versprechen: Es darf keine Gewinner und Verlierer der Reform geben. Der Kampf hört nicht auf, bis alle frei sind."
    Die Musiker blasen noch einmal so kräftig sie können in ihre Instrumente und singen aus vollem Hals. Die Demonstranten schwenken bei den letzten Liedern besonders weit ihre Hüften, singen und winken enthusiastisch zur Festung mit Stacheldraht. Sie wissen, dass Obama nicht alle Immigranten in seine Reform einbeziehen wird. Doch heute wollen sie den Häftlingen und ihren Familien Mut machen.