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Prozess gegen Gaddafi-Regime
"Libyen ist ein schwacher Staat"

Heute beginnt in Libyen der Prozess gegen ehemalige Mitglieder des Gaddafi-Regimes. Der Libyen-Kenner Andreas Dittmann hält es für wichtig, dass in Libyen und nicht vor einem internationalen Gericht verhandelt wird. Damit werde international signalisiert, dass man es dem Land zutraue, die Diktatur Gaddafis selbst zu bewältigen, sagte er im Deutschlandfunk.

Andreas Dittmann im Gespräch mit Dirk Müller |
    Menschen schwenken libysche Flaggen auf der Straße
    Demonstrationen in Tripolis am 23. Februar, dem dritten Jahrestag der Revolution (dpa/picture alliance/Str)
    Libyen sei trotzdem immer noch ein sehr schwacher Staat. Das Land sei gekennzeichnet von "prekärer Staatlichkeit auf unterschiedlichen Niveaus", so Dittmann. Die Macht werde nicht von der eingesetzten Übergangsregierung ausgeübt, sondern von Kräften, die ihre politischen Ziele mit Waffengewalt durchsetzen wollen. Außerdem seien in vielen Ministerien immer noch Funktionäre aus der Gaddafi-Zeit im Amt.
    Der Westen dürfe jedoch nicht zu schnell zu viel erwarten. Demokratie müsse gelernt werden und ließe sich nicht über Nacht überstülpen.
    Dittmann kritisierte die weit verbreitete Ansicht, die Stämme würden bei der Machtverteilung im Land eine Rolle spielen. Die Vorstellung von Stammesmacht sei ein europäisches Klischee.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Geboren am 7. Juni 1942, ermordet am 20. Oktober 2011 in der Stadt, in der libyschen Stadt Sierte. Viele Einträge im Internet beispielsweise legen sich bei den Todesumständen von Muammar al-Gaddafi fest: ermordet. Dabei ist das immer noch nicht genau geklärt, was und wie es wirklich passiert ist, als der selbst ernannte Revolutionsführer ums Leben gekommen ist. Es soll vielleicht auch gar nicht geklärt werden. Anders hingegen der Prozess, der heute in Tripolis beginnt, ein Prozess gegen die ehemalige Führungselite des Gaddafi-Regimes, darunter auch gegen zwei seiner Söhne. Aber was hat sich getan in dem befreiten Land in den vergangenen drei Jahren, in der Zeit nach Gaddafi, in der Zeit nach der Diktatur? Darüber sprechen wollen wir nun mit Libyen-Kenner Professor Andreas Dittmann, Geograf an der Universität Gießen. Guten Morgen!
    Andreas Dittmann: Guten Morgen.
    Müller: Herr Dittmann, richten jetzt Autokraten über Autokraten?
    Dittmann: Nein. Jetzt richten demokratisch gewählte Kräfte ab mit Vertretern des früheren Regimes. Das ist durchaus nicht miteinander vergleichbar. Wichtig ist bei der ganzen Abrechnung, Gerichtsaufarbeitung, dass das Ganze von Libyern über Libyer in Libyen stattfindet. Das war ja lange Zeit bei der internationalen Gemeinschaft umstritten, ob "Libyen das schon könne", und verschiedene Kompetenzen wurden, bevor der Staat endgültig ins Straucheln kam, dem nachrevolutionären Libyen schon abgesprochen. Deshalb ist es ganz wichtig, dass hier nicht eine Verhandlung in Den Haag (oder Ähnliches war vorgeschlagen worden) stattfindet, sondern dass man auch international signalisiert, dass man die Aufarbeitung der Diktaturjahre den Libyern durchaus selbst zutraut.
    "Demokratie ist etwas, was man lernen muss"
    Müller: Herr Dittmann, Sie legen sich da fest? Das heißt, demokratisch legitimierte Personen in Libyen sind auch Demokraten?
    Dittmann: Ja. Nach 41 Jahren hat Libyen zum ersten Mal gewählt. Ich weiß nicht, welche besonderen Definitionen von Demokraten der Westen sich anmaßt, dann über andere neu zu erfinden, die ja nach gut und böse und nach bisschen gut und bisschen böse eingeteilt werden, je nachdem wie demokratisch sie sind. Man muss dabei auch bedenken, dass Demokratie etwas ist, was man erst lernen muss, und als Deutsche mit Geschichtsverständnis hat man da vielleicht am ehesten noch etwas an Sympathie abzugewinnen, dass das nichts ist, was man über Nacht plötzlich dann aufgestülpt bekommen kann, und so etwas ist ja eine Revolution, die noch von außen mit angefeuert wird. Deshalb kann da nicht alles so rund laufen, wie man sich das in Demokratien, die über Jahrzehnte gewachsen sind, wünscht. Da gibt es natürlich Haken und Ösen. Aber gleich von vornherein sagen, das kann sowieso nichts werden, lasst das mal die Europäer machen, das wäre genau der falsche Weg.
    Müller: Wollen wir nicht tun, das wollen wir von Ihnen wissen. Deswegen frage ich weiter: Ist Libyen bereits ein Rechtsstaat?
    Dittmann: Nein. Libyen ist vor allen Dingen ein schwacher Staat. Man kann sich darüber streiten, ob es ein zerfallender Staat ist oder ein schon zerfallener Staat, also ein failing state oder ein failed state. Aber Libyen ist ganz schwach, gekennzeichnet von prekärer Staatlichkeit auf unterschiedlichen Niveaus. Das heißt, dass eigentlich diejenigen, die die Macht im Land ausüben sollten, nicht die Macht ausüben, sondern solche, die ihre politischen Ziele, ihre Überlegungen mit Waffengewalt durchsetzen wollen. Die Exekutive ist in der Hand der vielen Milizen, die nach der Revolution, nachdem Gaddafi nicht mehr war, das Regime nicht mehr war, dann ihre Waffen nicht abgegeben haben, weil sie fürchteten, dass mit der Abgabe der Waffen sie auch Einfluss auf Entscheidungsprozesse politischer Art abgeben.
    Müller: Reden wir, Herr Dittmann, über die politischen Führungseliten, also diejenigen, die jetzt dabei sind, diejenigen, die jetzt Einfluss haben. Sind das auch noch Teile der alten Machteliten?
    Dittmann: Ja, das ist von Bereich zu Bereich ganz unterschiedlich. Es gibt bestimmte Ministerien, in denen die alten Funktionäre aus Gaddafi-Zeit wieder eingesetzt wurden. Das war – auch hier lohnt es sich wieder, geschichtlich zurückzudenken – in Deutschland 1945 ja auch nicht anders. In vielen Bereichen sind auch Funktionäre aus der früheren braunen Vergangenheit weiterhin eingesetzt worden, und so ist das in Libyen ähnlich. Es sind nicht die unmittelbaren aus dem unmittelbar nahen Dunstkreis von Gaddafi wieder mit eingesetzt worden, aber durchaus solche, die vorher schon in Entscheidungsprozessen waren, und das ist von Bereich zu Bereich ganz unterschiedlich und von Ministerium zu Ministerium. Deshalb haben auch manche Ministerien in der jüngeren Vergangenheit ganz massiv den Zorn der Milizen erfahren, wurden besetzt, Ministeriumsvertreter wurden vorübergehend gefangen genommen, oder es wurde mit diesen Riesen-Maschinengewehren und Flaks, die auf dafür gar nicht geeignete Pick-ups montiert waren, dann der Ministeriumshof besetzt und Ähnliches. Das galt dann vor allem fürs Innenministerium, wo ehemalige Seilschaftsangehörige aus der Gaddafi-Zeit beschäftigt waren, aber auch für das Außenministerium. In vielen Bereichen hat man in Libyen gar nicht anders gekonnt, als Ex-Gaddafi-Funktionäre einzusetzen, damit, um es salopp auszudrücken, der Laden lief am Anfang.
    Stamm gegen Stamm: "Ein europäisches Klischee"
    Müller: Reden wir über weitere Kontinuitäten, wenn ich Sie hier noch mal unterbrechen darf, Herr Dittmann. Wir müssen ein bisschen auf die Zeit achten, wir sind ja etwas später zusammengekommen als verabredet, weil wir Schwierigkeiten hatten mit der Telefonleitung. Wir haben vor zwei, drei Jahren ja auch häufiger während der aktuellen Krise, akuten Krise ja über Libyen gesprochen. Auch die Rolle der Stämme war immer ein wichtiges Thema. Welche Rolle spielen die Stämme jetzt noch?
    Dittmann: Sie haben das richtige Wort am Ende betont: Spielen die Stämme jetzt NOCH. Wenn man die libysche Krise verstehen will und dann mit Stammesstrukturen argumentiert, dann folgt man einem bedauerlich immer noch existierenden europäischen Klischee, das danach funktioniert, was geschieht, wenn in einem afrikanischen Staat die Regierung wechselt - Antwort ganz klar: Stamm gegen Stamm. Das ist zu einfach. Libyen hat sich, die libysche Gesellschaft hat sich selbst und Gaddafi hat auch lange dafür gekämpft, dass die frühere Macht der Stämme in Libyen stärker zurückgeschnitten wurde.
    Müller: Herr Dittmann, Sie hören es leider selbst, ich leider auch: Die Musik wird eingeblendet. Wir kommen zu den Nachrichten hier im Deutschlandfunk. Wir haben leider keine Zeit mehr. Ich danke ganz herzlich, dass wir noch zusammengekommen sind. Professor Andreas Dittmann, Geograf an der Universität in Gießen. Ihnen noch einen schönen Tag.
    Dittmann: Danke, Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.