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Putschversuch in der Türkei
Die Selbstzensur der Wissenschaftler

Seit dem Putschversuch in der Türkei Mitte Juli sind besonders die Akademiker um ihre Zukunft besorgt. Tausende Wissenschaftler und Lehrer wurden vom Dienst suspendiert oder eingesperrt. Die Angst vor Repressionen beeinflusst die Arbeit der Forscher enorm.

Von Kemal Hür | 13.10.2016
    Erdogan-Anhänger mit Fahnen, im Hintergrund Porträt von Erdogan auf einem Bildschirm
    Nach dem Putschversuch hat sich die Situation für viele Wissenschaftler in der Türkei verschlechtert. (ADEM ALTAN / AFP)
    Auf dem Campus der Bilgi-Universität in Istanbul. Etwa zwanzig Studierende nehmen an einem Wochenendseminar teil. Sie sitzen zu zweit und in kleinen Gruppen in einem Raum und üben, Hacker-Angriffe zu erkennen und abzuwehren. Im benachbarten Raum empfangen zwei Sozialwissenschaftler Besucher aus Deutschland und berichten ihnen über den Putschversuch in der Türkei und seine Folgen. Der Soziologe Hakan Altinay kritisiert die pauschale Verurteilung der mutmaßlichen Putschisten. Die Türkei könne in dieser Hinsicht viel von Deutschland lernen, sagt Altinay.
    "Schauen Sie, wie Deutschland mit der Stasivergangenheit umgeht. Man muss darauf schauen, wer die Verantwortlichen waren. Wenn man sich mit dem fünften oder achten Glied in der Befehlskette beschäftigt, ohne die Köpfe der Bewegung herauszufinden, kann das folgenschwere Konsequenzen haben. Wir haben mit dem Umsturzversuch etwas sehr Ernsthaftes erlebt. Aber es gibt große Defizite in der Untersuchung dieses Vorfalles."
    Erdogan macht Gülen-Netzwerk für Putschversuch verantwortlich
    Nach dem Putschversuch wurden tausende Wissenschaftler entlassen und inhaftiert, weil ihnen eine Nähe zu dem Prediger Fethullah Gülen nachgesagt wird. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan macht das Gülen-Netzwerk für den Umsturzversuch verantwortlich, ohne dafür Beweise zu liefern. Hakan Altinay ist ein erklärter Erdogan-Gegner, aber sein Interesse an dem Thema ist vor allem soziologischer Natur.
    "Ich wünschte, wir könnten von den Verantwortlichen des Putschversuchs erfahren, was ihre Beweggründe waren. Warum haben sie das getan? Wie sieht die Türkei aus, die sie nach einem Putsch installieren wollten? Wie wollten sie diese Türkei regieren? Das heißt, wir haben eine große Katastrophe erlebt, aber die Gründe dafür kennen wir gar nicht. Es ist ein großer Fehler, sich der Akademiker und Lehrer zu entledigen, ohne sich mit den Ursachen auseinanderzusetzen."
    Kontrolle durch den staatlichen Hochschulrat
    Ob die türkischen Akademiker den Putschversuch irgendwann wissenschaftlich untersuchen werden können, das könne noch niemand sagen. Einige können darüber noch nicht einmal offen sprechen, sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin Nilgün Arısan Eralp, Direktorin der Stiftung Wirtschaft und Politik der Türkei.
    "Lassen Sie mich generell sprechen, denn ich bin Teil der türkischen Akademikerfamilie. Die Kollegen sind in ihrer Arbeit sehr vorsichtig und besorgt. Sie achten penibel darauf, nichts Falsches zu schreiben, um nicht als Gülen-Anhänger abgestempelt zu werden. Ich kann leider nicht sagen, dass hier eine freie wissenschaftliche Atmosphäre vorherrscht."
    "Die aktuelle politische Situation im Land kann die Akademiker zur Selbstzensur zwingen"
    Eralp arbeitete mehrere Jahre als Regierungsberaterin und Staatssekretärin und leitet jetzt den Bereich EU-Türkei-Beziehungen ihrer Stiftung. Der Druck auf die Wissenschaftler habe seit dem Putschversuch merklich zugenommen. Sie kenne viele Kollegen, die die Türkei verlassen wollen, erzählt die 55-Jährige:
    "Viele Kollegen sagen, ich lebe nicht mehr in einem Rechtsstaat. Auch wenn ich mir nichts zuschulden kommen lasse, habe ich Angst, dass mir irgendetwas angelastet werden kann. Und weil der Rechtsstaat nicht mehr existiert, hätte ich keine Möglichkeit, meine Unschuld zu beweisen. Deswegen, so sagen meine Kollegen, möchte ich die Türkei verlassen, obwohl ich mein Land liebe."
    Senem Aydın Düzgit, Politikwissenschaftlerin an der Sabancı Universität, meint, der Druck auf die Wissenschaft sei in der Türkei nicht neu. Eine autonome Wissenschaft habe es in der Türkei auch vor dem Putschversuch nicht gegeben; denn Lehre und Forschung stünden unter der Kontrolle des staatlichen Hochschulrats. Nach dem Putschversuch komme aber eine neue Dimension hinzu, so Aydın Düzgit:
    "Die Kollegen werden sich selbst eine Zensur auferlegen. Ich sehe eher darin eine Meinungseinschränkung. Eine Entlassung oder Verfolgung wegen einer wissenschaftlichen Arbeit oder Veröffentlichung gibt es im Moment noch nicht. Aber die aktuelle politische Situation im Land kann die Akademiker zur Selbstzensur zwingen."
    Alle drei Wissenschaftler wollen aber selbst unter allen Umständen in der Türkei bleiben und sich nicht einschüchtern lassen, sagen sie.