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Putschversuch in der Türkei
Unter der Oberfläche des "Tiefen Staates"

Die geschlossene Ablehnung des Putschversuchs in der Türkei über alle Parteigrenzen hinweg kann wohl nicht lange darüber hinwegtäuschen, wie tief gespalten die türkische Gesellschaft ist. Da ist der Konflikt zwischen Säkularen und Religiösen, hinzu kommen immer wieder Verschwörungstheorien über ein konspiratives Netzwerk aus Militär, Polizei und Geheimdiensten.

Von Luise Sammann, Marcus Heumann, Ursula Welter und Kemal Hür | 16.07.2016
    Junge Männer mit Türkeiflagge stehen einen Tag nach dem gescheiterten Militärputsch auf dem Taksim-Platz in Istanbul.
    Junge Männer mit Türkeiflagge stehen einen Tag nach dem gescheiterten Militärputsch auf dem Taksim-Platz in Istanbul. (AFP / Yasin Akgul)
    Gespenstische Szenen: Die Bosporus-Brücken von Istanbul gesperrt, Tiefflieger über dem Himmel von Ankara. Ein Teil des Medienapparats in Händen der putschenden Militärs. Privatmedien, die noch kurz in der Lage sind, differenzierter zu schildern, was da womöglich vor sich geht. Und ein Staatspräsident in den Ferien im Badeort Bodrum. Recep Tayyip Erdogan, dem nur das Handy blieb, um die Bevölkerung zur Unterstützung gegen das Militär aufzurufen.
    Der Appell des Präsidenten blieb nicht ohne Wirkung. Die Abgeordneten der AKP zogen ins Parlament, Anhänger Erdogans auf die Straße. Aber selbst Gegner des autoritären Präsidenten stellten sich entschieden hinter ihn.
    "Ich bin froh, dass dieser Putsch gescheitert ist. Ich habe zwei kleine Kinder und hatte große Angst gestern. Ich bin losgerannt, um schnell noch Lebensmittel einzukaufen, aber es war schon alles ausverkauft oder geschlossen. Ich dachte wirklich, jetzt bekommen wir hier Zustände wie in Syrien."
    "Ich bin kein Erdogan-Fan. Aber er ist nun mal unser Präsident! Auch wenn einige ihn einen Diktator nennen mögen, wurde er am Ende von den Menschen gewählt. Egal, ob mir das gefällt oder nicht. Als er deswegen gestern Abend sagte, geht auf die Straße um die Demokratie zu verteidigen, da bin auch ich losgelaufen."
    Kein Aufatnmen für die Türkei
    Der türkische Präsident hatte in der Nacht formuliert, der Putschversuch sei, Zitat "Ein Geschenk Gottes". Der Chef der Grünen in Deutschland, Cem Özdemir, glaubt nicht an einen inszenierten Putschversuch. Er sagte im Deutschlandfunk:
    "Es kommt ja dazu: Der Putsch ist nicht von Erdogan alleine abgewendet worden. Sondern von der ganzen Türkei, auch die Opposition hat sich ja gegen die Putschisten gestellt. Denn, man erinnert sich, was in der Türkei "Putsch" bedeutet: Nehmen Sie allein den letzten, offiziellen Putsch 1980: 650.000 Gefangene, ungezählte Foltertote, Menschen, die die Türkei verlassen mussten, und so weiter. Das heißt: Putsch heißt nichts Gutes in der Türkei."
    Cem Özdemir, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, spricht am 14.05.2016 beim Landesparteitag von Bündnis 90/Die Grünen in Rheinland-Pfalz in Lahnstein.
    Cem Özdemir, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. (picture allaince / dpa / Thomas Frey)
    Was nun in der Türkei geschehen sei, bedeute in keinem Fall ein "Aufatmen" für das Land. Außerdem wäre die sich auf dem Weg befindende "Diktatur Erdogans" durch eine "Militärdiktatur" ersetzt worden, sagt der Grünen-Politiker Özdemir. Insofern sei klar gewesen, dass die Menschen nicht mitmachen würden.
    Aber ist das die einzige Erklärung dafür, dass sich in der Nacht große Teile der Bevölkerung den putschenden Militärs entgegenstellten?
    Seit nunmehr 14 Jahren können Präsident Erdogan und die AK-Partei auf Sympathien und Mehrheiten bauen, von denen andere Parteien in Europa nur träumen. Selbst Korruptionsskandale, Massendemonstrationen und eine ständig wachsende Terrorgefahr konnten der Regierung bislang nicht gefährlich werden. Allein das Versagen der Opposition, die es bis heute nicht geschafft hat, die Energie der Gezi-Proteste zu nutzen, scheint als Erklärung nicht zu reichen.
    Man könnte meinen, auf dem riesigen Platz am Rande Istanbuls stünde eine Fußballübertragung der türkischen Nationalmannschaft an: Ein paar Jugendliche verkaufen schreiend bunte Schals an die aus allen Richtungen herbeiströmenden Menschen, Ordner verteilen rote Türkeifähnchen an jeden, der die obligatorische Taschenkontrolle am Platzeingang passiert. Präsident Recep Tayyip Erdogan höchstpersönlich hat seinen Besuch angekündigt. Mehr als eine Million Anhänger werden erwartet. Kinder mit Erdogan-T-Shirt jagen über den Platz, ein Moderator, klein wie ein Legomännchen auf der überdimensionalen Bühne, sorgt für Stimmung.
    Erdogan ist anders als alle anderen
    Der 26jährige Cafer reißt mit Tausenden anderen sein Fähnchen in die Luft, als zum Hundertsten Mal der baldige Auftritt des Präsidenten angekündigt wird. "Die Gefühle, die wir für Erdogan hegen, kann man nicht beschreiben. Man muss sie leben! Erdogan ist anders als alle anderen."
    Für den Auftritt des sogenannten "Großen Meisters" hat Cafer den Sonntagsanzug aus dem Schrank geholt. Auch Rentner Metin, der schwer atmend in der brütenden Mittagshitze aushält, ist die Begeisterung anzusehen.
    "Wir haben in 15 Jahren erreicht, was eigentlich nicht mal in 80 Jahren zu schaffen ist. Früher glich allein der Weg von Istanbul nach Ankara einer Weltreise, heute braucht der Schnellzug keine zweieinhalb Stunden mehr. Bevor die AKP kam, hatten wir nicht mal eine Metro hier!"
    Wirtschaftlicher Aufschwung sicherte der AKP lange die Stimmenmehrheit
    Tatsächlich ist es vor allem der unverkennbare wirtschaftliche Aufschwung, der der AKP lange die Stimmenmehrheit im Land sicherte. Gerade deswegen aber müsste ihr Erfolg nun in Gefahr sein. Denn nicht nur die aktuelle Tourismuskrise sorgt dafür, dass der türkische Boom stagniert. Die Lira fällt, die Preise steigen. Was also hält die Wähler weiter bei der Stange?
    Sie sehen türkische Politikerinnen im Parlament in Ankara.
    Mitglieder der AKP-Fraktion im türkischen Parlament (AFP / Adem Altan)
    "Ein wichtiger Grund, warum gerade konservative Türken weiter die AKP unterstützen, ist ihre traditionelle Angst davor, von der anderen Hälfte der Gesellschaft diskriminiert zu werden, wenn die Partei eines Tages die Macht verliert." So der Istanbuler Gesellschaftspsychologe Murat Paket mit Blick auf den traditionellen Konflikt zwischen säkularen und religiösen Türken. Mit dem Amtsantritt Erdogans vor 14 Jahren übernahmen die ärmeren aber zugleich viel zahlreicheren Religiösen zum ersten Mal die Macht. Die Kemalisten, vorher jahrzehntelang herrschende Elite, schauen dem Spiel um ihr Land seitdem wie vom Platz geschickte Fußballer von der Seitenlinie aus zu. Psychologe Paket: "Die AKP-Anhänger fürchten nun: Sie werden kommen und uns zerstören. Sie werden uns wieder die Kopftücher verbieten. Sie wollten uns ohnehin nie. Deswegen müssen wir, was auch immer passiert, zu unserer Partei und unserem Führer halten. Und die AKP schürt diese Angst, weil sie ihr hilft, die Menschen hinter sich zu scharen."
    Starke Polarisierung der türkischen Gesellschaft
    Nie war die Polarisierung der türkischen Gesellschaft so stark wie heute. Seit den Gezi-Protesten vom Sommer 2013 vergeht kaum ein Tag, ohne dass Erdogan seine Anhänger vor ihren angeblichen Feinden im In- und Ausland warnt. Bis heute hält die Hälfte der Türken Gezi für das Werk von Verrätern, die der Türkei und damit ihnen schaden wollen. Erdogan damals: "Alles, was diese Demonstranten tun, ist zu zerstören. Sie zünden öffentliche Gebäude und Autos an. Aber das ist noch nicht alles. Sie haben auch meine verschleierten Töchter und Schwestern angegriffen. Und noch schlimmer: Sie haben mit Bierflaschen in der Hand und Schuhen an den Füßen in einer Moschee herumgetrampelt."
    Mit Feindbildern wie dem vom antiislamischen Gezi-Demonstranten schwört Erdogan seine Anhänger auf einen angeblichen Kampf ein, hinter dem politische Inhalte zurücktreten. Die AKP ist nun keine Partei mehr, für deren Programm man alle vier Jahre seine Stimme abgibt. Sie ist eine Bewegung, die man unterstützt, um nicht mit ihr unterzugehen. Sie zu wählen bedeutet eine Antwort auf die scheinbar relevanteste Frage der heutigen Türkei: Wir oder die.
    "Wir sehen, dass sich diese Polarisierung immer mehr auch auf den Alltag der Menschen auswirkt. Auf die Sprache, die sozialen Beziehungen. Auf alles." So die Soziologin Nilüfer Narli von der Istanbuler Bahcesehir-Universität. Konflikte zwischen den so unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen der Türkei hat es immer gegeben. Neu ist die Aggressivität, mit der sie sich auch im Alltag begegnen.
    Fethullah Gülen gilt als Erzfeind des türkischen Präsidenten
    Nirgendwo zeigt sich das besser als am neuaufgeflammten Kurdenkonflikt. Gut zwei Jahre lang herrschte Waffenruhe zwischen der PKK und dem türkischen Militär. Bis Erdogan den Friedensprozess im vergangenen Jahr für gescheitert erklärte. Inzwischen sprechen nationale und internationale Beobachter von einem Krieg in der Südosttürkei. Türken gegen Kurden, Säkulare gegen Religiöse, Erdogan-Fans gegen Erdogan-Gegner. Die Spaltungen in der türkischen Gesellschaft haben längst alle Gruppen erfasst.
    Nach dem gescheiterten Militärputsch in der vergangenen Nacht brachte der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan, den Namen Fethullah Gülen ins Spiel. Der Imam, der den religiösen Konservatismus der AKP teilte, bis es zum Bruch kam, gilt als Erzfeind des türkischen Präsidenten. Er lebt im Exil in den USA, soll aber noch Einfluss auf den türkischen Staatsapparat besitzen, vor allem auf Polizei und Justiz.
    Der Putschversuch gibt Erdogan nun die Rechtfertigung, gegen seine Widersacher einzuschreiten. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtet von einer Säuberungsaktion im Justizsystem des Landes. Über 2.700 Richter seien abgesetzt worden. Zudem seien fünf Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte vom Dienst suspendiert worden. Gegen sie liefen Ermittlungen.
    Vertreter der Gülen-Bewegung dementierten jede Beteiligung. Aus gutem Grund, denn historisch hat sich Gülens Bewegung "Hizmet" stets gegen jede Intervention des Militärs in politische Belange gewandt. Der Einfluss des Militärs wiederum gehört zur Geschichte der Türkei.
    Erster Putsch 1960
    Seit der Entstehung des Staates Türkei anno 1923 betrachtet sich das Militär als Hüter jenes politischen Systems, das ihr erster Präsident, Kemal Atatürk für eine moderne Türkei entworfen und rigoros durchgesetzt hatte. Wann immer die von ihm verfügte strikte Trennung von Religion und Staat oder andere demokratische Errungenschaften wie die Pressefreiheit durch eine Regierung aufgeweicht zu werden drohten, trat die türkische Armee auf den Plan – auch, um ihre eigene, von Atatürk zugewiesene starke Rolle in der Republik Türkei zu verteidigen.
    Der türkische Präsident Suleyman Demirel 1999
    Der türkische Präsident Suleyman Demirel 1999 (dpa/Andre Durand)
    Erstmals geschah dies am 27. Mai 1960, als das Militär gegen die Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Adnan Menderes putschte, der versucht hatte, mit einem Ermächtigungsgesetz Presse wie Opposition zu reglementieren. Nachdem Menderes und einige seiner Mitstreiter zum Tode verurteilt und im September 1961 gehängt wurden, etablierte sich nach 17 Monaten eine neue zivile Regierung. Doch schon ein Jahrzehnt später, am 12. März 1971, griff die Militärführung erneut ein, diesmal ausgelöst durch ein dramatisches Erstarken des türkischen Links- wie Rechtsterrorismus.
    Da sich der amtierende Ministerpräsident Süleyman Demirel weigerte, der Armee im Kampf gegen den Terror größere Befugnisse einzuräumen, wurde er von ihr zum Rücktritt gezwungen. Nur wenige Jahre später aber, im November 1979, wurde Demirel ein zweites Mal türkischer Ministerpräsident – und auf geradezu gespenstische Weise wiederholte sich das Geschehen: Am 12.September 1980 putschte die Militärführung erneut und verhängte angesichts des wieder aufgeflammten Terrors von links und rechts das Kriegsrecht. Ein "nationaler Sicherheitsrat", bestehend aus fünf Mitgliedern, übernahm die Staatsführung, suspendierte die Verfassung und ersetzte diese durch eine provisorische, die dem Militär fast unbegrenzte Rechte einräumte.
    Erdogan startet einen klaren Islamisierungskurs
    Im November 1983 machte das Militär erneut einer zivilen Regierung Platz, und seitdem hat es in der Türkei keinen "offiziellen" Staatsstreich mehr gegeben. Dennoch hat sich die Armeeführung seitdem immer wieder in Regierungsangelegenheiten eingemischt, etwa, als sie 1997 den Rücktritt des ersten islamischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan erzwang – mit der Begründung, durch Erbakan, der als politischer Ziehvater Recep Tayyip Erdogans gilt, sei der von Atatürk proklamierte Laizismus bedroht.
    Sechs Jahre darauf, 2003, sollten sich mit der Machtübernahme Erdogans die schlimmsten Befürchtungen der kemalistisch orientierten Militärs bewahrheiten: zum einen fuhr der neue Ministerpräsident einen klaren Islamisierungskurs, der alle gesellschaftlichen Bereiche tangierte, zum anderen schwächte er systematisch die Macht der Armee als Hüterin des Atatürk’schen Erbes. Seitdem scheint es in den Teilen des Militärs immer wieder zu Verschwörungs- und Putschplänen gekommen zu sein. Hier kommen jene konspirativen Machtstrukturen ins Spiel, die in der Türkei selbst unter dem Begriff "derin devlet" zu Deutsch: "Tiefer Staat" gefasst werden.
    Fethullah Gülen
    Der in den USA lebende türkische Prediger Fethullah Gülen (dpa/picture-alliance)
    Gemeint ist damit ein Netzwerk aus Militär, Polizei und Geheimdiensten, das verdeckt als eine Art "Staat im Staate" agiert und dem auch Kriminelle und Rechtsextremisten zugerechnet werden. Unaufgeklärte Bombenanschläge, Attentate auf Oppositionelle – für dieses und mehr wird das obskure Netzwerk verantwortlich gemacht. Erdogan selbst benutzte den Begriff in Zusammenhang mit der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, der angeblich von seinem US-amerikanischen Exil aus die Unterwanderung des türkischen Staatsapparates betreibe. In den vergangenen Jahren wurden Anhänger der Gülen-Bewegung deshalb systematisch aus dem Justiz- und Polizeiapparat entfernt.
    Lange Kette der Einschränkungen der Pressefreiheit
    Anfang März dieses Jahres wurde die Tageszeitung "Zaman" in der Türkei unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt. Süleyman Bag ist langjähriger Mitarbeiter der deutschen Ausgabe. Zaman war 30 Jahre lang das größte Sprachorgan der Gülen-Bewegung.
    "Wir haben lange Zeit als 'Zaman' daran geglaubt, dass Erdoğan das, was er verspricht, auch umsetzen wird. Er hat mehr Demokratie versprochen. Er hat mehr Rechtsstaatlichkeit versprochen. Er hat mehr Minderheitenrechte versprochen. Nach 2011 hat man aber gesehen, dass er, nachdem er die Militärs und andere Kräfte ausgeschaltet hat, nicht daran interessiert war, eine demokratische Verfassung einzuführen, sondern an einem autokratischen System angefangen hat, zu arbeiten."
    Die Schließung dieser Zeitung war nur ein Glied in der langen Kette der Einschränkungen der Pressefreiheit. Es folgte ein Prozess gegen den Chefredakteur der laizistischen Oppositionszeitung "Cumhuriyet", Can Dündar, der türkische Waffenlieferungen an Islamisten in Syrien aufgedeckt hatte. Erdogan selbst forderte lebenslänglich. Dündar bekam internationale Solidaritätsbekundungen, auch von der Organisation "Reporter ohne Grenzen". Aber die deutsche Regierung hielt sich mit Kritik auffällig zurück. Und musste sich Kritik von der Opposition gefallen lassen. Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende von Bündnis90/die Grünen im Bundestag:
    "Ein Land, das immer noch die EU-Mitgliedschaft anstrebt, das kann nicht repressiv und willkürlich mit Journalistinnen und Journalisten umspringen, und wir müssen als demokratischer Staat, müssen das als Europäer, die ihre Werte verteidigen, ansprechen."
    Deutsch-türkische Ehe: einander verbunden und krisenreich
    Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei war immer schon das einer schwierigen Ehe: einander verbunden und krisenreich. Aber das Schweigen Deutschlands zur Beschränkung der Pressefreiheit hatte einen realpolitischen Grund: die Bewältigung der Flüchtlingskrise. Der damalige türkische Ministerpräsident Ahmet überraschte die EU-Regierungen Anfang März mit einem unerwarteten Vorschlag und brachte sein Land als einen wichtigen Partner ins Spiel. Er sagte in Brüssel auf einem Flüchtlingsgipfel:
    Der frühere türkische Ministerpräsident Ahmed Davutoglu in Brüssel.
    Der frühere türkische Ministerpräsident Ahmed Davutoglu in Brüssel. (AFP / Emmanuel Dunand)
    "Wir haben die kühne Entscheidung gefällt, dass wir alle Flüchtlinge, die illegal über die Ägäis von der Türkei aus nach Griechenland kommen, zurücknehmen - unabhängig vom Herkunftsland. Im Gegenzug erwarten wir, dass für jeden Syrer, den wir von Griechenland zurücknehmen, die EU einen anderen Syrer aus der Türkei aufnimmt."
    Auf Grundlage dieses Vorschlags vereinbarte die EU ein Abkommen mit der Türkei, das sich in der Praxis aber noch nicht bewähren konnte. Es stärkte vorerst die deutsch-türkischen Beziehungen und entlockte sogar Bundeskanzlerin Merkel lobende Worte. Merkel hatte sich stets gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU ausgesprochen.
    Eine Liebesheirat wird es nie sein
    "Bei aller notwendigen Sorgfalt, mit der wir die Gespräche jetzt mit der Türkei führen und zu führen haben, sollten wir eines aber nicht übersehen: Das, was die Türkei für über zwei Millionen Flüchtlinge, genau genommen etwa 2,7 Millionen Flüchtlinge, in ihrem Land seit Jahren leistet, kann gar nicht hoch genug gewürdigt werden. Es gereicht Europa nicht zur Ehre, sich als Union von 28 Mitgliedstaaten mit 500 Millionen Bürgern bislang so schwergetan zu haben, die Lasten zu teilen."
    Aber die Harmonie hielt nicht lange. Sie wurde bald gestört von einem Schmähgedicht des Comedian Jan Böhmermann, der den türkischen Präsidenten beleidigte. Merkels Äußerung, das Gedicht sei "bewusst verletzend" gewesen, beruhigte nicht die diplomatische Anspannung. Der deutsche Botschafter in Ankara wurde mehrmals einbestellt, bis Merkel den Weg der Strafverfolgung Böhmermanns wegen Beleidigung eines ausländischen Staatsmannes frei machte. Als sich die Gemüter zu beruhigen begannen, kam es im deutsch-türkischen Verhältnis dennoch fast zur Scheidung, um im Bild zu bleiben. Denn der Bundestag erkannte das Vorgehen des Osmanischen Reiches gegen die Armenier vor mehr als hundert Jahren als Völkermord an.
    Die Folge: Die Türkei zog ihren Botschafter zurück. Zudem begann eine Hetzkampagne gegen die türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten. Geschieden wird die Ehe selbstverständlich nicht. Aber eine Liebesheirat wird es auch nie sein. Mehr eine Beziehung, die weitere Konflikte birgt.