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Radikalisierung in Deutschland
Wenn aus Nazis Islamisten werden

Im Hass vereint: Die Radikalisierung von Islamisten und Rechtsextremen scheint ähnlichen Mustern zu folgen. Ein Fall in Braunschweig lässt aufhorchen: Dort ist ein mutmaßlicher Islamist angeklagt, der vor drei Jahren noch zur rechtsextremen Szene gehört haben soll.

Von Timo Stukenberg | 15.12.2017
    Der Angeklagte Sascha L. kommt am 20.09.2017 in Handschellen zum Prozessauftakt in die Staatsschutzkammer des Landgerichts Braunschweig (Niedersachsen). Dem Hauptangeklagten wird die Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat sowie der unerlaubte Umgang mit explosionsgefährlichen Stoffen vorgeworfen. Die drei weiteren Angeklagten sind wegen Beihilfe angeklagt. (Angeklagte auf Anweisung des Gerichts unkenntlich gemacht)
    Prozessauftakt gegen den mutmaßlichen Islamisten Sascha L. in Braunschweig (dpa / Swen Pförtner)
    Ein Montagmorgen am Landgericht Braunschweig. Polizisten mit Maschinenpistolen stehen vor dem Eingang des Gebäudes. Drinnen wird der Angeklagte Sascha L. von drei Justizbeamten in Sturmmasken in den Gerichtssaal geführt. Seine Hände sind vor seinem Bauch gefesselt. Die Fußfesseln schleifen über den Boden.
    Sascha L.s weiche Gesichtszüge sind umrahmt von einem Bart. Er trägt Kapuzenpullover und Jogginghose. Die Generalstaatsanwaltschaft wirft ihm vor, eine schwere, staatsgefährdende Straftat geplant zu haben. Einen Bombenanschlag auf Polizisten, vielleicht auch auf Soldaten, im Namen des Islam. Bei seiner Festnahme in seiner Wohnung im niedersächsischen Northeim fanden die Ermittler alle Bauteile für einen improvisierten Sprengsatz: Einen Fernzünder, abgesägte Pfandflaschen, hochexplosives Acetonperoxid, Böller, aus denen das Schwarzpulver herausgekratzt wurde, und eine Anleitung zum Bombenbauen.
    Vor Gericht sagen die Ermittler aus, dass er die Planung für einen Anschlag unter Tränen zwar gestanden habe. Den Plan hätte er allerdings längst verworfen. Er soll bei der Vernehmung sogar nach einem Aussteigerprogramm gefragt haben. Doch als er in die Untersuchungshaft kommt, hängt er in seiner Zelle eine Flagge des sogenannten Islamischen Staats auf.
    "Wir sind gegen Demokratie"
    Neben Sascha L. sitzen drei weitere Männer auf der Anklagebank. Einer von ihnen, der 21-jährige Wladislav S. – hohe Stirn, Seitenscheitel, geduckte Haltung – passt jedoch nicht ins Bild. Mit dem Islam wolle er nichts zu tun haben, sagt er im Gerichtssaal. Er sei überzeugter Nationalsozialist. Er und Sascha L. kennen sich noch aus früheren Tagen. Damals tickte auch Sascha L. noch anders, wie er in einem Video auf seinem Youtube-Kanal zeigt. Darin sitzt ein junger Mann, vermutlich er selbst, vermummt vor der Kamera.
    "Ich meine, es fängt schon damit an: Wir sind gegen Demokratie. Ganz klar, ja. Jeder Rechte, der sagt Demokratie ... der lügt. Ich bin gegen Demokratie, ganz klar Nationalsozialismus."
    Das war 2013. Damals lebte Sascha L. noch in Berlin und zählte sich offensichtlich zu einer ganz anderen Szene. Kurz bevor er das Video hochgeladen hat, soll er zum Angriff auf die linke 1.-Mai-Demo in Berlin aufgerufen haben, heißt es aus Behördenkreisen. Auf seinen Social-Media-Profilen nennt er sich Peter Unsterblich - vermutlich in Anlehnung an eine militante Neonazi-Gruppe aus dem Süden von Brandenburg. Bei Facebook postet er Bilder mit der Aufschrift "Nationaler Widerstand".
    "Arbeitsplätze – zuerst für Deutsche. Arbeitsplätze – zuerst für Deutsche. Frei, sozial und national."
    Demonstration von rechtspopulistischen und rechtsextremen Gruppen am 04.03.2017 in Berlin unter dem Motto "Merkel muss weg". 
    März 2017: Demonstration von rechtspopulistischen und rechtsextremen Gruppen in Berlin (dpa-bildfunk / Maurizio Gambarini)
    Rechtsextreme, Islamisten: über 30.000 Gewaltbereite
    Laut dem Bundesamt für Verfassungsschutz gab es im vergangenen Jahr rund 12.100 gewaltorientierte Rechtsextremisten in Deutschland. Mehr als doppelt so viele Personen zählte die Behörde zum islamistischen Spektrum. Berührungspunkte zwischen den beiden Szenen gibt es kaum. Wie kann es sein, dass aus einem glühenden Rechtsextremisten ein fanatischer Islamist wird?
    Fälle wie der von Sascha L. lassen nicht nur die Sicherheitsbehörden aufhorchen. Auch Sozialarbeiter, Pädagogen und Extremismusforscher, die seit Jahrzehnten mit Rechtsextremen arbeiten, stehen vor der Frage: Sind sich die beiden Szenen doch ähnlicher als gedacht? Und was heißt das für die Arbeit mit Extremisten? Können wir die Methoden gegen Rechtsextremismus auch bei Islamisten anwenden? Oder fangen wir wieder bei null an?
    Warum Menschen überhaupt radikal werden
    Wer verstehen will, wie Menschen von einer extremistischen Szene in die andere wechseln, muss ganz vorne anfangen: Bei der Frage, warum Menschen überhaupt radikal werden. Michaela Glaser vom Deutschen Jugendinstitut in Halle erforscht seit Jahrzehnten, was junge Menschen in extremistische Szenen hineinzieht. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf dem Vergleich zwischen der rechtsextremen und der salafistischen Szene in Deutschland.
    "Oft sind gerade in der Annäherungsphase so ideologische Gründe gar nicht im Vordergrund, weil das ist ja oft auch ein Alter, in dem Orientierungen und Weltbilder noch gar nicht so verfestigt sind. Also im Rechtsextremismus sind es ja oft 13- bis 15-Jährige sogar, dass die teilweise auch gar nicht über die einzelnen Ziele der rechtsextremen Ideologie so genau Bescheid wissen. Dass es schon so eine Affinität, eine fremdenfeindliche Affinität gibt, aber jetzt nicht dezidiert politische Inhalte bekannt sind."
    Konvertiten sind in der Regel religiöse Neulinge
    Das Gleiche gilt für viele Konvertiten, die sich einer radikal-islamistischen Szene anschließen. Sie sind in der Regel religiöse Neulinge. Im Elternhaus spielt die Religion häufig nur eine untergeordnete Rolle. Dass eine radikal-islamistische Einstellung von den Eltern an ihre Kinder weitergegeben wird, sei also eher selten, sagt Michaela Glaser. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern spiele beim Einstieg in den Rechtsextremismus dennoch eine große Rolle.
    "Da ist es tatsächlich so, dass man auch sieht, dass auffällig viele dieser rechtsextrem orientierten Jugendlichen von so einem Klima von emotionaler Kälte, Verunsicherung, Vernachlässigung auf einer emotionalen Ebene berichten. Gerade die gewaltorientierten Jugendlichen, berichten oft auch über sehr gewalttätige Erfahrungen, die sie selber erlitten haben. Aber es gibt auch Jugendliche, die von erst mal nach außen gutbürgerlich intakt aussehenden Elternhäusern berichten, die dann eher von so einer emotionalen Kälte und von so einer Sprachlosigkeit zwischen Eltern und Kindern berichten."
    Beide Szenen vermitteln ihren Mitgliedern Exklusivität
    Sprachlosigkeit, emotionale Kälte, Gewalt in der Kindheit. Solche Voraussetzungen machen Jugendliche anfällig. Und die extremistischen Szenen, egal ob islamistisch oder rechtsextrem, reagieren darauf. Sie bieten in erster Linie das Gefühl dazuzugehören.
    "Was ja auch beide Szenen auszeichnet, ist, dass sie Mitgliedern ganz gezielt vermitteln, Angehörige einer exklusiven Gemeinschaft zu sein. Also die Kameradschaft, die für eine höhere Sache unterwegs ist, die ausgewählte Kameradschaft. Die anderen drum herum verstehen es nur nicht, worum es eigentlich geht. Und im Islamismus ist es ja dann diese Brotherhood oder Sisterhood."
    Strenge Regeln können attraktiv für Jugendliche sein
    Dabei können gerade die strengen Regeln einer salafistischen Bruderschaft für Jugendliche attraktiv sein. Ein Forscherkollege von Michaela Glaser hat die These aufgestellt, dass diese Szene einigen Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen geradezu als Ausweg erscheint, bei dem der Jugendliche nicht sein Gesicht verliert.
    "Dass das eben in so einer coolen Macho-Jugendszene soziales Kapital transportieren kann. Also ich bin ein delinquenter Kleinkrimineller, ich bin cooler Macho und wenn ich von einem Tag auf den anderen sage, "Leute, ich habe keinen Bock mehr mich zu prügeln und ich trinke keinen Alkohol mehr", bin ich ein Weichei – außer, ich geh zu den Salafis, dann bin ich nämlich ein cooler Krieger."
    Suche nach Geborgenheit, Zugehörigkeit, Halt
    Thomas Mücke versucht seit 28 Jahren nachzuvollziehen, wie sich junge Menschen radikalisieren, warum sie Teil einer extremistischen, vielleicht sogar gewaltbereiten Szene werden. Und er versucht sie dort wieder herauszuholen - zu "de-radikalisieren", wie es unter Sozialpädagogen heißt.
    Anfangs hat er ausschließlich mit Rechtsextremen gearbeitet. Seine Nichtregierungsorganisation Violence Prevention Network ist mittlerweile der größte Anbieter von De-Radikalisierungsprogrammen in Deutschland. Seit rund zehn Jahren arbeitet er auch mit Islamisten. Er hat beobachtet, dass junge Menschen in beiden Fällen nach ähnlichen Dingen suchen.
    "Nach Identitätssuche, nach Geborgenheit, nach Gemeinschaft, nach Zugehörigkeit, nach Halt. Und auf der Basis dieser emotionalen Bedürfnisse versuchen sie dann, diese jungen Menschen, an der Szene zu halten, und erst dann beginnt der Ideologisierungsprozess."
    Gezielte Entfremdung von Gesellschaft, Familie, Freunden
    Von da an entwickelt sich eine Eigendynamik. Autoritäten innerhalb der Szene fangen an, die Gesellschaft zu hinterfragen - in einer Moschee oder online, zum Beispiel bei Youtube. Sogenannte Prediger sprechen Urteile darüber, was laut dem Islam erlaubt sei und was nicht. Ein Beispiel: Das Grundgesetz und die Demokratie seien eine Religion wie der Islam, behauptet ein deutschsprachiger Prediger, dessen Videos auch Sascha L. geteilt hat. Wer wählen gehe, zähle demnach nicht zu den Muslimen, sondern zu den Ungläubigen.
    Thomas Mücke kennt solche Argumentationen. Für ihn sind sie der erste von drei Schritten der Entfremdung – und der Anfang der völligen Vereinnahmung durch die Szene.
    "In der Form halt, dass sie erst mal sagt, als Muslim hast du in Deutschland nichts zu suchen. Islam und Demokratie gehören nicht zusammen. Das ist die Entfremdung von der Gesellschaft, in der ich geboren worden bin. Und dann passiert halt der Punkt, dass man versuchen soll, die Familie vom so genannten wahren Islam zu überzeugen. Wenn das nicht passiert, dann gehören die Eltern zu den Ungläubigen. Damit sind sie Feindbild. Und das ist die zweite Entfremdung von der Familie. Und die dritte ist es dann von allen sozialen Kontakten, Fußballverein, was auch immer, wo man war. Dass man das dann abbrechen muss."
    Viele Gemeinsamkeiten beider Extremismus-Phänomene
    Einmal isoliert sind sie umso schwerer zu erreichen, für Freunde und Familienmitglieder. Müssten dann nicht gerade auch andere Szenen zum Feindbild gehören? Trotzdem ist der Wechsel von der rechtsextremen in die islamistische Szene offenbar möglich.
    "Das ist auch nicht unbedingt verwunderlich, weil ja die Ideologien der beiden Extremismus-Phänomene sehr viele Gemeinsamkeiten haben. Also sie haben die Gemeinsamkeit, dass sie die Gesellschaft ablehnen, dass sie Demokratie und Menschenrechte und Grundrechte ablehnen. Sie haben die Gemeinsamkeit, dass Menschen, die anders sind, die andersgläubig sind, die andere Lebensweisen wollen, dass die nicht dazugehören. Sie suchen die homogene Gesellschaft, die homogene Gemeinschaft, und wer nicht zu dieser homogenen Gemeinschaft gehört, hat keine Existenzberechtigung mehr."
    Die Notwendigkeit eines Feindbildes
    Was beide Szenen auszeichnet, ist die Ablehnung der Gesellschaft. Sie brauchen die Gesellschaft geradezu als Feindbild. Nicht nur auf individueller Ebene, zum Beispiel in der Verbindung zu den Eltern. Auch der Staat und die Mehrheitsgesellschaft, wie sie in Medien, auf dem Arbeitsmarkt oder auf dem Wohnungsmarkt wahrgenommen wird, spielen eine Rolle. Forscherin Michaela Glaser warnt davor, dass Diskriminierung junge Migranten in die Fänge extremistischer Szenen treiben könne.
    "Dass dann die Erfahrung als Migrant in dieser Gesellschaft benachteiligt worden zu sein, dass die dann islamistisch gerahmt wird. Also auch bei Menschen, bei denen das Muslimsein eigentlich als Bezugskategorie vorher gar keine Rolle gespielt hat, also so einen Fall haben wir auch in unserer Forschung, dass dann plötzlich dadurch gerahmt wird und das ist natürlich die Brille der Ideologie, die dann greift. Dass dann alles, was man vorher erfahren hat, dass das zunehmend umgedeutet wird als das Ergebnis der weltweiten Verfolgung der Muslime."
    Ost-West-Problematik als Diskriminierungserfahrung
    Von ähnlichen Erfahrungen können viele Rechtsextreme genauso berichten, sagt Bernd Wagner. Er ist Gründer von EXIT Deutschland, ein Programm, das seit den neunziger Jahren Rechtsextremen beim Ausstieg aus der Szene hilft.
    "Das können Sie schon an der Debatte der Ostdeutschen und an den Wahlergebnissen der AfD nachvollziehen oder an der Fragestellung, warum denn die Ostler stärker vertreten sind im Rechtsextremismus, was die Gewaltzahlen betrifft, aber auch die Affinitäten zu ideologischen Momenten oder auch sich zusammenzuschließen im Interesse einer rechtsextremen Vorstellung. Da ist schon was dran, also auch die Ost-West-Problematik als Diskriminierungserfahrung."
    Antimaterialistischer Ansatz bei Islamisten wie Neonazis
    So individuell jeder Radikalisierungsverlauf ist, sie lassen sich immer wieder auf ähnliche Erfahrungen zurückführen. Die Beziehung zum Elternhaus, Ausgrenzungserlebnisse und die Suche nach Identität. Doch auch die Inhalte der Ideologien zeigen bei genauerem Hinsehen eine Reihe von Schnittstellen: Antisemitismus zum Beispiel, oder auch die Suche nach einer bodenständigen, vermeintlich ehrlicheren, einfacheren Lebensweise. Bernd Wagner, der Gründer von EXIT Deutschland:
    "Rechtsradikale Ideologie, so wie sie jetzt bei einem großen Teil der nicht sehr üppig zahlenmäßig daherkommenden Neonazis, also der militanten Neonazis, vertreten wird, ist also auch eine Art von Antimaterialismus. Und der Islam ist eigentlich auch eine Weltvorstellung, die von einem antimaterialistischen Ansatz, philosophisch gesehen, vorankommt. Also das ist so eine Sache, wo man dann springen kann."
    Mit den Radikalisierten "ideologisch auseinandersetzen"
    Der Szenenwechsel ist möglich, nur was heißt das für den Umgang mit diesen radikalisierten Menschen? Können wir das, was wir seit Jahrzehnten schon mit Rechtsextremen machen, auf Islamisten anwenden? Oder müssen wir uns völlig neue Konzepte für Prävention, Deradikalisierung oder Aussteigerprogramme überlegen? Thomas Mücke vom Violence Prevention Network:
    "Nein, man muss keinen neuen Ansatz entwickeln. Weil das entscheidende ist, wir haben es hier mit jungen Menschen zu tun, die eine Reihe von Problembereichen angehäuft haben, die man sozialpädagogisch bearbeiten muss und man hat hier natürlich bei beiden die Aufgabe, dass man sich nicht nur das Verhalten des jungen Menschen anschaut, sondern zur Kenntnis nimmt, der ist in extremistischen Ideologien verhaftet, also muss ich mich auch ideologisch mit ihm auseinandersetzen und die Themen mit ihm bearbeiten, die für ihn wichtig sind, die er in der Szene auch erfährt."
    Im Islamismus kann ein solches Thema der Kampf für ein Kalifat sein, im Rechtsextremismus hingegen die vermeintliche Bewahrung einer Volksgemeinschaft. In beiden Fällen müssen Sozialarbeiter in der Lage sein, die Propaganda der Szene zu dekonstruieren und zum Hinterfragen anregen, sagt Thomas Mücke. Bei Islamisten müsse man dafür im Zweifel auch religiöse Autoritäten zurate ziehen, zum Beispiel einen Imam.
    IS-Propaganda "viel schwerer zu entzaubern"
    Doch bevor der zum Einsatz kommt, brauchen die Sozialarbeiter erst einmal Kontakt. Für ihre Arbeit müssen Sozialarbeiter nicht mehr nur in Jugendclubs gehen, in denen sich die rechte Szene trifft, sondern eben auch in die Moschee. Die Ausreisen militanter Islamisten in die Gebiete des sogenannten Islamischen Staats machen einen solchen Ansatz jedoch unmöglich. Michaela Glaser vom Deutschen Jugendinstitut:
    "Ein Grundgedanke der Sozialarbeit mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen ist ja dieses "always stay in touch", also nie den Kontakt aufgeben. Da zu sagen, "ich akzeptiere dann deine Ideologie nicht, aber wenn du irgendwann wieder zurückkommen willst, mit mir sprechen willst, bin ich da." Das kann ich natürlich mit jemandem, der in den IS ausgereist ist, nicht machen. Also wie erreiche ich Jugendliche, die dann tatsächlich diesen Schritt weiter gegangen sind? Also, das ist eine ganz große, neue Herausforderung."
    Es kommt noch schlimmer. Der Islamische Staat verfügte noch bis vor kurzem über eine professionelle Propaganda-Maschine. Gleichaltrige berichten in den sozialen Medien von den vermeintlichen Erfolgen der Organisation. Sie zeigen Bilder von heroischen Kämpfern und einem paradiesischen Land und fordern andere auf ihnen zu folgen.
    "Und Sie dann da als erheblich älterer Erwachsener dann sagen "es ist doch alles nicht so und wir wissen, dass es ganz schlimm da ist". Also sie haben einfach nicht dieselbe Glaubwürdigkeit wie die Jugendlichen und es ist halt viel schwerer zu entzaubern als im Rechtsextremismus, wo ja dann die Szene-Realität vor Ort erfahren werden kann und man dann hier sagen kann, "ach, ich habe da jetzt doch keine Lust mehr drauf."
    Geduld, um IS-Rückkehrer nach der Haft zu integrieren
    Eine Antwort darauf haben die Forscher noch nicht gefunden. Doch mit dem Niedergang des sogenannten Islamischen Staats in Syrien und im Irak verlagert sich der Schwerpunkt der Arbeit zurück nach Deutschland. Nämlich dann, wenn radikale Islamisten wieder zurückkehren. Viele von ihnen werden in Deutschland vor Gericht stehen, vielleicht zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Um diese Menschen wieder in unsere Gesellschaft zu integrieren, braucht es Geduld, sagt Thomas Mücke.
    "Je länger man sich diese Zeit auch nimmt, die der Betroffene auch braucht, desto geringer sind auch die Rückfall- oder auch die Wiederinhaftierungswahrscheinlichkeiten. Da gibt es mittlerweile auch Untersuchungen, die das aufzeigen. Das zeigt auch unsere Arbeit auf. Kurzzeitpädagogik ist hier der falsche Weg."
    Betreuung jedes einzelnen Extremisten kostet mehr Geld
    Mehr Zeit für die Betreuung jedes einzelnen Extremisten kostet mehr Geld. Der Staat hat schon einmal versucht, dem Problem mit einer Billiglösung zu begegnen.
    "Also wir haben damals in den neunziger Jahren im Bereich Rechtsextremismus gearbeitet sehr oft mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eingestellt worden sind, die keine Qualifikation hatten, die wenig fachliche Beratung hatten und die wurden einfach auf die Szene losgeschickt."
    Zwar finanzieren seit einigen Jahren auch die Bundesländer De-Radikalisierungsprogramme wie die des Violence Prevention Networks. Doch so genannte Regelstrukturen, also dauerhaft gesicherte Verträge zwischen Staat und Nichtregierungsorganisationen gibt es kaum.
    "Das ist ein großes Problem, die fehlen noch. Und das hat in den letzten Jahrzehnten dazu geführt gehabt, dass das Know-how, das man sich sozusagen ansammelt in der Extremismusarbeit, dass es immer wieder auch verschwindet, weil die Finanzierung dieser Projekte verschwindet. Und wir haben jetzt viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die neu sind und die jung sind. Und ich habe die Hoffnung, dass man in der Extremismusbekämpfung nicht die alten Fehler wiederholt, nämlich ständig die Anbieter zu wechseln und eventuell auch die Finanzierung davon abhängig zu machen: Ist es gerade ein öffentliches Thema oder ist es gerade kein öffentliches Thema."
    "Beide Extremismusphänomene sind sehr aktiv"
    Für Thomas Mücke geht es bei der Frage, wie lange und mit wie viel Geld solche Projekte finanziert werden, auch um die Budgets seiner eigenen Organisation. Sein Wunsch scheint in der vergangenen Legislaturperiode jedenfalls erhört worden zu sein. Im Sommer dieses Jahres hat das Familienministerium einen millionenschweren Fonds aufgelegt, um Radikalisierung zu verhindern. Thomas Mücke warnt jedoch davor, sich aufgrund der islamistischen Terrorgefahr auf dieses Extremismus-Phänomen zu beschränken.
    "Da ist schon auffällig, dass im Bereich des religiös begründeten Extremismus mehr Aktivitäten gemacht werden als im Bereich des Rechtsextremismus. Ich halte es für gefährlich, deswegen weil beide Extremismusphänomene sehr aktiv sind."
    Ob Sascha L. mittlerweile an einem Aussteigerprogramm teilnimmt, ist nicht bekannt. Im Prozess vor dem Landgericht Braunschweig forderte der Generalstaatsanwalt in seinem Plädoyer eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten. Die Verteidigung forderte einen Freispruch. Das Urteil soll am 18. Dezember 2017 gesprochen werden.