Freitag, 26. April 2024

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Radreise durch Deutschland
Kostenloser Selbsterfahrungstrip

Mal ein halbes Jahr raus aus allem – auf diese Idee kommen immer mehr Menschen. Zwei junge Frauen aus Hildesheim entschieden sich für eine Reise ohne Geld. Ihre 'Radwandlung' wurde ein Test der deutschen Gastfreundschaft.

Von Maike Strietholt | 09.07.2017
    Die Landschaft mit ihrer üppigen Vegetation an der Lippe bei Dorsten-Hervest.
    Deutsche Landschaften erkunden: Morgens nicht wissen, wo man abends schläft, durch Wind und Wetter mit dem Fahrrad und nur mit Notgroschen unterwegs - ein spannendes Experiment. (imago/Gottfried Czepluch)
    Die beiden Mitte-Zwanzigjährigen an diesem Mittag im Bremer Hauptbahnhof zu finden, ist nicht schwierig: Zwei voll beladene Reiseräder parken in der Eingangshalle, die großen und kleinen Packtaschen vorn und hinten leuchten rot, grün und blau. Najoka und Janina sind auch gerade erst angekommen – sie haben noch einen Zwischenstopp in der Fahrradwerkstatt eingelegt:
    "Ich war ja gerade noch meinen Reifen aufpumpen, und der wollte mir noch eine Luftpumpe verkaufen!" - "Und dann musstest du ihm erklären, dass du kein Geld dabei hast ..."
    "Mit Lebensmitteln überhäuft"
    Fast schon Glück, dass der Fahrradhändler nicht auf die Idee kam, die Pumpe einfach so mitzugeben – das Gerät wäre im Gepäck wohl eher störend. Das mit dem Schenken läuft nämlich allgemein ganz gut, sagt Janina – und erzählt begeistert von einem Erlebnis am Vortag in einem Bremer Lebensmittelgeschäft:
    "Sie ist dann mit mir an die Theke vom Bäckerstand gegangen und hat gesagt: "'Hier – die fährt mit dem Fahrrad durch Deutschland ohne Geld und hat Hunger! Hast du noch was?' Und dann hat er gesagt: 'Na klar, hier! Davon werdet ihr fünf Tage satt – also, das ist das beste Brot!" Und dann konnten wir total schön frühstücken und hatten am Abend immer noch was davon."
    Meistens würden sie mit Lebensmitteln eher überhäuft, ergänzt Najoka und programmiert ihren Routenplaner: Heute soll es Richtung Bremerhaven gehen. Und dann radeln wir los, unter grauem Himmel durch das Innenstadtgewusel bis an die Weser – erst einmal durchatmen!
    Freie Sicht, keine Autos, ein gut ausgeschilderter Radweg. Nach den ersten 20 Kilometern konzentrierter Strampelei gegen den kräftigen Wind gibt es den ersten kleinen Zwischenstopp – direkt neben einem Leuchtturm.
    "Wir sind hier gerade in Lemwerder und essen leckere Schokoriegel, die wir von einer Frau eben beim Vortrag geschenkt bekommen haben als Wegzehrung!"
    Radeln durch alle 16 Bundesländer
    Am Vormittag haben Janina und Najoka im Rahmen einer Veranstaltung des Allgemeinen Deutschen Fahrradklubs in Bremen, kurz ADFC, einen Vortrag über ihre Tour gehalten – ein halbes Jahr ohne Geld durch alle 16 Bundesländer zu radeln, ist schließlich schon etwas Besonderes.
    Und unter den Gästen fanden sich auch wieder ein paar Spender für das Klimaschutzprojekt, das die jungen Frauen unterstützen: Mithilfe der Organisation 'PrimaKlima' wollen sie nach der Tour im Herbst 1.000 Bäume pflanzen. Fünf Euro kostet ein Baum, 350 Bäume sind es bereits.
    Es geht weiter, mal direkt am Wasser, mal hinterm Deich entlang, mit Blick auf die lose Wohnbebauung. Ein kühler Tag ist das heute, aber zum Glück bleibt es trocken. Das Wasser in den Trinkflaschen neigt sich langsam gen Ende, sodass wir an einem der Häuser anhalten. Ein Dutzend junge Frauen und Männer sind gerade dabei, die Hofeinfahrt neu zu pflastern.
    "Moin! Dürfen wir einmal unser Wasser hier auffüllen?" - "Ja, aber erst wenn zwei Paletten abgeräumt sind!" - "Also, da rein gleich links ist eine Toilette, da könnt ihr reingehen ..."
    Neugierige Fragen auf der Strecke
    Als wir wieder herauskommen, gibt es wie so oft noch ein paar neugierige Fragen:
    "Wann seid ihr losgefahren?" - "2. April!" - "Ihr fahrt mit dem Fahrrad durch die Gegend und habt keinen Blassen, wo ihr heute Abend bleibt?" - "Heute Abend haben wir noch keinen blassen Schimmer, das ist richtig. Wir haben auch schon einmal bei einem Pfarrer geschlafen, als wir gar nicht wussten, wohin und uns keiner aufnehmen wollte ... Na jut, viel Erfolg noch euch, ciao!"
    Es geht wieder auf die Räder – es gibt schließlich noch ein wenig zu strampeln. Bei der Ortschaft Farge beschließen wir, auf die Ostseite der Weser zu wechseln – ortskundige Spaziergänger hatten das als die schönere Route empfohlen. Die kurze Fährüberfahrt kostet allerdings ebenfalls ein paar Euro – mal schauen, was der Kassierer sagt ...
    "Moin!" - "Wir sind so gut es geht ohne Geld unterwegs, weil wir alles, was wir unterwegs einsparen, in den Wald investieren ..." - "Das ist okay! Spenden kann ich aber nix, ne?" - "Dankeschön!"
    Für alle Fälle ein Notgroschen
    Sogar hier hat es geklappt – Janina und Najoka haben für solche Fälle aber auch einen Notgroschen dabei.
    Auf der anderen Weserseite geht es auf menschenleerer Strecke weiter, der Blick kann weit über die Marschwiesen streifen. Auf Höhe des Dorfes Sandstedt biegen wir vom Weserradweg ab – Najoka meint, dass es hier einen Laden geben könnte. Schließlich ist die Abendbrotversorgung für heute noch nicht geklärt. Wir kurven durchs Dorf, einen Laden finden wir nicht. Dafür aber etwas anderes: Vor einem Grundstück ist ein kleiner Stand aufgebaut: Marmeladen und Honig gibt es da – mmh...
    "Hallo! Wir sind ohne Geld unterwegs und wollten fragen, ob wir eine Marmelade aus dem letzten Jahr mitnehmen dürften!?" - "Aus dem letzten Jahr, ja das dürfen Sie!" - "Auf jeden Fall Erdbeer-Himbeer ..." - "Das ist die beste Kombi!"
    Und dann hat die ältere Dame selbst noch ein Anliegen – das Hoftor ist aus den Angeln geraten. Wir packen mit an. Das Tor lässt sich auch von vier Personen nicht bezwingen, die Spenderin bedankt sich aber trotzdem für die Unterstützung und wir fahren weiter.
    Übernachten im Heu, Essen gegen Arbeit
    Es ist inzwischen nach 17 Uhr – so langsam wäre es gut, einen Platz für die Nacht zu finden. Auf einem Schild lesen wir etwas von einem 'Heuhotel' im nächsten Ort. Das klingt doch gut, denken wir – dort fahren wir mal hin!
    In Drechtenfleth angekommen, stoßen wir rasch auf den großen Hof. Ein Mann mittleren Alters bearbeitet gerade Holz auf der Auffahrt. Es ist der Hofherr, Herr Wild – und der teilt uns erst einmal mit, dass das Heuhotel bereits vor ein paar Jahren geschlossen wurde. Übernachten dürfen wir aber trotzdem ...
    "Also hier war mal die Heuherberge ... Wir haben es immer so gehandhabt, dass wir hier unten eine volle Ballenladung drin haben und dann lose darüber hinweg gestreut haben ... und dann kann man da eine Decke oder Matte drauf packen ... und das ist es eigentlich warm genug."
    Toilette und Dusche sind ebenfalls noch vorhanden – wir sind glücklich und entladen die Räder. Als wir gerade diskutieren, ob für das Abendessen der einzigen Gaststätte des Ortes ein Besuch abgestattet werden könnte, kommt Frau Wild des Weges – und hat eine ganz andere Idee: Und die hat mit Brennnesseln zu tun ...
    "Wenn man die sich immer ausbreiten lässt – die wachsen einem wirklich ins Fenster rein hier auf den Böden! Wir spritzen seit Jahren nicht, und versuchen halt immer, die Inseln klein zu halten ..."
    Also müssen die Dinger raus, ist ja klar. Arbeit gegen Essen, das ist der Deal – und so finden wir uns wenig später mit Arbeitshandschuhen ausgestattet auf der Wiese hinter dem Haus wieder und rupfen Brennnesseln aus dem Boden.
    "Die schönen Ecken von Deutschland kennenlernen"
    Die fünfjährigen Zwillinge der Familie begleiten uns neugierig, und Frau Wild kommt auch noch mal vorbei, um unseren Essenswunsch abzufragen:
    "So, was war jetzt die Entscheidung – Nudeln oder Pellkartoffeln?
    Wir entscheiden uns für die Nudeln, und als die Wiese eine Stunde später von Brennnesseln befreit ist, wartet vor dem Haus ein gedeckter Tisch. Dankbar setzen wir uns, und dann kommt auch noch die Sonne heraus. Zum ersten Mal seit Tagen!
    Die Nudeln mit Tomatensoße schmecken hervorragend, ein kühles Bier bekommen wir auch noch spendiert. Eine gute Gelegenheit, Janina und Najoka beim Apfelmus-Nachtisch nach den Hintergründen ihrer Tour zu fragen – die Idee entstand ein ganzes Jahr vor dem Start, bei einer gemeinsamen Wanderung:
    "Wir sind durch den Harz marschiert, und dann habe ich Najo von meinem Plan erzählt, dass ich gern mal ohne Geld mit dem Fahrrad durch Deutschland fahren möchte ..." - "Ich bin vorher schon viel außerhalb von Deutschland gereist und habe festgestellt, dass ich Deutschland kaum kenne und auch mal die schönen Ecken von Deutschland kennenlernen möchte. Mir war das aber zu wenig, einfach nur ohne Plan durch Deutschland zu fahren ... Ich wollte einfach noch was Sinnvolles dabei tun. Und dann haben wir ein bisschen recherchiert, und haben dann gedacht: Klimaschutz, CO2-neutrales Reisen ... Und sind dann wir irgendwann zum Bäumepflanzen gekommen."
    Erste Bilanz nach fünf Wochen: "Die Menschen sind total nett"
    Also kombinierten sie Selbsterfahrung mit Klimaschutz – und die Planung konnte starten: Equipment zusammenstellen, Route festlegen, Webseite aufbauen. Najoka kündigte ihren Job als Kindheitspädagogin, Janina unterbrach ihr Studium der sozialen Arbeit – und dann ging es los. Und jetzt, nach fünf Wochen unterwegs, sind die beiden durchaus schon positiv überrascht:
    "Ich bin schon mit diesem Bild in meinem Kopf losgefahren, dass wir in einem Land leben, das nicht unbedingt gastfreundlich ist, das hinter hohen Mauern und Gartentoren lebt. Aber diese Gartentore kann man einfach aufmachen und reingehen, und dann sind die Menschen total nett.
    Abgewiesen wurden sie noch kein einziges Mal, ergänzt Najoka.
    An dem gemütlichen Platz vor dem Haus sitzen wir noch bis zum Sonnenuntergang und schauen über die Wiesen vor dem idyllisch allein gelegenen Hof.
    Spendable Bekanntschaft von unterwegs
    Am kommenden Morgen strahlt die Sonne wieder aus voller Kraft. Das Frühstück draußen fühlt sich nach Urlaub an, und so sind beim Aufbruch kurze Zeit später alle bester Laune ...
    Cuxhaven ist das heutige Ziel, der Weg dorthin führt weiter hinterm Deich entlang. Dass der starke Gegenwind hier ungebremst angreifen kann, ist bei dem schönen Wetter heute aber nur halb so schlimm. Nach 25 Kilometern passieren wir Bremerhaven, wo ich die beiden Langzeitreisenden wieder verlassen werde. An einer Fischbrötchenbude direkt am Hafen wollen wir noch einen Abschiedskaffee erfragen – und bekommen ihr auch hier wieder problemlos – und nicht nur den:
    "Kaffee oder lieber ein kaltes Getränk? Möchten Sie noch jeder eine Bratwurst?" - "Wenn Pommes gehen – gerne!" - "Haha wie cool ...!"
    Und dann fahren Janina und Najoka von dannen – in Cuxhaven wartet auch schon das nächste Highlight: Eine Bekanntschaft von unterwegs hat den beiden eine Übernachtung in einem Ferienapartment organisiert – incl. Frühstück im angrenzenden Hotel.