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Ratten
Erinnerung als Landkarte im Gehirn

Ungefähr zwei Monate ist es her, dass die diesjährigen Gewinner des Medizinnobelpreises bekannt gegeben wurden. Die Norweger May-Britt und Edvard Moser bekommen die Auszeichnung mit dem Briten John O'Keefe, weil sie im Gehirn von Ratten ein ausgeklügeltes Navigationssystem entdeckt haben. Nun haben sie schon neue Ergebnisse ihrer Forschung veröffentlicht.

Von Christine Westerhaus | 09.12.2014
    Eine Ratte mit ihrem Nachwuchs im Nest.
    Für jede neue Umgebung legen Ratten offenbar eine ganz neue Landkarte an. (picture-alliance/ dpa - UPPA NHPA/Photoshot)
    Das Zeug zum Taxifahren haben Ratten vielleicht nicht. Doch immerhin sind sie in der Lage, sich an verschiedene Umgebungen zu erinnern, auch wenn diese zum Verwechseln ähnlich sind. Dazu sind sie offenbar deshalb in der Lage, weil sie die Erinnerung an den Aufenthalt in einer bestimmten Umgebung als Aktivitätsmuster von Nervenzellen im Gehirn speichern. In einem bestimmten Gehirnareal, dem sogenannten Hippocampus, legen die Ratten auf diese Weise eine Art individuelle Landkarte ab, erklärt Alessandro Treves, Co-Autor der Studie und Forscher an der International School for Advanced Studies SISSA im italienischen Trieste. Kommt das Tier ein zweites Mal an denselben Ort, kann es diese Erfahrung wieder abrufen. Denn dann wird im Gehirn das gleiche Netzwerk von Nervenzellen aktiv wie beim ersten Besuch.
    "Wenn wir die Tiere in eine Versuchsbox setzten, wurde im Hippocampus ein bestimmtes Netzwerk von Nervenzellen aktiviert. Setzen wir die Tiere in eine neue Box, die in einem anderen Raum stand, wurde ein komplett anderes Netzwerk von Neuronen aktiviert. Für jede neue Umgebung legten die Tiere offenbar eine ganz neue Landkarte an. Man kann sich das in etwa so vorstellen: In jeder neuen Stadt nutzen die Tiere einen neuen Stadtplan, den sie angelegt haben."
    Insgesamt testeten die Forscher die Tiere in elf schwarzen Versuchsboxen, die in unterschiedlichen Räumen standen. Der Unterschied zwischen den Boxen bestand darin, dass die Forscher eine weiße Wand jeweils an einer anderen Stelle positionierten. Das Forscherehepaar May-Britt und Edvard Moser hat sich dieses Experiment jedoch nicht ausgedacht, um das Orientierungsvermögen von Ratten zu testen. Es ging ihnen vielmehr darum, die Unterscheidungsfähigkeit des sogenannten episodischen Gedächtnisses herauszufordern. In diesem werden alle individuellen Erfahrungen gespeichert, die ein Mensch oder ein Tier in einer bestimmten Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt gemacht hat. Dass diese episodischen Erinnerungen im Hippocampus gespeichert werden, vermuten Forscher schon seit einiger Zeit. Doch bisher konnten sie sich nicht erklären, wie das Gehirn es schafft, sehr ähnliche Eindrücke auseinanderzuhalten.
    "Schon lange wird vermutet, dass ein bestimmtes Netz von Nervenzellen im Hippocampus, das sogenannte CA3 Netzwerk, der Ort ist, an dem diese Erinnerungen abgelegt werden. Und tatsächlich zeigt unser Experiment, dass dieses Netzwerk offenbar so funktioniert, dass es von Eindrücken, die ähnlich sind, unterschiedliche Landkarten anfertigt, beziehungsweise unterschiedliche Muster von Nervenzellen, die aktiv sind. Das ist also quasi der Schlüssel zu unserer Fähigkeit, individuelle Erinnerungen abzuspeichern."
    Offenbar vermeidet das Gehirn auf diese Weise, dass ähnliche Erlebnisse miteinander verwechselt werden. Das könnte beispielsweise passieren, wenn in einer ähnlichen Umgebung die gleichen Nervenzellen aktiv wären. Wo die Grenzen dieses Systems liegen und wie es genau funktioniert, ist bisher aber völlig unklar. Bisher lieferten die Forscher nur den Beweis, dass Ratten diese unabhängigen Landkarten im Gehirn offenbar dazu nutzen, sich sehr ähnliche Umgebungen einzuprägen.
    "Wir haben in unserer Studie gesehen, dass der Hippocampus ein erstaunliches Speichervermögen hat. Interessant ist, dass es in der Nähe dieses CA3-Netzwerks, das diese einzelnen Erlebnisse speichert, ein weiteres Geflecht von Zellen gibt, die offenbar nur mit diesem CA3-Netzwerk kommunizieren. Bisher war unklar, warum diese Zellen auf winzige Veränderungen reagieren, wenn sich ein Tier in einem Raum bewegt. Aber diese Systeme arbeiten vermutlich zusammen und das ergibt mit unseren jetzigen Beobachtungen ein interessantes Gesamtbild."
    Bevor die Forscher diesem Phänomen weiter auf den Grund gehen, werden sie sich aber nun zumindest einen Tag Auszeit nehmen. Denn morgen wird in Stockholm der Nobelpreis für Medizin in einer festlichen Zeremonie vom schwedischen König überreicht. Vielleicht wird Edvard Moser wenigstens bei dieser Gelegenheit mal über etwas anderes als seine Forschung plaudern. Am Tag als die Gewinner des Nobelpreises bekannt gegeben wurden, hat er sich diesen Smalltalk nicht gegönnt, erinnert sich Alessandro Treves.
    "Als ich von dem Nobelpreis erfuhr, war ich gerade in einem Meeting. Zurück in meinem Büro sah ich, dass mir Edvard Moser eine Nachricht hinterlassen hatte, in der er mir sehr detailliert erklärte, warum wir dieses und jenes Detail mit in den Anhang des Artikels nehmen sollten und so weiter und so fort. Da dachte ich nur: Das ist wirklich typisch Edvard - er bekommt den Nobelpreis und anstatt darauf einzugehen, schreibt er nur über irgendwelche wissenschaftlichen Details. Als ob nichts passiert wäre."