Dienstag, 19. März 2024

Archiv

RE: Das Kapital (7/9)
Was uns Marx heute noch zu sagen hat

Der Ökonom Hans-Werner Sinn hält Karl Marx für einen der bedeutendsten Makroökonomen der Geschichte. In unserer Sendereihe über "Das Kapital" würdigt der ehemalige Chef des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung Marx' Beiträge zur Wachstums- und Krisentheorie und analysiert, inwieweit man die anhaltende wirtschaftliche Stagnation unserer Tage damit erklären kann.

Von Hans-Werner Sinn | 19.03.2017
    Der scheidenden Präsident des ifo Instituts, Hans-Werner Sinn, sitzt am 22.01.2016 im Senatssaal der Ludwig-Maximilians-Universität in München (Bayern) an seinem Platz und verfolgt das Internationale Symposium zu seiner Verabschiedung.
    Hans-Werner Sinn gilt als einer der einflussreichsten Ökonomen Deutschlands (picture alliance / dpa / Peter Kneffel)
    Vor 150 Jahren erschien "Das Kapital" von Karl Marx. Mutmaßungen über das Ende des Kapitalismus werden schon längst nicht mehr nur von stehengebliebenen Sozialisten, sondern unter den Eliten der Weltwirtschaftsgipfel diskutiert. Grund genug, "Das Kapital" noch einmal gründlich zu lesen. In einer Deutschlandfunk-Sendereihe untersuchten im vergangenen Jahr sechs Autoren die Brauchbarkeit des Buches für das Verständnis unserer Gegenwart. Als siebter Autor setzt der Ökonom Hans-Werner Sinn die Reihe fort.
    Mathias Greffrath, der die Reihe auch kuratiert hat, gibt die Deutschlandfunk-Essays nun als Buch heraus. Es erscheint im März 2017 im Verlag Antje Kunstmann.

    Einführung von Mathias Greffrath
    Diskussionen über den Erklärungswert der Marxschen Theorie hat es in den volkswirtschaftlichen Fakultäten bis 1989 kaum gegeben, oder sie waren zumeist weniger von Lektüre-Erkenntnis als vom Blick auf die sowjetische Planwirtschaft geprägt, zu der Marx wenig zu sagen hätte. Die Auseinandersetzung mit dem "Kapital" scheint aber immer dann Konjunktur zu haben, wenn der Kapitalismus in schwereres Fahrwasser gerät. Auch nach dem Beginn der gegenwärtigen Krise des politisch moderierten Finanzkapitalismus widmete sich die Presse für eine Weile der Erinnerung an eine Theorie, die Krisen nicht als Ausnahmen, sondern als notwendige Bewegungsformen der kapitalistischen Produktionsweise begreift. Zu einem folgenreichen "Streit der Fakultäten" ist es danach allerdings nicht gekommen.
    Die Theorien der Mainstream-Ökonomie gehen bis heute trotz aller Raffinesse und leistungsfähiger Methoden von idealisierten Marktmodellen aus. Der neoklassische Liberalismus radikal: indem er, wie Ricardo und Marx, die Arbeitskraft als normale Ware definiert und die "schöpferische Zerstörung" der Krisen als radikale Medizin - mit allen dazugehörigen Härten. Der Keynesianismus thematisiert die Notwendigkeit staatlicher Investitionen zur Wachstumsförderung, aber hat die Grenzen des Wachstums ebenso wenig im Blick wie der Ordoliberalismus, der das freie Spiel der Märkte, wenn auch mit sozialer und ökologischer Abfederung, fordert und damit oft an der Realität einer hochmonopolisierten und vermachteten Wirtschaft vorbeigeht.
    Eine "Politische Ökonomie", die so weit ausgreift wie das Marxsche Programm, müsste heute eine Theorie der Weltwirtschaft sein, welche die sozialen Verhältnisse, die Stoffkreisläufe, die Energiesysteme, Geldströme, die technologischen Optionen, Konsummuster und kulturellen und ökologischen Wachstumsgrenzen einbezieht - in der Absicht, Entwicklungspfade zu beschreiben, die auf die Erhaltung der "Springquellen alles Reichtums: der Erde und der Arbeiter" zielen. Trotz aller Computer ist eine solche Theorie schwer vorstellbar - und vielleicht nur einem Einzelnen möglich. Als Kritik.
    Marx' Erbe aber ist oft unerkannt für viele Sozialwissenschaften prägend geworden, auch für die Ökonomie. Hans-Werner Sinn erinnert im folgenden Beitrag an Marx' Leistungen für die Makroökonomie. Sinn, der in weiten Kreisen als der einflussreichste Ökonom Deutschlands gilt, war bis vor Kurzem Professor der Nationalökonomie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung. Seine Schwerpunkte waren Wachstums-, Konjunktur-, Umweltökonomie und Finanzwirtschaft. In den letzten Jahren beschäftigte er sich mit dem Euro, der Griechenlandkrise, der Politik der europäischen Zentralbank und im vergangenen Jahr hat er in seinem Buch "Der Schwarze Juni" den Brexit, Migrationsprobleme und die Eurokrise untersucht.

    Was uns Marx heute noch zu sagen hat
    Von Hans-Werner Sinn
    Der Sozialismus hat den Systemwettbewerb mit dem Kapitalismus verloren. Ineffizienz und Gewaltherrschaft waren die absehbaren Folgen des Versuchs, eine Zentralverwaltungswirtschaft mit Kommandos statt pekuniären Anreizen zum Laufen zu bringen. Als das auch der Letzte merkte, brach das System zusammen. Ist Marx deswegen obsolet? Mitnichten, denn obwohl Marx die sozialistische Revolution prognostiziert und gefordert hat, hat er nur wenig über den Sozialismus geschrieben, sondern sich stattdessen umso intensiver mit der Funktionsweise der kapitalistischen Marktwirtschaft beschäftigt. Viele der Marxschen Behauptungen wurden zwar von der Volkswirtschaftslehre verworfen. Und die intensiven Werturteile, die er in seine Analysen einfließen ließ, entsprechen nicht dem Wissenschaftsverständnis, das mit Max Weber Konsens in den Sozialwissenschaften geworden ist. Dennoch hat Marx viele interessante Gedanken geäußert, die nachhaltigen Einfluss auf die weitere Entwicklung und den Erkenntnisprozess der Volkswirtschaftslehre und der anderen Sozialwissenschaften hatten.
    Das Sein bestimmt das Bewusstsein
    Das gilt auf jeden Fall für Marxens Grundthese, dass nicht, wie Hegel meinte, das Bewusstsein das Sein, sondern ganz im Gegenteil das Sein das Bewusstsein bestimme, dass also die objektiven Produktionsverhältnisse letztlich den ideologischen Überbau in Form des Staatswesens, der Gesetze und der medialen Mehrheitsmeinung determinieren. Es gibt kein Primat der Politik über die Gesetze der Ökonomie. Vielmehr bestimmen die ökonomischen Gesetze den Rahmen, innerhalb dessen sich die Politik bewegen kann. Systeme, die sich nicht an den Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens und der objektiven Knappheit der Ressourcen orientieren, sondern aufgrund bloßer Wunschvorstellungen von Ideologen, Theologen oder Ethikern eingerichtet werden, gehen unter, weil sie ökonomisch nicht funktionieren und dem Wettbewerb mit anderen Systemen nicht standhalten.
    Ironischerweise sind es gerade linke Politiker, die an die Möglichkeit politischer Interventionen in das Marktgeschehen glauben, während die Ökonomen auf die Dominanz der ökonomischen Gesetze verweisen und viele der Interventionen als unwirksam, wenn nicht kontraproduktiv zurückweisen. Man denke nur an die Mindestlohngesetzgebung, die europäischen Rettungsschirme, die Rolle der Europäischen Zentralbank oder die Regeln für die Inklusion von Migranten in den Sozialstaat, die derzeit starke Magnetwirkungen entfalten. Ökonomen sind wie Marx vom Primat der ökonomischen Gesetze über die Wünsche der Politik und der Medien überzeugt. In diesem Sinne stehen sie heute Marx häufig näher als jene, die sich explizit auf ihn berufen.
    Marx hat den Standpunkt vertreten, dass die ökonomische Basis einer Volkswirtschaft sich unaufhörlich weiterentwickele, während der ideologische Überbau in Form der Meinungen der herrschenden Klasse, heute könnte man wohl vom ‚politisch-medialen Komplex' sprechen, unflexibel sei. Der Mangel an Flexibilität im ideologischen Überbau führe im Laufe der Zeit zu wachsenden gesellschaftlichen Spannungen, die schließlich in Umbrüchen, wenn nicht gar einer Revolution enden würden.
    Donald Trump steht bei einer Wahlkampfveranstaltung in New Mexico am 24. Mai 2016 am Rednerpult, umringt von Anhängern, die Schilder mit Trump-Slogans in die Höhe halten.
    "Populisten sind immer nur die anderen." Donald Trump bei einer Wahlkampfveranstaltung 2016. (picture alliance / dpa / EFE / Juan Labreche)
    Was könnte aktueller sein als diese Aussage? Wenn man bedenkt, wie in den USA und Großbritannien die durch die Kräfte der Globalisierung und die Migration bedrängten Unter- und Mittelschichten der Gesellschaft sich im Jahr 2016 erfolgreich gegen das Establishment aufgelehnt haben, leuchtet Marx' These unmittelbar ein.
    Der medial-politische Komplex reagierte auf den Realitätsschock mit der Behauptung, die Menschen seien Opfer von Populisten geworden, so als wüsste man nicht, dass in einer Demokratie stets Populisten regieren. Populisten sind immer nur die anderen, die nicht oder noch nicht an der Macht sind, und der eigenen Partei die lukrativen Posten im Staatsapparat abspenstig machen wollen. Welch eine verquere Definition! Ähnliches Unverständnis hat die herrschende Klasse stets gegenüber Aufrührern ihrer Zeit gezeigt, die ihre Positionen ernsthaft in Frage stellten.
    Marx als Ökonom
    Aber kommen wir zu Marx als Ökonom! Hier ist das Urteil gespalten. Zu Marx' größten wissenschaftlichen Fehlleistungen gehört die Arbeitswerttheorie, die wohl vor allem ideologisch begründet war - auf ihr ruhte schließlich die Theorie des Mehrwerts und der Ausbeutung. Die Behauptung, dass sich die relativen Güterpreise in der Marktwirtschaft grundsätzlich nach den in den Waren steckenden Arbeitszeiten richte, ist schlichtweg falsch, denn erstens sind die Löhne nur eine von vielen Kostenkomponenten einer Firma und zweitens sind Preise grundsätzlich Knappheitspreise, die ihren Wert auch von den Präferenzen und der gegenseitigen Konkurrenz der Nachfrager herleiten. Was hat beispielsweise der Preis eines Gemäldes von Rembrandt mit dem Lohn des Meisters zu tun? Was hat der Preis des Erdöls mit dem Lohn der Arbeiter am Bohrloch zu tun? Nichts, oder so gut wie nichts.
    Wegen der Arbeitswerttheorie und wegen der offenkundigen Fehlleistung Marx' im Bereich der Verteilungstheorie und der damit auf das Engste zusammenhängenden mikroökonomischen Preistheorie, der Königsdisziplin der Volkswirtschaftslehre, wird Marx von den meisten angelsächsischen Ökonomen nicht als jemand wahrgenommen, der Wesentliches zur Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen beigetragen hat.
    Der Beginn der Makroökonomie
    Das jedoch ist nach meiner Einschätzung ein Fehler, denn die wahre Leistung von Marx liegt in der Makrotheorie. Er war einer der ersten Makroökonomen der Geschichte und hat diese Teildisziplin wesentlich begründet. Vor ihm hatten Begriffe wie das ‚Nationaleinkommen', der ‚Konsum' oder die ‚Investition' kaum eine Relevanz in der Theorie gehabt. Marx wusste und erklärte, dass das Nationaleinkommen als Wertsumme der neu produzierten Güter für den laufenden Konsum und für die Akkumulation des Kapitals verwendbar war.
    Auf der Basis seiner makroökonomischen Definitionen gelang es Marx, im zweiten Band seines Hauptwerkes "Das Kapital" eine Wachstumstheorie zu entwickeln, die als Vorläufer der später von Evsey Domar oder Paul Romer entwickelten Theorien des Wachstums bei einer konstanten Relation von Kapital und Sozialprodukt gelten kann. Marx zeigte dort auch unter Verwendung numerischer Rechnungen, dass Wachstum grundsätzlich nicht durch Konsum, sondern durch Konsumverzicht, nämlich Ersparnis und Akkumulation von Kapital zustande kommt. Je größer der Anteil des Volkseinkommens ist, der nicht konsumiert, sondern gespart und investiert wird, desto höher ist die Wachstumsrate der Ökonomie.
    Die Sowjetunion hat später auf der Basis der Marxschen Wachstumstheorie versucht, eine Strategie zur Überflügelung des Westens zu entwickeln. Wenn ihr der Erfolg versagt blieb, so vor allem auch deshalb, weil übersehen wurde, dass die von Marx behauptete Proportionalität von Sparquote und Wachstumsrate nur dann gewährleistet ist, wenn eine hinreichend große industrielle Reservearmee von Arbeitslosen zur Verfügung steht, die sicherstellt, dass auch die Zahl der eingesetzten Arbeitskräfte in Proportion zum Kapitaleinsatz wachsen kann. Sobald das Kapital schneller wächst als der mögliche Arbeitseinsatz und die Produktionsstätten nicht einfach nur proportional aufgebläht werden, sondern gezwungen sind, arbeitssparende Verfahren zu verwenden, wird der Wachstumseffekt aufgrund einer Akkumulation des Kapitals abgeschwächt, und die Marxsche Formel gilt nur noch in modifizierter Form.
    Das hat auch Marx selbst gesehen und im dritten Band des "Kapital", der von Engels erst posthum editiert und herausgegeben wurde, ausführlich analysiert. Nach der Methode der abnehmenden Abstraktion sah er das Wachstumsmodell des zweiten Bandes, das auf konstanten Proportionen basierte, nur als gedanklichen Zwischenschritt zu einer realistischeren Beschreibung eines Wachstumsprozesses, der durch eine zunehmende Kapitalintensivierung der Produktion gekennzeichnet ist. Er sprach in diesem Zusammenhang von der wachsenden "organischen Zusammensetzung des Kapitals", also einer Zunahme der Relation von fixem und variablem Kapital, oder in heutiger Sprache: einer Zunahme der Relation von Produktionskapital und Arbeitskräften.
    Die Rolle der Nachfrage
    Marx war indes weniger an den Bedingungen des Wachstums als an den Ursachen von Krisen interessiert. So richtig es ist, dass Wachstum nur aus Ersparnis und Investition resultieren kann, so wichtig ist zugleich die Rolle des Konsums als eines wesentlichen Elements der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Stockungen im Konsum können, wie Marx richtig erkannte, Unterkonsumtionskrisen hervorrufen, die die Wirtschaft in eine konjunkturelle Abwärtsspirale ziehen. Insofern bereitete Marx die später von Keynes entwickelte, nachfragebasierte Konjunkturtheorie vor, die gerade in den letzten Jahren sehr häufig bemüht wurde, um auf die negativen konjunkturellen Wirkungen einer angeblichen Austeritätspolitik in Südeuropa hinzuweisen.
    Symbolbild Konsum
    Konsum spielt eine wichtige Rolle in Marx' Wirtschaftstheorie. (dpa / Marc Müller)
    Aber Marx wie auch Keynes würden fehlinterpretiert, wenn man ihnen die Behauptung in die Schuhe schieben würde, dass es bei der Nachfrage speziell nur auf die Konsumnachfrage und die Massenkaufkraft ankomme. Beide wissen natürlich und betonen, dass auch die Nachfrage der Unternehmen nach Kapitalgütern, die sie akkumulieren, ein wesentliches Element der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ist, das im Falle von Unterbrechungen ebenfalls zu krisenhaften Störungen im Wirtschaftsablauf führen kann.
    Die Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate
    Überhaupt sind wohl die Krisentheorien Marx' wichtigste Beiträge zur Entwicklung der Volkswirtschaftslehre. Neben und eigentlich noch vor der Unterkonsumptionstheorie kommt dabei der Theorie vom "tendenziellen Fall der Profitrate", die im dritten Band des Kapital entwickelt wird, eine besondere Bedeutung zu. Die Profitrate, die wir heute Ertragsrate oder Rendite nennen - also den Gewinn im Verhältnis zum Einsatz von Kapital - , fällt nach Meinung von Marx im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung tendenziell auf ein immer niedrigeres Niveau, weil sich, wie schon erwähnt, die organische Zusammensetzung des Kapitals erhöht, also das Kapital schneller akkumuliert werden kann, als die Zahl der Arbeitskräfte wächst. Es wird also immer mehr Kapital pro Arbeiter angehäuft, aber nicht proportional mehr verdient.
    Marx prognostizierte, dass die fallende Profitrate irgendwann den Punkt erreichen müsse, an dem die Rendite für die Unternehmer zu gering sei, als dass sie neue Investitionen wagen würden. An diesem Punkt komme es zu einem Investitionsstreik, der die Wirtschaft in eine Krise stürze, weil der unterlassene Kauf von Investitionsgütern die Hersteller dieser Güter ebenfalls veranlasse, weniger Vorprodukte zu kaufen und es somit zu einer alle Wirtschaftsbereiche umfassenden Kettenreaktion komme, eben zur Krise.
    Diese Krisentheorie ist hochaktuell. Denn heute, 150 Jahre nach Marx, zeigen sich deutliche Anzeichen für langfristig fallende Kapitalrenditen. Bekanntlich krebsen die Zinsen nun schon seit Jahren in der Nähe von Null herum, und Teile der Welt, so Süd- und Westeuropa sowie Japan, scheinen von einer nicht enden wollenden Krise erfasst zu sein.
    Manche Ökonomen, so zum Beispiel Carl Christian von Weizsäcker aus Bonn oder auch Lawrence Summers, der ehemalige Finanzminister der USA, interpretieren die fallenden Zinsen und die langwährende Krise, in der sich die westliche Welt seit dem Jahr 2008 befindet, als "Säkulare Stagnation". Das ist ein Begriff, der von Alvin Hansen, einem Zeitgenossen von Keynes - vermutlich auch unter dem Einfluss von Marx - schon in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt wurde. Die These von der Säkularen Stagnation besagt, dass die Menschheit bereits zu viel investiert hat, so dass die Rentabilität der noch verbleibenden Investitionsprojekte nicht mehr hoch genug ist, um selbst nur einen sicheren Zins von Null verkraften zu können. Da ein Zins von Null in einer Geldwirtschaft nicht leicht unterschritten werden kann, droht der Investitionsstreik mit einem ewigen Siechtum, wenn nicht einer Dauerkrise.
    Das alles ist der Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate, wie sie Marx entwickelt hat, sehr ähnlich, nur dass die modernen Autoren als Konsequenz nicht den Systemwechsel, sondern eine nachfragestimulierende staatliche Budgetpolitik fordern. Wenn die private Investitionsgüternachfrage unzureichend ist, solle der Staat in die Bresche springen, indem er die gesamtwirtschaftliche Nachfrage durch kreditfinanzierte Staatsausgaben so weit erhöht, dass die fehlende Investitionsnachfrage kompensiert wird. Von Weizsäcker argumentiert, dass eine nach dem Umlagesystem konstruierte Rentenversicherung, die, wie man zeigen kann, eine versteckte Staatsverschuldung ist, sowie auch andere Schattenhaushalte, mit Hilfe derer sich die Schuldenschranken der EU umgehen lassen, dabei nützliche Nachfragedienste leisten können. Stets wird der Konsum zukünftiger Generationen zugunsten gegenwärtiger Generationen gesenkt, was nach seiner Meinung die heutigen Nachfragedefizite ausgleichen könne. Und Summers redet einer Überwindung oder Abschaffung gesetzlicher Schuldengrenzen das Wort.
    Das Bargeld und das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate
    Die Theorie der Säkularen Stagnation hat insbesondere auch bei der Europäischen Zentralbank, der EZB, viel Anklang gefunden, sei es, weil sie die Wirtschaft beleben will, sei es, weil sie Interesse an einer Politik hat, die der mandatswidrigen Rettung überschuldeter Banken und Firmen in Südeuropa dient. Der EZB‑Rat, das Entscheidungsgremium, hat den Zins auf Einlagen, die die Banken bei ihren nationalen Notenbanken unterhalten, bereits vor einiger Zeit in den negativen Bereich gedrückt und dadurch erreicht, dass auch die Zinsen auf dem Interbankenmarkt negativ wurden. Und am liebsten würde er diese Politik wohl noch weiter intensivieren und noch stärker in den negativen Bereich gehen. Das Problem ist nur eben das Bargeld. Wegen dessen Existenz lassen sich die Zinsen nur bis zur Höhe der Tresorkosten negativ machen, denn die Sparer würden ihr Geld lieber bei sich halten, als es zu verleihen, wenn der Negativzins die Tresorkosten übersteigt. Die Tresorkosten sind deshalb in einer Geldwirtschaft die Grenze, bis zu der die Zentralbank den Zins negativ machen kann.
    Außenansicht des EZB-Neubaus in Frankfurt in der Abenddämmerung. Hinter einem langgestreckten Gebäude erhebt sich ein gewundener Turm.
    Die Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main. (dpa / Boris Roessler)
    Schon heute scheint der Negativzins an dieser Grenze angekommen zu sein. Große Anleger wie Banken und Versicherungen, die die Möglichkeit haben, Bargeld zu relativ niedrigen Kosten pro Euro zu halten, horten gewaltige Geldbestände, um den negativen Zinsen zu entkommen. Es gibt einzelne Banken, die hinter vorgehaltener Hand bekunden, dass sie 500‑Euro‑Geldscheine im Umfang von weit über zehn Milliarden Euro in riesigen Lagerstätten aufbewahren. Die Nachfrage der Banken und Kapitalsammelstellen nach Bargeld ist mittlerweile so groß geworden, dass sogar Schweizer Bergwerkstollen eingesetzt werden, um Geldscheine zu lagern.
    Dem EZB‑Rat sind diese Ausweichmanöver ein Dorn im Auge. Um sie zu erschweren, hat er im Jahr 2016 beschlossen, die 500‑Euro‑Geldscheine allmählich aus dem Verkehr zu ziehen. Und wenn das nicht reicht, kann er die 200‑Euro‑Scheine auch noch abschaffen und die Lagerung von 100‑Euro‑Geldscheinen erzwingen, was die Tresorkosten abermals verdoppeln würde. Ja, auch an eine völlige Abschaffung des Bargelds ist perspektivisch zu denken, um jegliche Schranke für negative Zinsen zu beseitigen.
    Entwertung und Schöpferische Zerstörung
    Die Marxsche Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate hat mit der Null- und Negativzins‑Politik der EZB neue Relevanz bekommen. Die Profitrate des Kapitals ist derzeit offenbar so stark gesunken, dass die Firmen nur noch zu Investitionen verführt werden können, wenn man härteste Mittel wählt und ihnen das Geld beinahe hinterherwirft, ja, sie irgendwann sogar dafür bezahlt, dass sie das Geld leihen und investieren. Dennoch wäre es überzogen, Marx für die EZB‑Politik in Anspruch nehmen zu wollen, denn erstens hat er sich über Geldpolitik nicht ausgelassen und zweitens sprach er ja nur vom "tendenziellen" Fall der Profitrate. Letzteres tat er deswegen, weil er beständige Gegenkräfte gegen diesen Fall am Werke sah, die den Rückgang der Kapitalrendite temporär unterbrechen und aufheben können. Dabei kommt seiner Theorie von der Entwertung des Kapitals eine besondere Bedeutung zu.
    Mit Entwertung meint Marx zunächst einmal eine ständige relative Entwertung in Relation zum Arbeitswert, die durch technischen Fortschritt zustande kommt, kurzum produktivitätsgetriebene Lohnsteigerungen. Darüber hinaus spricht er aber immer wieder von der krisenbedingten Entwertung des Kapitals. Die Entwertung des Kapitals treibt die Profitrate automatisch wieder in die Höhe, weil sie den Nenner des Quotienten aus Profiten und Kapitalwert senkt. Sie tut es aber auch deshalb, weil sie dem technischen Fortschritt in Form neuer, innovativer Unternehmen den Weg ebnet und diesen Unternehmen die Möglichkeit bietet, auf den Ruinen alter, in Konkurs gehender Firmen neue Unternehmungen zu starten, die die Maschinen und Gebäude sehr billig aus der Konkursmasse erwerben können. Die Rentabilität des Kapitals wird also durch die Vernichtung alten Kapitals wiederhergestellt.
    Orangefarbener Produktionsroboterarm, im Hintergrund ein Regal mit Kunstobjekten aus Holz.
    Innovative Unternehmen können laut Marx aus den Ruinen alter Firmen hervorgehen. (dpa/picture alliance/Ole Spata)
    Diese Sicht der Dinge ist später vom österreichischen Ökonomen Joseph Schumpeter vertieft worden, der 1912 dazu seine "Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" veröffentlichte und noch viel später, während des zweiten Weltkriegs, in den USA sein Buch "Capitalism, Socialism and Democracy" schrieb, das danach auch ins Deutsche zurückübersetzt wurde. Schumpeter prägte dort den Begriff der "Schöpferischen Zerstörung", um den Neuanfang auf den Ruinen alter Industrien zu beschreiben.
    Das sind äußerst wichtige Zusammenhänge, die in der modernen Theorie der Wirtschaftsblasen weiterentwickelt wurden. Eine Blase entsteht zumeist durch leicht verfügbaren Kredit, der übermäßige Investitionen ermöglicht. Dabei handelt es sich vornehmlich, doch nicht allein um Immobilieninvestitionen, die bekanntlich sehr viel Kapital absorbieren. Die Investitionen treiben die Preise der Altbestände an Immobilien hoch und beleben die Bauwirtschaft, was selbst wiederum die Beschäftigung und die Löhne erhöht.
    Wachsende Löhne bedeuten eine zusätzliche Nachfrage nach lokalen Dienstleistungen und Gütern, die den Nachfrageimpuls auf den Rest der Wirtschaft ausdehnen und auch dort Lohnsteigerungen induzieren. Angesichts der allgemein wachsenden Einkommen trauen sich die Leute, noch mehr Geld in Immobilien zu investieren, und angesichts der beobachtbaren Preissteigerungen bei den Immobilien glauben sie auch, dass sich das lohnt. Doch irgendwann kommen den ersten Investoren Zweifel. Sie treten auf die Bremse, und wenn andere das merken und sich der Zweifel verstärkt, entsteht eine negative Kettenreaktion mit sehr rasch fallenden Immobilienpreisen und Aktienkursen, die eine Massenarbeitslosigkeit erzeugen. Das ist die Krise, die Marx und Schumpeter so treffend beschrieben haben.
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Eine Bauruine in Spanien als Mahnmal der Immobilienkrise. (picture alliance / dpa)
    Die Krise ist schmerzhaft, doch liegt in ihr auch schon wieder der Keim des neuen Aufschwungs, weil die Preise der Immobilien, Kapitalgüter und Aktien wieder auf das normale Maß zurückführt wurden. Bei den niedrigen Preisen und den nun wieder hohen Renditen bzw. Profitraten lohnt sich die Investition wieder, und das Wachstum der Wirtschaft beschleunigt sich von neuem. Soweit zur normalen Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft.
    Die zweifelhafte Rolle der Zentralbanken
    Die Schöpferische Zerstörung, die den Keim des neuen Aufschwungs legt, wird heute allerdings von den Zentralbanken der Welt verhindert, indem sie die Zinsen so tief und die Vermögenswerte durch den Kauf von Wertpapieren so hoch halten, dass die Blasen nicht mehr platzen, bzw. wenn sie platzen, die Rückkehr der Vermögenswerte auf ihr Normalniveau verhindert wird. Zombie‑Banken und mit ihnen ihre Zombie‑Kunden aus der Realwirtshaft, also Einrichtungen, die eigentlich nicht mehr wettbewerbsfähig sind, werden so am Leben gehalten, verharren wie lebende Tote aktivitätslos in ihren Positionen und halten die Plätze besetzt, die nun eigentlich junge Unternehmer mit neuen Produkten einnehmen müssten. Eine harte Krise wird damit zwar vermieden, doch rutscht die Wirtschaft stattdessen in ein schleichendes Siechtum und eine Dauerkrise.
    Aus dem nur tendenziellen Fall der Profitrate wird ein durch die Geldpolitik administrierter Rückgang, der in einem schleichenden Siechtum endet. Dieses Siechtum sieht aus wie eine Säkulare Stagnation mit fallenden Profitraten, die aufgrund der Erschöpfung der Investitionsmöglichkeiten zustande kommt, sie ist aber in Wahrheit durch eine an Partikularinteressen orientierte Zentralbankpolitik entstanden, die die Rückkehr der Vermögenswerte auf ihr Gleichgewichtsniveau verhindert.
    Die ultralockere Geldpolitik droht zur Verkrustung des Kapitalismus und auf dem Wege ausufernder Rettungsaktionen direkt in die diktatorische Staatswirtschaft zu führen, denn sie geht mit einer Grenzüberschreitung durch die Zentralbanken einher. Durch diese Maßnahmen betreibt die Europäische Zentralbank eine regionale Investitionslenkung zugunsten der Standorte in Südeuropa, die fatal an die Verwaltung des gesellschaftlichen Produktionsfonds im Neuen ökonomischen System der Planung und Lenkung der Volkwirtschaft der DDR erinnert.
    Das alles ist in höchstem Maße besorgniserregend. Im Endeffekt könnte sich Marx' Behauptung, der Kapitalismus werde am Fall der Profitrate zugrunde gehen und dem Sozialismus den Weg ebnen, auf diese Weise doch noch irgendwie bewahrheiten, wenn auch auf andere Weise, als Marx es sich selbst gedacht hatte.