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Recht und Rechte
Gedanken zu einer neuen Revolution

Warum führen Menschenrechte, wenn sie etabliert werden, zu einer Gesellschaft, der eine kapitalistische Ökonomie zugrunde liegt? Ist das Zufall oder hängt das mit der Form der Rechte zusammen? Wie sich diese im Laufe der Zeit entwickelt haben und welche Perspektiven sich ergeben, hat Christoph Menke, Professor für Philosophie in Frankfurt am Main, untersucht.

Von Annette Wilmes | 21.12.2015
    Der Begriff Recht im objektiven Sinn benennt die gesetzlich geregelte Ordnung. Wenn man subjektiv von Recht spricht, dann meint es die Ansprüche des Einzelnen. Recht als Ordnung oder Recht als Anspruch, im Englischen ist das leichter zu unterscheiden: "Law" für das eine und "Rights" für das andere. Christoph Menke beginnt sein Buch mit dieser Unterscheidung, um die These zu begründen, dass sich durch die Moderne das Verhältnis zwischen diesen beiden Ideen radikal verändert hat.
    "Dass wir fast von einer Revolution im wörtlichen Sinn, von einer Umkehrung der Verhältnisse reden können. Das ist nicht mehr so, dass wir starten mit einer Idee, was ist eine gerechte Ordnung, und daraus leiten wir dann ab, was der Einzelne bekommen kann. Sondern wir haben bestimmte Vorstellungen, was der Einzelne zu bekommen hat und bauen daraus dann die Ordnung auf."
    Traditionell war der Sinn von Gesetzen, Gebote zu formulieren. Sie gaben vor, was der gerechte Mensch zu tun und zu lassen hat. Gesetze im modernen Sinn, schreibt Menke, schreiben nicht mehr vor, gerechte Dinge zu tun. Sie grenzen vielmehr gleiche Zonen ab, in denen jeder tun kann, was er will. Das Gesetz ist nicht mehr an die Gerechtigkeit gekoppelt.
    "Wenn ich ein Eigentumsrecht zum Beispiel habe, kann ich mit diesem Eigentum umgehen, wie ich will. Ob Sie dann gleichzeitig mein Eigentum gebrauchen können, ob es eigentlich gerecht wäre, wenn ich Ihnen dann einen Zugriff darauf gewährleisten würde, spielt gar keine Rolle. In meiner Zone, in meiner kleinen Zone, die mir gehört, kann ich tun, was ich will."
    Die Grundfigur des modernen Rechts ist die Erlaubnis
    Christoph Menke erklärt die Entwicklung der Rechte über drei Orte: Athen, Rom und London. Mit diesen Orten sind auch Namen verbunden, Aristoteles, Cicero und Thomas Hobbes. In Athen gab es die Vorstellung, dass das Recht eine erzieherische Funktion haben sollte. In Rom sah man das bereits nüchterner, das Recht sollte eher repressiv wirken, die Rechte sollten die schlechte Natur des Menschen unterdrücken. Aber die Gerechtigkeit spielte immer noch eine Rolle, so Menke. Und das sei eben in der Moderne - beginnend mit London und Thomas Hobbes - ganz anders:
    "Das trennt das souveräne Recht in London vom sittlichen Recht in Athen ebenso wie vom imperativen in Rom: Es geht mit dem Bewusstsein einher, dass es in die Faktizität des natürlichen Strebens nicht eingreifen wollen kann. Gerade die sich selbst begründende Normativität kann nicht sicherstellen, dass ihre Gründe geteilt werden. Denn das autonome Recht weiß, dass seine normative Ordnung bloß deshalb befolgt, ja errichtet wird, weil dies dem natürlich faktischen Streben dient. Und deshalb muss das autonome Recht das natürlich-faktische Streben freigeben. Das ist der zweite Sinn der modernen Form der Rechte: Sie erlauben – legalisieren – das natürlich-faktische Streben."
    Athen - Rom - London: Für Christoph Menke sind das keine Zeitangaben, es sind keine historischen, sondern geschichtsphilosophische Orte. So ist das Buch auch nicht chronologisch geschrieben. In vier großen Kapiteln widmet sich Menke der Legalisierung des Natürlichen, dem Materialismus der Form, der Ermächtigung des Eigenen, und der Dialektik des Urteilens. Die Grundfigur des modernen Rechts ist die Erlaubnis, schreibt Menke und beruft sich auf Hegel. Es soll den Menschen erlauben, was immer sie wollen, wenn sie nur bestimmte Grenzen nicht überschreiten. Und so kann auch Willkürherrschaft entstehen.
    "Das ist dann das große Problem, das glaube ich vor allem die Rechtssoziologen des 19. Jahrhunderts sehr scharfsinnig analysiert haben, man muss nicht nur an Marx denken, man kann auch an Durkheim oder Weber denken, die haben dann versucht zu zeigen, dass dieses neue Verständnis des Rechts die Bedingung dafür ist, dass sich bestimmte neue Formen des Wirtschaftens ausbilden, die wir eben Kapitalismus nennen. Also die Grundfigur ist, wenn ich der Eigentümer eines bestimmten Kapitals bin, dann ist mir dadurch erlaubt, in Vertragsbeziehungen mit meinen Arbeitern einzutreten, in denen die dann für mich arbeiten müssen. Das heißt, es werden Herrschaftsverhältnisse neuen Typs erlaubt."
    Hoffnung auf "ein anderes Recht"
    Das ist die Ausbeutungsform, von Karl Marx ausführlich beschrieben. Diese Gestalt des bürgerlichen Rechts ist jedoch noch nicht das Ende der Entwicklung des modernen Rechts, das hofft Christoph Menke jedenfalls. Seine Hoffnung tauft er "ein anderes Recht", das eben nicht notwendigerweise in einer Gesellschaft mündet, die kapitalistisch ausgerichtet ist. Seine Vorstellung von diesem "anderen Recht" ist allerdings noch sehr abstrakt. Die bürgerlichen Rechte sind "Eigenrechte", denen die "Gegenrechte" gegenüberstehen. Die sollen gewissermaßen ein Schutz des Individuums sein, das zwar politischer und sozialer Teilnehmer ist. Die Teilnahme soll jedoch freiwillig und nicht zwingend sein, das sollen die "Gegenrechte" ermöglichen.
    "Eine neue Revolution der Rechte, die mit ihrer bürgerlichen Form bricht, muss ihren Positivismus überwinden: Sie muss die Selbstreflexion des modernen Rechts dialektisch vollziehen. So etabliert sie ein neues Recht. Sein Grund ist die Dialektik von Aktivität und Passivität im politischen Urteilen: Das neue Recht ist das Recht der Gegenrechte."
    Christoph Menke hat sein Buch "Kritik der Rechte" auf hohem Abstraktionsniveau geschrieben. Beispiele hätten die Lektüre erleichtert, aber Christoph Menke verzichtet darauf, aus gutem Grund, wie er meint. Denn über Konsequenzen zu reden, die sich aus seinen abstrakten Überlegungen ergeben - dafür sei es noch zu früh, das hätte den Rahmen des Buches gesprengt.
    Kein Buch über Recht, sondern über Rechte
    Das Buch ist keines über Recht, sondern über Rechte. So hat Menke sich nicht etwa dem Verfassungsrecht oder dem Strafrecht gewidmet, sondern er denkt über den Begriff des Privatrechts nach, das das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger untereinander reguliert.
    Christoph Menkes Buch ist auch keine Gesellschaftskritik, kann dazu aber eine Fülle von Materialien anbieten. Der Autor zitiert nicht nur Hobbes, Hegel, Marx, Durkheim und Weber, sondern viele andere bedeutsame Soziologen, Politologen, Philosophen, Rechtsphilosophen, Rechtshistoriker, Rechtssoziologen, Staats- und Verfassungsrechtler. Denn all diese Disziplinen sind für seine "Kritik der Rechte" von Bedeutung.
    "Man muss, denke ich schon, viel mehr als es, glaube ich, viele Philosophen tun, sich in diese konkreten Diskussionen einarbeiten, um hier nicht so vom hohen Rosse zu sagen, als Philosophenkönig mal so ein paar nachdenkliche Bemerkungen zu machen, sondern man muss was wissen."
    Wenn man das Buch von Christoph Menke gelesen hat, weiß man jedenfalls mehr über die Entwicklung bestimmter Gesellschaftsformen. Man stellt aber auch fest, wo das eigene Wissen lückenhaft ist und wo es sich lohnt, weiter zu lesen. Anregungen dafür gibt im Buch zur Genüge.
    Christoph Menke: "Kritik der Rechte", Suhrkamp 2015, 486 Seiten, 29,95 Euro