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Rita Indiana: "Tentakel"
Zwischen Ökothriller und Sozialstudie

Die Sängerin und Schriftstellerin Rita Indiana ist eine der schillerndsten Persönlichkeiten der Dominkanischen Republik. In ihrem Roman "Tentakel" gelingt es ihr, Science Fiction mit dominikanischer Geschichte sowie mit beißender Gesellschafts-, Religions- und Kunstkritik zu verbinden.

Von Eva Karnofsky | 27.06.2018
    Cover Rita Indiana: "Tentakel" und im Hintergrund ein Tropensturm
    Vissionen oder Wirklichkeit - Das Leben, ein Traum oder Alptraum (Cover: Klaus Wagenbach Verlag / Hintergrund: dpa / picture-alliance / Orlando Barria)
    Santo Domingo im Jahr 2027. Auf der Straße töten Roboter mit Giftgas illegal eingereiste Haitianer, die an einem Virus erkrankt sind. Sie zerlegen sie und transportieren sie ab. Gleich zu Beginn ihres Romans Tentakel hält Rita Indiana damit ihren Landsleuten den Spiegel vor: Die Menschen aus dem noch ärmeren Nachbarland Haiti sind in der Dominikanischen Republik bei den wenigsten willkommen und man wünscht ihnen nicht das Beste. Doch nicht nur in der Dominikanischen Republik sind arme Einwanderer unbeliebt. Gesellschaftliche und politische Zuspitzungen dieser Art ziehen sich durch den gesamten Roman, dennoch handelt es sich keinesfalls um eine Science-Fiction-Satire, sondern um ein raffiniert konstruiertes Buch, das nicht nur in der nahen Zukunft, sondern auch in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, sowie Anfang dieses Jahrtausends spielt und sogar bis ins 17. Jahrhundert zurückgreift. Ein Land wird seine Geschichte nicht los, und kein Mensch kann der Geschichte seines Landes entkommen, das ist die Botschaft, die die Autorin damit vermitteln will.
    Hauptfigur Acilde ist Tochter einer Prostituierten und eines Freiers und hat selbst als Prostituierte gearbeitet, bis Esther das junge Mädchen als Dienstmädchen engagiert. Esther ist eine berühmte Priesterin des in der Karibik sehr verbreiteten afrikanischen Santería-Kultes, der im Buch sogar zur Staatsreligion wurde. Die Santería verstellt den Blick für das Wesentliche, sie lenkt die Menschen von den Problemen ab und stellt sie damit ruhig.
    Acilde möchte lieber ein Mann sein und träumt von Rainbow Bright,
    "Einer Injektion, die in den Kreisen unabhängiger Wissenschaftler bereits angewendet wurde und eine komplette Geschlechtsumwandlung ohne jeden chirurgischen Eingriff versprach. Die Wirkung des Umwandlungsverfahrens wurde mit den Entzugserscheinungen bei Heroinabhängigen verglichen, wenngleich die mittellosen Transsexuellen, die als Versuchskaninchen gedient hatten, ihn als tausendmal schlimmer beschrieben. Trotzdem dachte Acilde von diesem Moment an nur noch an die fünfzehntausend Dollar, die das Zeug kosten sollte. Sie musste Geld machen."
    Geschlechtsumwandlung und doppelte Identität
    Als Acilde erfährt, dass eine Seeanemone, die sich die Priesterin für ihre religiösen Riten hält, auf dem Schwarzmarkt ein Vermögen wert ist, beschließt sie mit einem Freund, das Blumentier zu stehlen. Entgegen der Abmachung erschießt der Freund die Priesterin, die Acilde zuvor noch vorhergesagt hatte, sie werde einmal das Land retten. Nach dem Diebstahl unterzieht sich Acilde der ersehnten Geschlechtsumwandlung. Erst als Mann wird sie ihre Talente nutzen und damit zu Geld und Einfluss kommen können, wie, soll hier nicht verraten werden.
    In einem zweiten, mit dem ersten kapitelweise alternierenden Erzählstrang begegnet der Leser Agenis, einem jungen Maler, und erst am Ende schlüsselt die Autorin auf, was ihn mit Acilde verbindet und warum sie von ihm erzählt. Der Sohn eines einflussreichen Politikers ist zwar begabt, seine Kokainsucht bringt ihn jedoch um die Karriere. Ganz unten angekommen, sind der reiche italienische Sternekoch Giorgio und seine Frau Linda Argenis' letzte Rettung. Das Ehepaar betreibt am Playa Bo, einem der wenigen noch nicht von Ökokatastrophen verseuchten Strände der Dominikanischen Republik, eine Künstlerkolonie und lädt den Maler ein, ein halbes Jahr lang bei ihnen unterzukommen und zu arbeiten. Linda versucht zudem, ein Korallenriff vor der vollständigen Vernichtung zu bewahren.
    Die Seeanemone verhilft Acilde dazu, zum Mann zu werden. Obendrein verdoppelt sie sich und der Leser trifft sie nicht nur in der nahen Zukunft, sondern auch in einem Gefängnis des Jahres 2001. Agenis bekommt nach dem Kontakt mit einer Seeanemone beim Tauchen ebenfalls eine zweite Identität. In seinen Träumen befindet er sich zwar weiterhin in Playa Bo, aber zur Zeit der Bukaniere. Diese Freibeuter meist französischer Herkunft wanderten Anfang des 17. Jahrhunderts auf Hispaniola ein, der Insel, die heute die Länder Dominikanische Republik und Haiti beherbergt. Die Bukaniere machten Jagd auf Rinder.
    "Der Unfug zog sich ganz offenbar hin, und es gab keine Möglichkeit, ihn abzuschalten. ... Handelte es sich um eine Inkarnation seiner selbst in der Vergangenheit? Um Schizophrenie? Hexerei?", rätselt der junge Maler, den die Träume bis ins Mark erschüttern.
    Verrohung der Gesellschaft
    Rita Indiana schreibt in einer oft drastischen und sexualisierten Sprache, sowie auch ihre Botschaften drastisch sind. Die Verrohung der Gesellschaft ist überall spürbar, und die Autorin treibt sie verschiedentlich auf die Spitze. Diese Verrohung hat Tradition, denn das Land wurde von Freibeutern geprägt. Politische Sünden wie die gnadenlose Ausbeutung der Dominikanischen Republik durch den Billig- und Prostitutionstourismus oder Umweltfrevel sind unumkehrbar und bestimmen das Leben jedes Einzelnen.
    Rita Indiana ist auch in der Sprache der modernen Technologie zuhause, doch ihre Erzählfreude, die sprühende Phantasie und die Schachtelstruktur ihres Romans stehen fest in lateinamerikanischer Tradition – "Tentakel" erinnert an wichtige Werke der Sechzigerjahre wie Gabriel García Márquez "Hundert Jahre Einsamkeit".
    Rita Indiana: "Tentakel"
    Aus dem dominikanischen Spanisch von Angelica Ammar
    Wagenbach Verlag, Berlin 2018. 160 Seiten, 18 Euro