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Robert Menasse: "Die Hauptstadt"
Ein Europa-Bild als Hologramm

Europäische Politintrigen, das europäische Auschwitz-Trauma, eine europäische Liebesgeschichte – und ein deutscher Querulant: Das ist der Stoff aus dem Robert Menasses neuer für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman "Die Hauptstadt" gemacht ist. Es ist der weltweit erste EU-Roman.

Von Katharina Teutsch |
    Buchcover von Robert Menasse: Die Hauptstadt
    "Die Hauptstadt": Ein Roman über Machtmenschen und ihre Intrigen (Suhrkamp / dpa/Arno Burgi)
    Kein geringerer als Robert Musil steht Pate, wenn in Robert Menasses neuem Roman ein politisches Großereignis begangen wird. Die Europäische Kommission wird 50. Jene supranationale Regierung also, von der sich niemand in Europa so recht ein Bild machen kann – oder will. Denn die Kommission ist eine durchaus schillernde Institution, dazu angetan, eines Tages die Nationalregierungen überflüssig zu machen. Nur nimmt dies niemand so richtig zur Kenntnis. Über den Dauervorwurf des Demokratiedefizits bei gleichzeitigem Regulierungswahn hat Robert Menasse sich in seinen Essays immer wieder geäußert. "Die Hauptstadt" dramatisiert nun das für viele als sperrig empfundene EU-Thema: das Durcheinander von Sprachen, Verhandlungsstilen und Verordnungs-Dada.
    Die EU dramatisiert
    Ausgangspunkt der Handlung ist das Kommissions-Jubiläum, das in einer Art musilscher "Parallelaktion" als Konkurrenzveranstaltung zu den selbstvergewissernden Aktivitäten der Nationalregierungen begangen werden soll. Es will ein Paukenschlag sein, nicht ein Schluckauf der Geschichte. So jedenfalls sieht es Martin Susman, Sohn eines österreichischen Schweinebauern, Bruder eines Schweinelobbyisten, Referent im Dienst der Generaldirektion Kultur. Diese wird geleitet von der Zypriotin Fenia Xenopoulou. Diese ehrgeizige junge Frau verdankt ihre Karriere unter anderem einem griechischen Pass, der ganz am Ende des Romans noch eine wichtige Rolle spielen wird. Ebenso wie Musils "Mann ohne Eigenschaften" eine Rolle spielen wird – dieser große europäische Roman über den Zerfall einer alten Ordnung. "Der Mann ohne Eigenschaften", so bringt Fenia Xenopoulou nämlich in Erfahrung, sei das Lieblingsbuch des Kommissionspräsidenten. Also liest sie es. Und liest sich fest.
    "Sie blätterte ungeduldig weiter, übersprang ein Kapitel. Sie verstand das nicht: Da ging es – zumindest bis jetzt – gar nicht um politische Entscheidungen. Sondern um die Liebe. Das Ganze war aus dem Blickwinkel einer Frau geschrieben, die diesen Mann liebte. Aber der Name der Frau kam in dem Wikipedia-Eintrag des Mannes nicht vor. Und es war auch nicht klar, ob sie ihn wirklich liebte, also bis jetzt war das noch nicht klar. ... Es kamen Intrigen vor und neckische Spielchen, Kämpfe mit politischen Konkurrenten, aber letztlich – Fenia blätterte weiter, las, immer ungeduldiger, eine Seite, blätterte zehn weiter – letztlich lief es auf die Liebe hinaus - beziehungsweise darauf, wie bedeutungslos politische Macht wurde, wenn es um die Macht der Liebe ging. Konnte man das so sagen? Das war doch verrückt. Romane sind verrückt!"
    Der "Mann ohne Eigenschaften" steht Pate
    Ein Bildungsromanerlebnis könnt man fast sagen, doch so dick trägt Robert Menasse dann doch nicht auf. Allenfalls wird eine Analogie im Politischen zwischen den beiden Büchern hergestellt. Will heißen: Hier geht’s um was! Die europäischen Nationen stehen nämlich gewissermaßen vor dem gleichen Veränderungsdruck wie die K.u.K.-Monarchie seinerzeit. Ansonsten wird hier keiner durch die Literatur initiiert, nur irritiert. Und Xeno, wie Fenia Xenopoulou von ihren Mitarbeitern etwas spöttisch genannt wird, ist irritierbar. Mit der Übertragung des Kulturressorts ist die Vierzigjährige alles andere als glücklich. Es verhält sich mit ihrer Karriere als Leiterin der Generaldirektion Kultur nämlich so:
    "Die Kultur war ein bedeutungsloses Ressort, ohne Budget, ohne Gewicht in der Kommission, ohne Einfluss und Macht. Kollegen nannten die Kultur ein Alibi-Ressort - wenn es das wenigstens wäre! Ein Alibi ist wichtig, jede Tat braucht ein Alibi! Aber die Kultur war nicht einmal Augenwischerei, weil es kein Auge gab, das hinschaute, was die Kultur machte. Wenn der Kommissar für Handel oder für Energie, ja sogar wenn die Kommissarin für Fischfang während einer Sitzung der Kommission auf die Toilette musste, wurde die Diskussion unterbrochen und gewartet, bis er oder sie zurückkam. Aber wenn die Kultur-Kommissarin rausmusste, wurde unbeeindruckt weiterverhandelt, ja es fiel gar nicht auf, ob sie am Verhandlungstisch oder auf der Toilette saß. Fenia Xenopoulou war in einen Aufzug gestiegen, der zwar hochgefahren, aber dann unbemerkt zwischen zwei Stockwerken stecken geblieben war."
    Martin Susman, der Melancholiker mit dem Schweinebauernbackground, nennt das Kulturressort wiederum nur die "Arche Noah".
    Denn: "eine Arche hat kein Ziel. Sie schlingert über die Strömungen, schaukelt auf den Wogen, trotzt den Stürmen und will nur eines: sich selbst und das, was sie an Bord führt, retten."
    Als Leiter der Abteilung "Kommunikation" ist er für das sogenannte Jubilee Project, den Kommissionsgeburtstag zuständig. Auf einer Dienstreise nach Polen kommt ihm dazu die zündende Idee. Auschwitz muss den Mittelpunkt der Feierlichkeiten bilden. Die Überlebenden des KZs sollen der Kommission ein Gesicht verleihen und gleichzeitig eine moralische Mission. Was ist der unique selling point der Kommission? Natürlich! Es ist ganz einfach: ihr Anspruch, die Nationalinteressen zu zähmen.
    "Das ist die Idee! Die Überwindung des Nationalgefühls. Wir sind die Hüter dieser Idee! Und unsere Zeugen sind die Überlebenden von Auschwitz! Die Überlebenden sind nicht nur Zeugen der Verbrechen, die in den Lagern begangen wurden, sie sind auch die Zeugen der Idee, die daraus entstanden ist, der Idee, dass es erwiesenermaßen etwas Gemeinsames gibt ... Das müssen wir klarmachen: dass wir die Institution dieses Anspruchs sind. Die Hüter dieses ewig gültigen Vertrags. Nie wieder – das ist Europa! Wir sind die Moral der Geschichte!"
    Auschwitz muss in den Mittelpunkt der Feierlichkeiten
    Es braucht nicht viel Fantasie, um vorauszusehen, dass die Idee, dem europäischen Bürokratismus mit Moral beizukommen, zum Scheitern verurteilt ist. Denn der Europäische Rat als Repräsentant der EU-Länder ist mächtig, das Jubilee Project ein Affront gegen alle Nationalinteressen und ein Unruhefaktor innerhalb des europäischen Institutionengeflechts. Nicht einmal der Kommissionspräsident, der das Projekt offiziell unterstützt, ist an seiner Realisierung interessiert. Und nun erzählt Robert Menasse die Farce einer unerhörten Projektabwicklung. An Komik ist dies kaum zu überbieten. Und ja, es darf sogar gelacht werden beim Thema Auschwitz. Doch dazu später. Der Roman hat nämlich noch ein paar andere Handlungsebenen, die zwar alle auf Auschwitz zulaufen, jedoch aus verschiedenen Perspektiven. Da wäre zum Beispiel ein mysteriöser Kriminalfall gleich zu Beginn des Buchs. Ein Mann unbekannter Herkunft wird im Hotel Atlas durch einen Genickschuss getötet. Der beleibte Kommissar Brunfaut mit dem Naturell eines Dichters übernimmt die Ermittlungen.
    "Der Täter hatte allem Anschein nach im Zimmer nichts gesucht, nichts geraubt. Die vorgefundene persönliche Habe des Opfers lieferte keinen Hinweis auf dessen wahre Identität oder gar auf ein mögliches Motiv. Es gab keine Auffälligkeiten, ausgenommen ein Schwein. Ja, ein Schwein. Mehrere befragte Personen, die sich etwa zur Tatzeit in der Nähe des Hotels Atlas aufgehalten hatten, so wie einige Anrainer, gaben an, dass ihnen ein frei laufendes Schwein vor dem Hotel aufgefallen sei."
    Ein Schwein also ist der einzige Zeuge einer Tat, die schon kurz nach ihrer Feststellung aus den Datenbanken der Brüsseler Polizei entfernt wird. Der Atlas-Mord hat nie stattgefunden. Die Leiche ist verschollen. Nur das Schwein bleibt dem Roman als eine Art Dingsymbol erhalten. Vom Glücksschwein bis zur Drecksau, vom Nazischwein bis hin zur Judensau lässt Robert Menasse alle Konnotationen anklingen, ohne das dubiose Tier für seine Geschichte zu vereindeutigen. Es ist bloß so: Das Schwein ist anscheinend da. Die Leiche fehlt. Und wo auch immer nun Kommissar Brunfaut sein Passwort ins Polizeisystem eingibt, erwartet ihn gähnende Leere.
    Es scheint buchstäblich keine Sau mehr zu interessieren, was mit dem Atlas-Fall ist. Brunfauts Chef ist ein Karrierist. Dass er den schönen Namen Maigret trägt, ist bloß eine Sottise der Geschichte, wie überhaupt vieles in diesem Roman. Doch Brunfaut lässt sich auch von opportunistischen Vorgesetzten nicht abschütteln. Gemeinsam mit einem Kollegen von der IT begibt er sich auf vermintes Gelände. Wie Robert Menasse hier die absurdesten Verstrickungen von vatikanischen Todesschwadronen, europäischen Geheimdiensten und dem Kampf gegen den Terror zusammenführt und zwar so, dass sich daraus ein stimmiges Bild ergibt, ist meisterlich. Hier sei nun nicht mehr verraten, als dass auch in dieser "Geschichte in der Geschichte" ein Europa-Bild als Hologramm entsteht. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft: ein Flackern und Aufeinander-bezogen-Sein, das vielleicht der beste Ausdruck dessen ist, was Europa im Ganzen wohl ausmacht. Etwas nicht ganz Greifbares und doch Existierendes. Ein gemeinsames Trauma.
    Ein Roman über Machtmenschen und ihre Intrigen
    Das Jubilee Project nimmt unterdessen Form an. Eine Mitarbeiterin des Ressorts Kultur hat eine Liste mit Auschwitz-Überlebenden ausfindig gemacht. Und nun kommt nur noch ein einziger Mensch in Betracht, der zuletzt in Brüssel gemeldet war. David de Vriend heißt dieser Mann. Ein ehemaliger Lehrer, der seine letzten Tage in einem Altersheim gegenüber dem alten Soldatenfriedhof verbringt. Und der von dort aus auf sein Leben zurückblickt – während er seinen Anzug mit einer alten Bürste aus deutschem Rosshaar reinigt.
    "Er ist nicht nur einer der letzten Auschwitz-Überlebenden, er ist auch der letzte noch lebende Jude aus dem legendären 20. Deportationszug nach Auschwitz. Das war der einzige Deportationszug, der von Widerstandskämpfern überfallen, auf offener Strecke angehalten wurde. Mit Zangen zerschnitten sie den Draht, mit dem die Verriegelungen der Viehwagontüren gesichert waren, schoben die Türen auf und riefen den Juden zu, sie sollen rausspringen und fliehen. Wer sprang, bekam 50 Franc und eine sichere Adresse zugesteckt. Die meisten hatten Angst, sie fürchteten, von den Deutschen erschossen zu werden, wenn sie zu flüchten versuchten. Sie blieben im Zug, der nach einem kurzen Schusswechsel der SS-Wachmannschaft mit den Widerstandskämpfern die Fahrt fortsetzte. Alle, die nicht gesprungen sind, gingen sofort nach der Ankunft in Auschwitz ins Gas. Aber de Vriend war einer von denen, die aus dem Zug sprangen."
    Er schließt sich später der Widerstandsgruppe von Jean-Richard Brunfaut an, dem Großvater des Kommissars, und landet auf diese Weise dann doch noch im KZ. Doch David de Vriend wird sterben, noch bevor die Kommission ihn ins Zentrum ihrer Feierlichkeiten setzen kann. Nein, die Reihenfolge muss anders lauten: Das Jubilee Project stirbt, noch bevor David de Vriend gefragt werden kann, ob er ins Zentrum der europäischen Jubiläumsfeier gesetzt werden möchte. Denn Robert Menasse hat nicht nur einen Roman über Machtmenschen und ihre Intrigen geschrieben. Er hat vor allem ein Sittenbild des Politischen in Europa entworfen. Und die Überschrift dieses Sittenbildes lautet: "Moral ist kein politisches Programm!" Mit Moral lässt sich kein Staat machen und schon gar keiner überwinden. Politisches Denken hat etwas mit Idealismus zu tun. Politik aber mit Realismus.
    Spuren führen ins kollektive Gedächtnis Europas
    Die Kommission als Menetekel in Stellung zu bringen, heißt automatisch damit gegen die Interessen anderer Organe zu verstoßen. Und der korrupte oder zynische oder einfach nur realistische Kommissionspräsident überlässt das Projekt seiner Selbststrangulierung. Indem er nämlich den Rat und das Parlament einschaltet. Die Polen wollen mit Auschwitz nicht identifiziert werden, das sei Sache der Deutschen. "Warum die Juden? Warum nicht der Sport?" lautet der eingebrachte Einwand. Auch die Österreicher wollen ihre Nation nicht in Frage gestellt sehen durch ein deutsches Lager, das sich auf polnischem Territorium befand. Die Tschechen fühlen sich übergangen, ebenso die Slowenen, die sich in ihrer Ehre gekränkt fühlen. Die Deutschen wiederum heucheln, in Deutschland lebende Muslime könnten sich durch die Fokussierung auf das Schicksal der Juden in Europa ausgeschlossen fühlen. Fenia Xenopoulou merkt zu spät, dass sie gelinkt wurde:
    "Statt an einem Strang wurde nun an einem Knäuel von Fäden gezogen, maßgeblich wurden viele Interessen, statt das gemeinsame Interesse. Und schon wenige Tage später hatte sie, die so bestrebt war, Visibilité zu zeigen, nur noch den Wunsch, unsichtbar zu sein, alles bei Martin abzuladen – der ja schon im Lorenz Böhler Unfallkrankenhaus in Wien am Krankenbett seines Bruders saß."
    Florian Susman, der Bruder von Martin Susman, wurde in einen Autounfall verwickelt. Robert Menasse pinselt diese Episode am Rande seiner Geschichte, die sich zugleich am Rande der EU abspielt, nicht groß aus, er setzt nur einen Akzent – und schafft damit ein Denkbild. Auf dem Weg von Wien nach Ungarn gerät Florian Susman in einen Flüchtlingstreck. Hunderte von Menschen mit Rollkoffern kommen ihm auf der Autobahn entgegen. Da kommt ein Taxifahrer, der sein Geschäft mit solventen Flüchtlingen wittert, von hinten angerast. Eine Frau mit Kopftuch zieht Florian Susman aus dem brennenden Wrack, stabilisiert ihn, hält ihn wie die Heilige Jungfrau in ihren Armen. Eine Ikone, die Orient und Okzident für einen Augenblick miteinander verschmelzen lässt. Ein Pressebild, das um die Welt geht, und mit dessen Erschaffung Robert Menasse auch dieses Bild der Europäischen Union aufscheinen lässt: Viele Schicksale, ein Schicksal, die EU als Sehnsuchtsort. Kann es sein, dass dieses sperrige Staatenkonglomerat vor allem von außen schön wirkt?
    Das wirklich Meisterliche an Robert Menasses Roman ist seine Polyfonie, die er am Ende des Buchs in einem nicht ganz unpathetischen Gleichklang auflöst. Alle Spuren, selbst die des gelöschten Mordfalles, führen ins kollektive Gedächtnis Europas. Auf dem Soldatenfriedhof treffen sich die Pilger am Grab des Widerstandskämpfers Brunfaut, aber auch dessen Enkel Émile, der als Kommissar den Glauben an die rechtsstaatlichen Institutionen verliert. Auch der Holocaust-Überlebende David de Vriend geht an diesem symbolträchtigen Ort spazieren. Und dort erholt sich zeitgleich ein gewisser Alois Erhart. Es handelt sich bei diesem Mann um einen bekannten Historiker aus Wien, der Mitglied des "New Pact for Europe"-Think-Tanks ist. Er soll in Brüssel einen Vortrag halten. Doch aus dem geplanten Vortrag wird eine Brandrede, die den emotionalen Höhepunkt von Robert Menasses eigenem Think-Tank, dem Roman-Think-Tank bildet. Dieser Erhart nämlich spricht unpopuläre Wahrheiten aus.
    Eine Hauptstadt für die EU
    "Was auch immer diskutiert wurde, es führte zur Frage: Wie schaffen wir mehr Wachstum? Eingewachsene Zehennägel waren ein Problem von Wachstum, warf Erhart einmal ein und erntete nur Unverständnis, aber der allgemeine Vertrauensverlust in die europäischen Institutionen war Folge von mangelndem Wachstum, der bedrohliche Erfolg des Rechtspopulismus. Und wie konnte man mehr Wachstum generieren? Klar, durch mehr Liberalisierung. Statt der Union gemeinsame Regeln zu geben, sollte jeder Mitgliedstaat für sich möglichst viele Regeln abbauen."
    Dass mit dieser Form von Weisheit auch bei einem europäischen Wissenschaftsgipfel nichts zu gewinnen ist, muss Emeritus Erhart bald einsehen. Also bereitet er eine Rede vor, die so gehalten werden soll, als sei es seine letzte. Als Fanal! Er habe zu zeigen versucht, beginnt Erhart, dass eine moderne Demokratie keine Nationalökonomie mehr brauchen könne. Dass Europa zu einer Sozial- und Fiskalunion weiterentwickelt werden müsse, um den Rückfall in Rassismus und Populismus zu verhindern. Dass dazu mehr als Lippenbekenntnisse gehörten, sondern ein europäischer Pass nötig sei, gewissermaßen als symbolpolitisches Statement. Der Leser spürt, dass Robert Menasse seinen Helden erst warmlaufen lässt, um zum eigentlichen Coup vorzustoßen.
    "Die Europäische Union muss eine Hauptstadt bauen, muss sich eine neue, eine geplante, eine ideale Hauptstadt schenken. ... Eine neue Stadt, deren Errichtung die Leistung der Union ist, und nicht eine alte Reichs- oder Nations-Hauptstadt, in der die Union nur Untermieterin ist. ... ?"
    Und da bietet sich Professor Erhart zufolge eigentlich nur ein Ort in Europa an:
    "Erhart sah in die Runde. Gab es jemanden, der schon ahnte, was nun kommen würde? Dana lächelte und blickte ihn neugierig an. Stephanides schaute betont gelangweilt zum Fenster. Mosebach tippte etwas in seinen Laptop. Pinto sah auf die Uhr. Aber zehn Sekunden später starrten sie alle Erhart mit offenen Mündern an. Fassungslos. Dreizehn Sekunden später war Erhart, der renommierte Professor Emeritus, als Mitglied des Think-Tanks New Pact for Europe Geschichte. Er sagte: Und deshalb muss die Union ihre Hauptstadt in Auschwitz bauen."
    Man hört den leidenschaftlichen Europäer sprechen
    Da hört man nun auch den leidenschaftlichen Europäer Menasse sprechen. Immer wieder hat er sich für die Vision einer europäischen Sozialunion eingesetzt. Und auf einmal weiß man wieder, was auf dem Spiel steht! Man ist entsetzt über die zynischen Spielchen der Mächtigen, über die Ohnmacht der Wahrsprecher und über die Trägheit eines politischen Kolosses, der etwas orientierungslos vor sich hinschlingert. Erst die Flüchtlinge auf der Autobahn verweisen auf seine innere Kraft.
    Fenia Xenopoulous wird nach der Pleite ihres Jubilee Projects ein Ressortwechsel nah gelegt. Doch der Aufstieg in die mächtigere Direktion für Handel ist teuer erkauft. Sie soll ihren griechischen Pass, der das eigentliche Eintrittsticket für eine Karriere im Dienst der EU war, gegen einen zypriotischen eintauschen. Der Inselstaat wurde inzwischen nämlich Mitglied der Union. Und per Proporz steigen die Chancen für Fenia, einen repräsentativen Posten zu ergattern. Doch, wer hätte das gedacht: Fenia Xenopoulpou hat kein Herz aus Stein. Sie gerät in eine Identitätskrise, deren Exit möglicherweise die Liebe ist. Vielleicht wird doch noch etwas aus ihr und ihrem Kollegen Fridsch?
    Immer wieder liest man in diesem vielschichtigen Roman Musils "Mann ohne Eigenschaften" mit. Robert Menasse gelingt das Kunststück, das nicht prätentiös aussehen zu lassen. Die Fragestellungen und die geistigen Konstellationen sind in vielem mit der historischen Situation, die Musil beschreibt, vergleichbar. So ist der tschechische Referent der Kulturdirektion beispielsweise entsetzt über seine Schwester, die einen Faschisten heiratet. Die Szene ist gespiegelt in Ulrichs Freundschaft zur jüdischen Bankiers-Familie Fischel, deren Tochter Gerda zum Schrecken ihrer eigenen Eltern keine Liebschaft mit Ulrich, sondern mit einem Präfaschisten unterhält.
    Das Anfangskapitel aus "Der Mann ohne Eigenschaften" trägt die Überschrift: "Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht". Ist das Robert Menasses pessimistisches Verdikt über das politische Europa? Oder geht also doch etwas hervor, nur sehr viel langsamer und sehr viel unsichtbarer als es Not täte? Doch Robert Menasse ist kein Politiker. Er ist Romancier. Und deswegen glaubt er natürlich an den musilschen Möglichkeitssinn. Darin formuliert der Autor eines der größten europäischen Romanwerke folgenden Anspruch: Gedanken können den Wahrheitseffekt von Handlungen haben! Das Mögliche induziert das Geschehene. Das Geschehende reizt das Mögliche.
    Kein Mensch weiß am Ende dieses Romans, wie alles ausgehen wird. Nur ein Schwein glaubt in den Soldatengräbern herumwühlen zu müssen. Eine Schändung und eine Aufmischung, die Robert Menasse seinen Leserinnen und Lesern genüsslich zumutet.
    Robert Menasse: "Die Hauptstadt"
    Suhrkamp Verlag, Berlin
    Erschienen: 11.09.2017, fester Einband mit SU, 459 Seiten, 24,oo€
    ISBN: 978-3-518-42758-3