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Rüdiger Frank
Nordkorea. Innenansichten eines totalen Staates

Von Ralph Gerstenberg | 22.09.2014
    Rüdiger Frank, der als Professor für Wirtschaft und Gesellschaft Ostasiens an der Universität Wien lehrt, hat ein Buch über Nordkorea geschrieben, in dem er seine subjektiven Erfahrungen schildert.
    Die erste Reise nach Nordkorea im Oktober 1991 war für Rüdiger Frank ein Schock - oder wie er selbst schreibt: "Der Einstieg in eine fremde, bizarre, unwirkliche und oft auch frustrierende Welt." Die DDR, in die Frank 1969 hineingeboren wurde, hatte sich gerade selbst abgeschafft. Und der damalige Koreanistikstudent war dabei, sich kritisch mit seiner eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen.
    "Just zu dem Zeitpunkt komme ich nun in ein Land wie Nordkorea, wo sich in der Hinsicht überhaupt nichts getan hatte. Dazu muss man sagen, dass auch im Vergleich zur stabilen DDR in den 80er-Jahren Nordkorea eine ganz andere Welt gewesen ist. Vielleicht wie in den 1950er-Jahren es vielleicht in der Sowjetunion gewesen sein muss. Ich war der Meinung, ich kenn' den Sozialismus aus eigenem Erleben, das wird schon nicht so anders sein. War es aber letztlich doch. Und das war das für mich Schockierende."
    Felsenfest war Rüdiger Frank damals davon überzeugt gewesen, dass das Ende Nordkoreas nur eine Frage von wenigen Monaten sei. Zu offensichtlich lag die Wirtschaft am Boden, zu reglementiert war das Leben der Menschen dort. Warum sollte ausgerechnet ein steinzeitkommunistischer Staat wie Nordkorea den Zusammenbruch des Ostblocks überleben? Nun, 23 Jahre später, hat Rüdiger Frank ein Buch über die Volksrepublik geschrieben, in der sich weder die politischen Prämissen noch die wirtschaftlichen Probleme grundlegend geändert haben. Unzählige Male ist Frank inzwischen in das Land gereist. Dennoch ist er bei seinen Analysen und Prognosen immer wieder auf Vermutungen und Spekulationen angewiesen.
    "Deswegen habe ich für das Buch auch die Ich-Form gewählt, was für einen Wissenschaftler ja eher etwas ungewöhnlich ist, weil ich sehr deutlich machen wollte, dass in vielen Fällen, in vielen Bereichen, wo ich mich auch zu Urteilen habe hinreißen lassen, das Ganze tatsächlich auf meinen eigenen Erfahrungen, Einsichten und Ansichten beruht. Der letztendliche sachliche Beweis, den muss man leider Gottes hier und da doch schuldig bleiben. Das muss man ehrlich eingestehen und das tue ich auch."
    In Kapiteln über die koreanische Historie arbeitet Rüdiger Frank die konfuzianischen Wurzeln und die Ursachen des starken Nationalgefühls der Bevölkerung des seit 1945 geteilten Landes heraus. Die Zeit der Kolonialisierung, zuletzt durch Japan, habe die Koreaner, egal ob im Norden oder Süden, als Nation eng zusammengeschweißt. Das sei ein wesentlicher Grund dafür, dass die Verteidigung der nationalen Identität und Souveränität, notfalls unter Einsatz von Atomraketen, in der nordkoreanischen Politik Vorrang vor allen anderen Erwägungen habe. Zudem habe Kim Il-sung, der Gründer der Volksrepublik, aus Elementen des Konfuzianismus und des Kommunismus eine Weltanschauung gebastelt, die sogenannte Chuch'e-Ideologie, die sehr anpassungsfähig ist und sogar Widersprüche zulässt.
    "Weil Chuch'e als Kerngedanken die Aussage hat: Der Mensch ist der Herr aller Dinge. Deswegen kann der Mensch die Welt auch so gestalten, wie ihm das passt. Man muss, was immer man tut, anpassen an die spezifischen Bedingungen, die jetzt gerade herrschen. Und wenn die sich verändert haben, dann darf man eben auch etwas anderes tun. Das wäre für einen Betonkopf im Zentralkomitee der SED in Berlin eben nicht so möglich gewesen. Da gab's die eine Linie und die musste man auf Gedeih und Verderb durchziehen. Das funktioniert in Nordkorea anders."
    Bei allen Unterschieden greift Rüdiger Frank immer wieder auf Vergleiche des nordkoreanischen Staates mit Honeckers Cordhütchen-Sozialismus in der DDR zurück. Um die Funktionsweise alltäglicher Repressionen zu verstehen, denen ein subtiles System von Selbstdisziplinierung und vorauseilendem Gehorsam zugrunde liegt, sei eine DDR-Sozialisation durchaus hilfreich, meint Frank. Auch die teilweise vollkommen absurd anmutenden Auswüchse der Mangelwirtschaft seien mit einem DDR-Hintergrund besser nachzuvollziehen. Eine Zeit lang türmten sich in Schaufenstern und Warenhäusern Pjöngjangs Artikel, die keineswegs käuflich zu erwerben waren.
    "Jahre zuvor hatte der Große Führer Kim Il-sung bei einer seiner zahllosen Vor-Ort-Anleitungen betrübt die Bemerkung fallen lassen, wie sehr es ihn doch schmerze, wenn er in den Regalen seines schönen Landes so unschöne leere Stellen sehe. Vermutlich wollte er sagen: Produziert mehr. Doch die ihn wie immer dicht umkreisenden Kader, diensteifrig mit Notizblock und Stift in der Hand jedes Wort für die Nachwelt festhaltend, verstanden etwas ganz anderes: Der Führer wünscht keine Lücken im Regal. Typisch Bürokratie. Der Sinn der Anweisung war irrelevant, es galt vor allem, sie auszuführen. Das musste auch bei unmöglichen Wünschen möglichst wortgenau passieren. Till Eulenspiegel oder die Schildbürger hätten ihre Freude daran gehabt."
    Im Straßenbild von Pjöngjang registriert Rüdiger Frank Veränderungen, die ihm Hoffnung machen auf einschneidende Reformen in den nächsten Jahren. So bildet sich in der nordkoreanischen Hauptstadt eine neue urbane Mittelschicht heraus. Der bescheidene Wohlstand dieser Großstadtbewohner könnte Begehrlichkeiten auch bei anderen, weniger privilegierten Menschen vor allem in der Landbevölkerung wecken. Auch der Kontakt nordkoreanischer Arbeiterinnen mit Südkoreanern in den Sonderwirtschaftszonen könnte das System aushöhlen und zu Reformen zwingen. Der neue Machthaber Kim Jong-un ist trotz seiner Drohung mit einem Atomschlag und der gnadenlosen Hinrichtung seines Onkels für Rüdiger Frank durchaus ein Hoffnungsträger.
    "Er hat ja gleich nach seinem Machtantritt zunächst mal ganz klar erklärt, dass ihm die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen oberste Priorität ist. Und da hat er ja einiges getan. Er hat im Bildungssystem ein weiteres Schuljahr hinzugefügt. Unter seiner Herrschaft sind über ein Dutzend neuer Sonderwirtschaftszonen initiiert worden. Das sind interessante Schritte. Die Kontakte mit China, mit Russland, mit Japan werden intensiviert. Ich glaube, er versucht, die Möglichkeiten des bestehenden Systems auszuschöpfen. Dabei wird er zwangsläufig irgendwann an seine Grenzen stoßen. Und das ist der Zeitpunkt, wo es dann interessant wird, wo er die strategische Entscheidung treffen muss: Igeln wir uns ein oder versuchen wir, offensiv einen Weg der Reformen zu gehen? Und das kann in wenigen Jahren schon der Fall sein."
    Rüdiger Franks Buch über Nordkorea ist eine gelungene Mischung aus Reisebericht, Wirtschaftsanalyse und historischem Abriss. Der Titel "Innenansichten eines totalen Staates" ist allerdings irreführend. Insiderinformationen und ungefilterte O-Töne von Nordkoreanern sucht man vergebens. Diese zu bekommen, sei nahezu unmöglich, meint Frank. Dafür findet man in seinem gut lesbaren Buch kenntnisreiche Hintergrundinformationen und diskussionswürdige Ansichten eines unorthodoxen Kenners des Landes. Aber es ist, so gut es Rüdiger Frank auch gelungen sein mag, einen Blick in die nordkoreanische Gesellschaft zu werfen, eine Sicht von außen.
    Buchinfos:
    Rüdiger Frank: "Nordkorea. Innenansichten eines totalen Staates", Deutsche Verlags-Anstalt, 431 Seiten, Preis: 19,99 Euro, ISBN: 978-3-421-04641-3